Perspektivwechsel
Mehr Aufsehen erregten zwei Fälle, wo der Spielende selbst zum Täter wird: Das Flughafen-Massaker in
Call of Duty: Modern Warfare 2, wo man als Undercover-Agent an einem Anschlag einer russischen Terrororganisation teilnahm, und die Folterszene in
GTA 5. Vor allem letztere empfanden viele Spieler als sehr unangenehm - und in der Tat waren Trevors brutale Handlungen wohl auch deshalb so schwer zu ertragen, weil sie realistisch in Szene gesetzt wurden und langsam sowie detalliert in mehreren kurzen, filmischen Happen präsentiert wurden.
Platinum Games' MadWorld ist in Schwarz-Weiß gehalten - nur die Blutfontänen sind sattrot.
Dass eine Nintendo-Konsole nicht gleichbedeutend sein muss mit familienfreundlicher Unterhaltung bewiesen zwei besonders brutale Wii-Titel: Platinum Games’ Klopper MadWorld verlieh seinen zahllosen Hinrichtungskills durch Schwarz-Weiß-Look und übertriebene Blutfontänen zwar einen abstrakten, aus künstlerischer Hinsicht durchaus attraktiven Anstrich, war im Kern aber dennoch eine extreme Spielerfahrung. Rockstars Manhunt 2 (das außerdem für PS2, PSP und später PC erschien) war nicht nur in der Sache, also der brutalen Tötung aus dem Hinterhalt mit allerlei Waffen, sehr extrem, sondern stieß auf hohe Hürden: Die amerikanischen und britischen Behörden vorgelegte Fassung hätte in den USA das den Verkauf
erschwerende „Adults only“-Rating und in Großbrittannien gar keine Kennzeichnung erhalten. Erst eine durch Blutfilter sowie diverse inhaltliche Veränderungen entschärfte Version erhielt dann im zweiten Anlauf das US-Siegel „Mature“; in England ging der Fall sogar durch mehrere Instanzen, bevor der Titel mit einjähriger Verspätung doch noch in Großbritannien erscheinen konnte.
Brutale Indies?
Stetig wachsende Entwicklungskosten und die Fokussierung auf immer weniger, dafür große AAA-Produktionen sorgten im letzten Jahrzehnt dafür, dass ohne Kontext präsentierte, sinnfreie Gewalt-Eskapaden weniger wurden. Kaum ein namhafter Publisher ist noch bereit, große finanzielle Risiken einzugehen, wenn dann im schlimmsten Fall nur mäßige Verkaufszahlen und schlechte PR herausspringen. Die florierende Indie-Szene möchte das Gewaltvakuum scheinbar nicht füllen - viele der kreativen Geister sind an Retro-Pixeln und ruhigen Erzählabenteuern, an VR-Experimenten und lange unterversorgten Genres wie Adventure, Sidescroll-Klopper oder Shoot’em-Up interessiert.
Hotline Miami 2: Wrong Number - eines der derbsten (und auch schwersten) Indiegames der letzten Jahre.
Aber natürlich gab es auch in den letzten Jahren im Indiebereich Titel, die neue Wege fanden, virtuelle Gewalt spektakulär zu inszenieren - und die vor 15 oder 20 Jahren sofort eine Indizierung oder gar Beschlagnahmung nach sich gezogen hätten. Das an dieser Stelle zu weit führende Thema der deutschen Sonderregelungen, gekürzten Versionen und USK-Siegel, der BPjM-Listen und Werbungsverbote führe ich übrigens in einem gesonderten Artikel in naher Zukunft mal aus. Ich bin mir aber sicher, dass einige besonders derbe Titel, die heute im Pixelgewand daherkommen, zu 16-Bit-Zeiten massiv schockiert hätten: Im (spielerisch lausigen) Sidescroll-Klopper
Mother Russia Bleeds war es möglich, Feinden den Schädel zu zerdrücken oder am Boden liegende Gegner in blutigen Matsch zu verwandeln. In
Door Kickers: Action Squad sprengte und schoss man Feinde plus gefesselte Geiseln zu Pixel-Bröckchen, in
My Friend Pedro wurden menschliche Feinde stylisch in Zeitlupe mit der Doppel-Uzi durchsiebt, während der Held lässig auf einem Skateboard fährt oder Saltos vollführt.
Auch die beiden
Hotline Miami-Episoden boten mit ihrem dreckigen Look, der schnoddrigen Attitüde und dem massiven Einsatz von Blut und zermatschten Körpern vieles auf, was man durchaus als zu krass empfinden kann.
Im Gegensatz zum nach Aufmerksamkeit heischenden, plump provozierenden Twinstick-Shooter Hatred, der 2015 erschien und wie ein Stein versank, stimmte hier aber der Mix aus Präsentation, Spielprinzip und Gewalt. Von der 2016er Wiederbelebung der berüchtigen Carmageddon-Marke kann man das nicht behaupten: Carmageddon: Max Damage war spielerisch flach, technisch übel und steuerte sich auch noch schlecht. Wie sehr eine intensive, direkte und nahe Gewaltausübung in VR zu Immersion und Panik beitragen können, bewies wiederum The Walking Dead: Saints & Sinners. Ach ja, das grafisch sehr überschaubare, aber natürlich erneut derbe Postal 4: No Regerts ist seit letztem Oktober im Early Access - ob daraus 2020 allerdings noch ein Eintrag in der langen Listen der Gewaltspiel-Aufreger wird, darf bezweifelt werden.