Denn wie kann es in einem Videospiel überhaupt freie Entscheidungen geben? Immerhin bestimmen Level-Designer, Skript-Autoren und Programmierer vorab genau, welche Aktionen überhaupt möglich sind. Darum gibt es auch bei Stanleys Abenteuer so gut wie immer eine passende Reaktion des Erzählers auf das, was wir frei zu entscheiden glauben. Und: Mit jeder weiteren Abzweigung, mit jeder Abweichung von den Anweisungen des Erzählers tun sich neue Erzählstränge auf, lassen sich weitere Geheimnisse entdecken, erwarten uns aberwitzigste Wendungen, bei denen sich alsbald selbst die hartgesottensten Gehirnwindungen unweigerlich verknoten.
In der Ultra-Deluxe-Version greift das Entwickler-Team sogar tatsächliche Sequence Breaks des PC-Originals auf und fügt sie als legitime Enden ins Spiel ein. Das wurde übrigens von der ursprünglichen Source-Engine auf die Unity-Engine übertragen. Doch damit sind die Neuerungen noch längst nicht erschöpft: Kaum haben wir eines der möglichen Enden erspielt, beginnt das Spiel wieder von vorn. Nach mehreren Enden bemerken wir plötzlich eine geöffnete Tür, die bislang verschlossen war. Ein Schild verrät, dass sich dahinter neue Inhalte befinden...
Ultra Deluxe: viele originelle Neuerungen
Sinnbildlich für das gesamte Spiel ist dieser Raum: Der Erzähler schickt Stanley nach links, doch was erwartet ihn rechts?
Bis zu diesem Augenblick ist The Stanley Parable bereits eine schlaue Reflexion über Entscheidungsfreiheit in Videospielen. Der Ultra-Deluxe-Part legt ab hier mächtig nach. Das Update führt neue Schauplätze und Spielfeatures ein. Doch es dabei bewenden zu lassen, was in so ziemlich jedem anderen Spiel Standard ist, wäre für The Stanley Parable: Ultra Deluxe ein Armutszeugnis. Stattdessen dreht das Spiel jetzt erst so richtig auf und eskaliert in ungeahnte Dimensionen der Absurdität. Leider würde der Kommentar-Bereich vor Spoiler-Rufern überquellen, würden wir irgendeine der neuen Ideen genauer beschreiben. Wir möchten Euch die Freude am Entdecken und Experimentieren natürlich nicht kaputtmachen. Darum nur so viel: Stanley findet einen Gegenstand, den er fortan mit sich führen kann, wenn Ihr das möchtet. Dann ändern sich nicht nur sämtliche Dialoge des Spiels, sondern auch alle bisherigen möglichen Enden.
Zusätzlich erspielen wir in den folgenden Stunden weitere komplett neue mögliche Ausgänge zu Stanleys Geschichte. In den neuen Gebieten reflektiert der Titel permanent sich selbst und seine Eigenschaft als neun Jahre altes, gefeiertes Videospiel. Autor Davey Wreden feuert aus allen Rohren mit ebenso originellen wie verrückt-klugen Ideen, die man einfach erlebt haben muss, um zu glauben, was da auf dem Bildschirm passiert. Es lohnt sich!
Mehr Sein als Schein
Mit etwas Geschick entdeckt Stanley ein Museum, in dem die verschiedenen Spielelemente ausgestellt und ihre Entstehung erläutert wird.
Doch treten wir einen Schritt zurück und betrachten The Stanley Parable: Ultra Deluxe etwas konservativer: Formal gesehen haben wir es mit einem Walking-Simulator zu tun, in dem es weder Gegner noch Waffen gibt. Eigentlich gibt es fast nichts, was man aus anderen Videospielen kennt. Das Spiel lebt davon, dass wir unser Bestes geben, genau das zu tun, was wir vermeintlich nicht sollen. Dass wir uns bemühen, aus vorgegebenen Pfaden auszubrechen, um ein ums andere Mal zu staunen, dass selbst das von den Machern vorhergesehen und mit einer überraschenden Reaktion des Spiels vorbereitet wurde. Dabei sieht das Ganze gar nicht mal spektakulär aus, eher zweckmäßig.
Kann man ja mal probieren: Die Adventure Line weist Stanley einen Weg durch den Bürokomplex. Angeblich.
Für den Test haben wir die Versionen für PlayStation 5, PlayStation 4 und Xbox Series S gespielt. Deren großer Bruder, die Xbox Series X, stand zum Testzeitpunkt leider ebenso wenig zur Verfügung wie eine Version für die Switch. Während die PS5-Version astrein läuft, fielen auf Xbox Series S ganz selten Mikroruckler auf, die aber zu vernachlässigen sind und zu keiner Abwertung führten. Da die Fassung für Xbox Series X in dieser Hinsicht sicher nicht schwächer ausfällt, vergeben wir die Wertung auch für diese Version. Auf der PS4 treten die Mikroruckler leider deutlich häufiger auf, das kostet ein paar Prozentpunkte. Generell als etwas irritierend erweist sich die Voreinstellung des Sichtfeldes von 72 Grad. Bei Drehungen wirkt die Umgebung nämlich verzerrt, weil sich einzelne Bildelemente unterschiedlich schnell bewegen; bei 60 Grad war alles in Ordnung.
Um The Stanley Parable: Ultra Deluxe angemessen genießen zu können, sind ordentliche Englischkenntnisse unverzichtbar, denn auf eine deutsche Übersetzung des Erzählers wurde verzichtet. Zwar gibt es die Möglichkeit, Untertitel in sechs Sprachen zu aktivieren, das beeinträchtig jedoch Timing und Überraschungseffekte der humorvollen Kommentare. Verständlich ist diese Entscheidung allemal: Einerseits ist Sprecher Kevan Brighting wirklich gut zu verstehen. Er spricht deutlich und ohne nennenswerten Dialekt, dafür aber in einer unglaublich charismatischen und fesselnden Stimmlage. Andererseits dürften Vertonungen in andere Sprachen angesichts der schieren Masse an Text kaum bezahlbar sein für ein doch recht kleines Projekt.