Realgaming - oder: Tekken 5. Eine Story zwischen Manga & Beat`em Up.
Ein Gastbeitrag von Mela Kocher; Schweizerisches Institut für Kinder- und Jugendmedien
Alles fängt damit an, wie ich in einem Zürcher Gameshop am Stöbern bin. Ich suche ein Spiel, das nichts mit Arbeit zu tun hat. Das nicht auf dem Index steht, keine zu analysierenden Rollenklischees aufweist, keine Backstory und auch keine Frontstory hat, das nicht pädagogisch aufbereitet ist und sich auch nicht als Buchadaption versucht. Endlich. Bomberman für meinen Gameboy DS. Pures Spielvergnügen in Aussicht. Da ich ja nun einmal da bin, recherchiere ich ein bisschen für den nächsten Workshop, Gewalt in Kinder- und Jugendmedien, und schnappe mir noch das neue Tekken. Den Verkäufer scheints
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Mela Kocher beschäftigt sich mit narrativen und ästhetischen Strukturen von Spielen. Sie hat bereits zahlreiche Arbeiten publiziert, in denen es um Story, Cybertexte, Avatare und Online-Rollenspiele geht. Eine Literaturliste findet ihr hier. |
zu freuen. Er zerrt einen Flyer unter der Theke hervor, auf dem ganz gross Tekken5 Swiss Championship drauf steht. "Das erste Mal mit Frauenliga!" "Was, wie?" frage ich überrumpelt. "Die Männer müssen Ausscheidungen bestreiten, um teilzunehmen, aber die Frauen können sich gleich anmelden. Die ersten zwanzig kriegen automatisch einen Platz." Ich finde es etwas irritierend, dass Frauen in einer Disziplin, wo es nicht um Muskelkraft geht - ausser vielleicht um Daumen-, Finger- und Hirnmuskeln - eine Extrawurst kriegen, aber mir solls recht sein. Zurück im Büro, besuche ich die Site und überlege mir kurz, dass ich das Spiel aus Workshopgründen sowieso gamen muss und eine kleine Zusatzmotivation nicht schaden könnte. Schwupps bin ich angemeldet. Meine Kollegin grinst schadenfroh.
Noch einen Monat. Von nun an gehört eine Stunde Tekken5 zur Tagesordnung. Nehme ich mir zumindest vor. Um mich zu pushen - 30 Tage Zeit sind für eine Last-Minute-Person nicht gerade das äusserste Druckmittel - erzähle ich allen von meinem Vorhaben. Vater, Mutter und Stiefeltern sind alle mässig interessiert, die Chefinnen gottenfroh, dass sie nicht müssen, die Schwester solidarisch aufgeregt, die FreundInnen amüsiert, der Freund schon in Coach- und Fanbereitschaft. Die Kollegen ermunternd, ahnungslos, dass sie einen Monat Tekken5-Quälerei erwartet. Zu Hause taste ich mich vorsichtig an das Game heran und spiele ein bisschen mit diesem und jenem Charakter. Schliesslich muss ich rasch einen auswählen, denn in der Meisterschaft darf nur mit einer Figur gespielt werden. Nach einer Stunde ist der Fall klar. Ich habe mich in Christie Monteiro, die forsche Capoeirista, verliebt. In einem Christie-faq lese ich über meine Wahl:
WHY CHRISTIE?
If you've taken up the call of Tekken's Capoeira mistress, you probably
picked her because a) you like unorthodox characters or b) you like to
show off. Christie is first and foremost a crowd pleaser -- a lot of her
moves have style and grace and simply look cool. (redbaron18)
Völlig richtig. Christie ist wahnsinnig stylish, und man kann mit ihr wunderbar draufloshacken, beim richtigen Rhythmus hat der Gegner keine Chancen. Der faq-Mensch versteht meine Motivation und meine Gaming-Attitude. Von nun an wird redbaron18 mein Mentor, wir mailen wöchentlich hin und her, und es entwickelt sich eine Art japanische Meister-Schüler-Beziehung. Er offenbart mir seine neusten Entdeckungen und Moves, die ich zu Hause und im Büro brav nachspiele und drille. Mit Schrecken stelle ich fest, dass Christie Monteiro ca. 145 Special-Moves drauf hat. Üben üben üben. Nachts träume ich: df+LK+RK! b+RK, RK, LK+RK! Und immer wieder die Schere, ihren Super-Move, den alle Gegner hassen, LK~RK, b. Schweissüberströmt wache ich auf und beschliesse, mich auf die wichtigesten 15 Moves zu beschränken. Um 10-Hit-Combos zu lernen, fehlen mir schlicht Zeit und Geduld.
Noch 15 Tage.
Meine Bürokollegen besteche ich mit Pizza, damit sie abends noch eine Stunde länger bleiben und mit mir üben. Sie werden immer frustrierter und ich immer zuversichtlicher, dass ich mich nicht total zum Affen machen werde. Als es 52:9 für Christie und mich wird, muss noch eine Portion Tiramisù draufgeworfen werden, damit die Leute mir die Stange halten.
Ich kriege Hornhaut an den Fingern, mein Bildschirmschoner ziert die zuckersüss lächelnde Brasilianerin, dito mein Chat-Icon, ich kommuniziere in der entsprechenden Pose in Christies (zugegebenermassen bescheidenem) Vokabular - das immerhin eine abendliche Verabschiedung ("Good Night!"), eine arbeitsplanerische Strategie ("Go easy on me!") und eine empathische Annäherung ("Did you hurt yourself?") erlaubt. Meine Motivation durch Identifikation erreicht ungeahnte, etwas beängstigende Höhen.
Gute Beat-em-ups machen einfach Spass. In Tekken5 ist man sowohl als blutige Anfängerin mit Botton-smashing als auch als Halbprofi mit Charakterkenntnis gut bedient. Ich könnte das Spiel prima spielen, ohne irgendwelche Geschichten über die Figuren zu kennen. Was im Fall Tekken5 aber schade wäre, denn in den letzten zehn Jahren hat sich um die Tekken-Serie eine wilde Story gerankt. Sie setzt sich zusammen aus Intros zu den Games, Manga und Animé im Storymodus und findet ihre fantasievollen Nacherzählungen und Spekulationen im Netz - ein echter Storygenerator. Hier sind alle wichtigen narrativen Operatoren (Celia Pearce) am wirken: InGame-Geschichte, Kommentare, Nach- und Weitererzählungen, Charakterbaukasten, Scores und andere Kontextinfos.