Kein guter Start
Manchmal spiele ich Spiele, bei denen ich schon weit im Voraus weiß, was ich zu sagen haben werde. Oft hoffe ich, dass es dann doch anders kommt – aber meistens verraten Trailer schon so viel über bald anstehende Releases, dass es schier unmöglich ist, unvoreingenommen in ein Videospiel einzutauchen. Bei Pokémon Karmesin & Purpur habe ich das extra gemieden, um ohne Vorwissen in die neunte Generation der Taschenmonster starten zu können. Womit ich nicht gerechnet hatte: mit Game Freak, ironischerweise. Denn die Dreistigkeit der Pokémon-Producer mit Karmesin & Purpur ist kaum mehr zu überbieten…
Krokel greift nach der Terakristallisierung mit Glut an.
Mir wurden Ausschnitte der Trailer in meine Twitter-Timeline gespült, auf WhatsApp hagelte es Memes, die Clips sorgten für Schlagzeilen. Es war unumgänglich, Karmesin & Purpur nicht wenigstens bruchstückhaft wahrzunehmen. Mehr als Bruchstücke wahrzunehmen war wiederum auch nicht möglich, denn die Spiele kamen bereits in den Trailern so unfertig daher, dass wild spekuliert wurde, ob das nur die Beta-Versionen waren, die der Öffentlichkeit vorab präsentiert werden sollten. Das Videomaterial offenbarte eine dermaßen schwache Grafik und Performance, dass ich mich mehrfach fragte, ob sich Game Freak so etwas nach Pokémon-Legenden: Arceus ernsthaft noch einmal erlauben würde. Aber da ging vermutlich die Naivität mit mir durch, oder die Gutgläubigkeit, oder die Liebe zu diesem Franchise, oder einfach alles zusammen.
Die Trailer zeigten unter anderem Texturen, verwaschener als der Wasserfarbenkasten eines Zweitklässlers; Bäume und Blumen, geschmückt mit gefalteten Pappblüten und Zahnstocher-Ästen; NPCs und umherlaufende Pokémon, quasi bis zur Unkenntlichkeit heruntergerendert, damit das Spiel wenigstens halbwegs flüssig läuft. Zusammengefasst: eine Unverschämtheit in Form eines Videospiels, präsentiert vom Unternehmen mit dem kommerziell erfolgreichsten Franchise der Welt.
Grafik in einem Pokémon-Spiel im Jahr 2022. Deal with it!
Dabei sind Pokémon Karmesin und Purpur auf dem Papier die Wunschkinder der Community: Mainline-Editionen im Open-World-Gewand, ein nichtlinearer Handlungsstrang, etliche Quality-of-Life-Verbesserungen. Und es ist möglich, mit Freunden nicht mehr nur zu kämpfen und Pokémon zu tauschen, sondern mit ihnen gemeinsam die Welt zu erkunden. Wenn da kein Ash-Ketchum-Feeling aufkommt! Aber das bietet Karmesin und Purpur größtenteils nur auf dem Papier. In der Realität führe ich eine ausgeprägte Hassliebe zur neunten Taschenmonster-Generation, und das nicht nur aufgrund der grottigen Performance und Grafik.
Ein Schritt vor, zwei Schritte zurück
So manche klingt angesichts der Technik wie beißende Satire.
Die offene Spielwelt in Karmesin & Purpur hatte Game Freak schon in Pokémon-Legenden: Arceus erprobt, und das größtenteils erfolgreich. Nicht mehr nur von Alabastia nach Vertania City schlappen, sondern die große Welt auf eigene Faust erkunden – so hässlich sie auch sein mag. Der entscheidende Vorteil lag im Spielablauf, denn die Pokémon trotteten neuerdings über Stock und Stein und versteckten sich nicht mehr nur hinter ein paar Grasbüscheln. Nie war es so leicht, vor allem aber so spaßig, gegen Pokémon zu kämpfen, sie zu fangen und so den Pokédex zu füllen. Karmesin & Purpur haben diesen Gameplay-Ansatz übernommen, aber nicht vollständig: Im Gegensatz zu Arceus ist es nicht möglich, Pokémon durch das bloße Werfen eines Pokéballs zu fangen. Stattdessen schleudert der Spieler das erste Pokémon aus dem Team und startet damit einen Kampf. Ein Rückschritt, den ich so nicht erwartet habe, der mich aber mehr stört, als ich mir zunächst eingestehen wollte. Denn ich sehe keinen nachvollziehbaren Grund, warum Game Freak dieses zeitsparende Feature gestrichen hat. Sich an Pokémon anzuschleichen und ihnen klammheimlich einen Hyperball in den Nacken zu schmettern – das hätte ich nie mehr hergeben wollen!
Trotzdem kommt eine gewisse Just-one-more-Mentalität auf: Was kriecht denn da hinten? Schnell mal nachschauen! Oh, da klettert etwas in die Baumkrone? Will ich haben! Das lässt mich ein Stück weit darüber hinwegsehen, dass das Pokéball-Feature verschwunden ist. Auch deshalb, weil nicht zwingend ein Kampf gegen Pokémon gestartet werden muss, um sie zu besiegen (fürs Fangen hingegen schon). Per Schultertaste schickt man das Pokémon an erster Stelle im Team los, um es automatisch gegen wilde Pokémon antreten zu lassen – ob es gewinnt, hängt von Typvorteilen und Levelunterschieden ab. Dadurch lassen sich während des Erkundens nach und nach Erfahrungspunkte für das ganze Team sammeln. Stichwort Erfahrungspunkte: Ja, der unsichtbare EP-Teiler ist von Anfang an eingeschaltet und nein, er ist – erneut – nicht ausschaltbar.