Was wäre geschehen, wenn die Verleihung der letzten Oscars folgendermaßen abgelaufen wäre?
»Jaaaa, "Avatar" ist ja schon irgendwie nicht schlecht, aber müssen die wirklich alle blau sein? Nee, das geht nicht. "The Hurt Locker"? Da wird doch geballert, oder? Nee, wir müssen an die Kinder denken. Christoph Waltz? Der hat doch einen Nazi gespielt, oder? Ist der nicht Deutscher? Dann IST er ein Nazi! Was ist er? Österreicher? Ach, ist doch das gleiche. Nee, das geht nicht. "Precious"? Habt ihr sie noch alle? Da geht es um eine Fette! Eine FETTE! Sollen wir den Leuten da draußen wirklich sagen, dass es okay ist, sich derart gehen zu lassen? Raus damit! "Up"? Ist das nicht dieser Film, wo dieser alte Mann mit diesem sehr jungen Pfadfinder... äh, nee, das geht nicht, oder Herr Bischof?«
»Das könnte Kontroversen nach sich ziehen.«
»Genau, Kontroversen. Und die will keiner. Raus damit! So, was haben wir denn noch?«
»Hmmmm...«
»Tja. Bleibt ja nicht mehr viel. Hat Sandra Bullock nicht noch irgendwas gemacht? Och, das ist bestimmt witzig, mit der macht man nie was falsch. So, das war einfach. Jetzt Pizza!«
Klingt bescheuert, oder? Ist es auch. Es würde die ganze Veranstaltung ad absurdum führen, den Preis lächerlich machen, den Ruf der ganzen Geschichte gnadenlos in den Dreck ziehen. Bei den Oscars würde das also vermutlich nicht passieren, genauso wenig wie bei jeder anderen wenigstens einigermaßen bedeutenden Veranstaltung, in der künstlerisch wertvolle Produkte geadelt werden sollen. Außer natürlich in Deutschland: Beim Deutschen Computerspielepreis. Das ist die Veranstaltung, die bei der letzten Verleihung Wii Fit zum besten internationalen Spiel machte - in dem Jahr, in dem auch GTA 4, Fallout 3 und Metal Gear Solid 4 erschienen. Okay, es ist kein großes Geheimnis, dass Deutschland in Sachen Spielkultur und gesellschaftlicher Akzeptanz derselben weitaus mehr Ähnlichkeit mit China hat, als man zugeben mag. Aber während der Rest der Welt die Spiele, die es verdienen, völlig enthusiastisch feiert, wird hierzulande aus den üblich verdächtigen Gruppen (Jugendschützer, Politiker, kirchliche Vertreter, Diplomsozialpädagogen und vielleicht, unter Umständen, wenn man viel Glück hat auch tatsächlich jemand, der mit Spielen schon mal mehr zu tun hatte als einen entsprechenden Artikel in der Bild-Zeitung zu lesen) ein Jury-Brei gekocht, dessen Arbeit nicht die Suche nach dem tatsächlich besten Spiel, sondern nach dem möglichst besten Kompromiss ist. Gewalttätig darf's auf keinen Fall sein, denn Deutschland ist ein Staat des Friedens. Die Gefühle einzelner Menschengruppen dürfen nicht verletzt werden, weil wir uns hier alle lieb haben. Pädagogisch wertvoll muss es sein, denn was nicht pädagogisch wertvoll ist, ist pädagogisch wertlos und damit eine Gefahr für die Gesellschaft. Und aus deutschen Händen muss es stammen, denn... nun... es ist der Deutsche Computerspielepreis, oder? Was interessiert uns der Dreck von draußen? Da gibt's doch nur Gewalt.
