Kinect - Oder: WTF?
Dies ist meine zehnte E3. Zehn Jahre. Zehn Flüge nach Los Angeles. Ich habe sogar die merkwürdigen Hotel-Tor-Touren in Santa Monica über mich ergehen lassen. Doch noch nie kam ich mir so veralbert vor wie gestern bei der so genannten "Project Natal Experience", die Microsoft mit kreativer Unterstützung des Cirque de Soleil in der Turnhalle der University of Southern California inszenierte.
Nicht nur, weil sich mir der Sinn nicht erschließt. Nicht nur, weil ich selbst aus künstlerischer Sicht irgendwann den Zugang verloren habe. Und sicherlich nicht nur, weil ich mir einen Poncho überwerfen musste, dessen Schultern irgendwann zu leuchten und blinken anfingen. Ich bin für vielerlei Schabernack zu haben - wenn er in vernünftiger Relation zum Ergebnis steht.
Aber mal ehrlich: Nur, um einen neuen Namen für ein Produkt anzukündigen und ein paar Spielausschnitte zu zeigen, die teils nur leidlich zu dem Gehampel der bemitleidenswerten Schauspieler passten, wird ein derartiges Brimborium aufgefahren?
Ich bitte dies nicht falsch zu verstehen: Das Dschungelambiente ist eine nette Idee und wurde ästhetisch gut umgesetzt. Die Musik war laut, gut und die Bässe haben eine Menge Druck ausgeübt. Aber, um es mit Robin Williams zu sagen, dessen letzter Comedy-Act als Entertainment im Flieger lief: "What the fuck?"
Was will mir Microsoft damit sagen? Welche Message soll ich als Journalist mitnehmen und im besten Fall an die Leser weitergeben? Wir können Geld besser, eindrucksvoller und lauter verbrennen als andere? Vor unserer Macht gibt sogar die kreative Kraft des Cirque de Soleil klein bei? Wir können auch Wii - nur in HD? Vor allem Letzteres ist ja ein großes Geheimnis gewesen, das im Vorfeld niemand erwartet hätte...
Ich will nicht hoffen, dass dieses kreative Desaster sinnbildlich für einen verkorksten Start der
Kinect-Experience steht. Denn dann könnte Microsofts Angriff auf die Wii-Spieler zu einer erschreckend kurzlebigen Angelegenheit werden.
Aber was ist mit Milo passiert? Was mit der kreativen Energie, von der man mir suggerierte, dass sie in Natal Kinect steckt? Rausgekommen sind HD-Varianten von Mechaniken, die Wii schon seit Jahren praktiziert und die mich bereits dort mal mehr, mal weniger nerven.
Klar habe ich mir ein Nintendogs auf Wii gewünscht und war durchaus angetan, als ich die knuddeligen Katzenviecher auf dem Bildschirm herumspringen sah. Aber dafür muss ich mir doch nicht zwei Stunden lang die Beine in den Bauch stehen, während ich mir vorkomme wie ein Komparse in einem schlechten Science-Fiction-Film oder einer Sekten-Veranstaltung.
Lasst mich Natal, Kinect oder wie auch immer spüren, lasst es mich anfassen (oder auch nicht, das ist ja der Sinn des Ganzen). Aber stellt mich nicht in einen Raum mit Hunderten anderer Schlachtlämmer, die sich bereits wie kleine Kinder freuen, wenn Darth Vader schwer atmend ein Star Wars-Spiel für Kinect suggeriert. Gebt mir den imaginären Lichtsäbel selber in die Hand, dann freue ich mich vielleicht auch und breche in Jubelarien aus - wenn Kinect tatsächlich das hält, was es mysteriös letztes Jahr auf der E3 versprach.
Ich fahre seit zehn Jahren zu dieser Messe. Und es ist bereits zum Running Gag in der Redaktion geworden, dass ich jedes Jahr mit einem "Ich werde zu alt für diesen Scheiß. Das ist das letzte Jahr" in der Heimat aus dem Flieger steige und im Jahr darauf dennoch euphorisiert in LAX lande und zum Convention Center pilgere, um mich zu akkreditieren. Warum? Ich bin ein Spielefresser. Aber wenn der Event gestern stellvertretend für die künstlerische Ausrichtung und die Zukunft der Videospiele steht, die ich bislang so sehr zu einem großen Teil meines Lebens gemacht habe, wende ich mich lieber dem Münzensammeln zu...
Mathias Oertel
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