Story vs. Spiel - 1:1
Strukturen und Probleme interaktiven Storytellings
Ein Gastbeitrag von Martin Ganteföhr, House of Tales Entertainment
Brauchen Videospiele Stories?
Können Videospiele überhaupt Stories haben - und trotzdem Spiele bleiben?
Über diese fundamentalen Fragen wird seit Jahren gestritten. Narrativität ist das zentrale Element der Weiterentwicklung unseres interaktiven Mediums - der Schlüssel zur kulturellen Relevanz, der Türöffner für Feuilleton-Redaktionsflure! Sagen die einen.
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Martin Ganteföhr ist Autor und Spieldesigner. Derzeit arbeitet er am Adventure Overclocked , das sich dem Thema Gewalt widmen wird. |
Quatsch, sagen die anderen: Videospiele sind erstmal Spiele - und Spiele sind, mathematisch betrachtet, ein System aus Kombinationsmöglichkeiten, Zuständen und Regeln, mit dem Ziel des Gewinnens. Das Korsett einer Story zerstört die Freiheit des Spielers, und mit ihr den Wesensgehalt des Begriffs Spiel!
Tja. Wer hat hier recht?
Das, liebe Freunde, muß auch weiterhin in anstrengenden Kneipendiskussionen erörtert werden. Für diesen Aufsatz reicht ein etwas simpleres Statement. Videospiele, oder bitte sehr: was man landläufig unter ihnen versteht - haben Stories. Inzwischen fast sämtlich. Man muß sich damit abfinden. Und versuchen, zu verstehen, wie sie funktionieren.
Es stimmt natürlich: einen Roman kann man nicht gewinnen. Bekanntlich besiegt man auch keinen Film. Narrativität und Spiel scheinen in einem beinahe natürlichen antagonistischen Verhältnis zu stehen: Spiel impliziert Gewinnen und Verlieren. Narrative Erlebnisse dagegen lassen sich schlecht auf Skalen abbilden. Dem Erleben eines Konflikts zwischen zwei Charakteren (z.B. einem Streit zwischen mir und meiner Freundin) kommt man mit Gesundheitsbalken nicht recht bei. Ein dramatisches Erlebnis ist ein eigener, überaus komplexer Wert, der mit Gewinn und Verlust im Sinne eines Punktekontos nichts zu tun hat.
Wer eine Story im Spiel haben will, handelt sich also einen Haufen Probleme ein. Denn Narrativität braucht ein lineares, im weitesten Sinne kausales Rückgrat. Dieses Rahmenwerk beschränkt notwendigerweise die Freiheit des Spielers. Verkürzt könnte man sagen: Je mehr narrative Struktur, desto weniger Spiel - und umgekehrt.
Die offensichtliche Schnittstelle zwischen Story und Spiel ist das Gameplay. Ein Spiel braucht Gameplay, um ein Spiel zu sein. Story braucht es, um dem Gameplay Sinn zu stiften; um den inzwischen möglichen Fernseh-Realismus der Bilder mit Bedeutung, Relevanz und Ausdruck zu füllen. Und nicht zuletzt, um Alleinstellungsmerkmale zu schaffen, die sich nicht ohne weiteres von Ingenieuren nachbauen lassen.
Aber wie soll das alles zusammengehen?
Spielbare Strukturen
Daß heutige Videospiele komplexer sind als der simple Antagonismus Story vs. Spiel es andeutet, liegt auf der Hand. Spiele beinahe aller Genres, vom Adventure bis zum Shooter, versuchen beides zu vereinen, oder zumindest in einen stetigen Rhythmus der Abwechslung zu bringen, der die beiden gegensätzlichen Prinzipien miteinander verträglich macht.
Grundgedanke und Ziel allen interaktiven Storytellings ist es, die Story selbst "spielbar" zu machen; sie so in das Gameplay zu integrieren, dass sie ihm nicht nur nicht im Wege steht oder parallel dazu stattfindet, sondern es ergänzt, fördert, sich notwendig daraus ergibt. Das ist zumindest die Idealvorstellung.
Um narrative Inhalte aber überhaupt interaktiv gestalten zu können, ist es unerläßlich, sie als Strukturen zu betrachten. Ob die Strukturen von einer KI befüllt werden, oder von einem menschlichen Autor, kann dabei außen vor bleiben. Das Anlegen der Strukturen wird in jedem Fall von fundamentalen strukturellen Notwendigkeiten bestimmt. Und diese Strukturen zu schaffen, ist Aufgabe jedes Autors (oder KI-Programmierers), der im Bereich narrativer Spieles arbeitet.
Aristoteles (und andere)
Wer mit der Materie zu tun hat, sieht sich früher oder später zurückgeworfen auf die ganz grundlegenden Einsichten der Dramentheorie. Aristoteles. Drei-Akt-Drama. Alt, aber gültig. Man braucht's, und deswegen hat Aristoteles bis heute mehr Street Credibility, als mancher denkt.
Ausgehend von Aristoteles Dramenbegriff haben sich aber gerade im letzten Jahrhundert Theorien entwickelt, die mehr zum strukturellen Verständnis von Stories beigetragen haben als alles davor und vieles danach. Vladimir Propp untersuchte russische Volksmärchen und fand dabei grundlegende erzählerische Funktionen. Claude Levi-Strauss analysierte Indianermythen und arbeitete deren Aufbau heraus. Die Arbeiten der beiden gelten als wegweisend für die Analyse von Literatur und Film und als Grundlage der modernen Erzählgrammatik.