Ja, natürlich war das überspitzt. Ja, natürlich weiß ich, dass in der Jury auch kompetente und erfahrene Leute sitzen, die nicht mit Scheuklappen an den Augen und Heugabeln in der Hand nach allem suchen, was die Jugend von innen verrotten lässt. Aber dennoch frage ich mich, wie in einer so wichtigen Kategorie wie »Bestes internationales Spiel« eine derartige Katastrophe passieren konnte, wie gerade geschehen: Nominiert waren Uncharted 2, Dragon Age: Origins und Professor Layton und die Schatulle der Pandora. Prinzipiell keine so schlechte Wahl. Okay, 2009 erschienen auch Modern Warfare 2, Forza 3 und Killzone 2, um nur ein paar weitere Spitzentitel zu nennen, aber die drei nominierten sind gute Nominierte. Und was passiert? Mitten im Entscheidungsfindungsprozess fällt plötzlich jemandem auf, dass in Uncharted 2 ja... um Gottes Willen... geschossen werden darf! Und in Dragon Age wird ja auch... haltet den Jüngsten die Ohren zu... gekämpft! Aber... aber... das geht doch nicht! Gewalt in Spielen, denkt denn keiner an die Kinder, nee, das geht nicht. Die Beschreibung der Kategorie lautet nicht umsonst »Die prämierten Spiele müssen qualitativ hochwertig sowie kulturell und pädagogisch wertvoll sein« - hat das denn vorher keiner gelesen? Die beiden sind raus, bleibt noch Professor Layton. Hm, so ein Knobelding auf diesem kleinen Kasten soll das beste internationale Spiel sein? Auch irgendwie blöd, nicht? Was haben wir denn noch so?
Und an dieser Stelle muss etwas Schlimmes passiert sein, etwas Unerklärliches. Irgendwas mit Außerirdischen, Jack Bauer, weißen Räumen und den Illuminaten. Die Jury besteht aus insgesamt 36 Personen, von denen locker die Hälfte mindestens nebenberuflich mit Computer- und Videospielen zu tun hat. Also Leuten, die wissen, welche Spiele im Jahre 2009 international so richtig abgeräumt haben. Und dennoch ist der in einer Nacht-und-Nebelaktion nachgeschobene Gewinner des (nicht mit Geld dotierten) Preises für das beste internationale Spiel... ein deutsches. Unter seinem nicht-deutschen Namen. Anno 1404, außerhalb unserer Grenzen auch bekannt als »Dawn of Discovery«. Anno 1404, das (völlig zurecht) auch schon den mit 100.000 Euro dotierten Hauptpreis »Bestes Deutsches Spiel« abkassierte - und dann nochmal »international«? Das Ganze als billigen Hütchenspielertrick zu bezeichnen wäre eine groteske Verharmlosung, denn das wahre Problem mit dieser Auszeichnung ist ein viel größeres: Es ist eine Farce. Denn es macht die Kategorie, und damit auch den ganzen Preis an sich, völlig inhalts-, belang und wertlos. Wenn es eine so abwechslungsreich besetzte Jury nicht hinbekommt, einen würdigen Sieger zu wählen, völlig die Augen vor der Realität verschließt und sich auf einen derart faulen Kompromiss einlässt, dann ist das Resultat nicht nur schrecklich lächerlich, sondern auch ein bedrückendes Armutszeugnis für den Spielestandort Deutschland. Ganz besonders wenn man im Hinterkopf behält, dass Jury-Mitglied Prof. Dr. Wolf-Dieter Ring hauptberuflich Präsident der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien und damit einer der obersten Jugendschützer des Landes ist. Dass die hiesigen Internetausdrucker dem »Phänomen« Computer- und Videospiele nach wie vor erschreckend blind und ahnungslos gegenüberstehen, ist schon traurig genug. Aber wer schon Spiele prämieren möchte, die er entweder nicht ernst nimmt oder schon aus Prinzip nicht leiden kann, muss sich fragen lassen, was zum Teufel er da eigentlich macht. Die diesjährigen Drohungen der Spieleindustrie-Vertreter, sich zukünftig von der Finanzierung des Preises zurückzuziehen, sollten wirklich besser in die Tat umgesetzt werden - der Deutsche Computerspielepreis ist in seiner jetzigen Form und unter seinem jetzigen Namen eine Schande. Armes Deutschland.
Paul Kautz
Leitender Redakteur
P.S.: Das beste Jugendspiel des Deutschen Computerspielpreises 2009 war übrigens Drakensang. Ihr wisst schon, das Spiel, in dem es nur um das liebevolle Reden, Blümchenpflücken und Backen zuckerfreier Kuchen geht.
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