Archäologin auf Spurensuche
Ich hatte an der Uni mal ein Seminar zur Runologie. Da haben wir die alten Schriftzeichen der Germanen, das so genannte "Futhark", studiert. Ich erinnere mich noch, dass ich stolz wie Thor war, als ich endlich eine Zeile des Runensteins von Rök lesen konnte. Das fühlte sich faszinierend an, eine über 1000 Jahre alte Botschaft zu entziffern. Denn nach dem Rätseln wurde die Freude über die Lösung von einer Erkenntnis und einem Staunen begleitet: plötzlich sprach da eine vergangene Kultur, plötzlich hallte da ein Echo aus einer längst vergessenen Zeit nach! Von diesen schönen Momenten, diesem "Sense of Wonder", gibt es in
Heaven's Vault jede Menge. Also lasst euch von dem leidlich animierten Graphic-Novel-Charakter nicht abschrecken!
In der Rolle der Archäologin Aliya erkundet man zusammen mit dem Roboter Six eine ebenso futuristische wie orientalisch anmutende Welt. In einem zunächst weitgehend unkartierten Nebel liegen Monde verborgen, die über Luftströmungen verbunden sind. Eigentlich ist Aliya im Auftrag
Aliyah und der Roboter Six erkunden gemeinsam die orientalisch anmutende Science-Fiction-Welt.
ihrer Professorin an Bord ihres Segelraumschiffes Nightingale unterwegs, um einen vermissten Kollegen der Universität zu finden. Aber aus der Suche nach dem Robotiker Janniqi Renba wird bald eine mysteriöse, stellenweise unheimliche Odyssee zu den Wurzeln ihrer eigenen Vergangenheit, inklusive persönlicher sowie philosophischer Fragen. Und dabei wird sie mit ihrem Tatendrang, aber auch ihren Kommentaren dem energischen Blick gerecht - das ist eine starke, überaus schlagfertige Lady. Und sie gibt euch genug Spielraum für eigene charakterliche Ausprägungen, denn in den Dialogen habt ihr die Wahl, wie ihr mit euren Mitmenschen umgehen wollt.
Es entwickelt sich zudem eine interessante Beziehung zwischen Aliya und dem Roboter, der viel mehr ist als nur ein hilfreicher wissenschaftlicher Mitarbeiter, der z.B. das Alter von Materialien oder den Sauerstoffgehalt der Luft bestimmen kann. Denn es geht letztlich auch um das Wesen der Menschheit, um Unsterblichkeit und Wiedergeburt - also um zeitlose Fragen. Nicht ohne Grund zitieren die Entwickler im Intro das Gilgamesch-Epos, eine der ältesten schriftlich überlieferten Dichtungen aus der Zeit der Sumerer. Auch diese mussten Geisteswissenschaftler fragmentarisch entschlüsseln und auch in dieser war der Held Gilgamesch zusammen mit seinem mysteriösen Diener Enkidu unterwegs, der ja ebenfalls Menschlichkeit und Göttlichkeit in sich vereinte. Es ist schön, dass ein Spiel diese Bezüge zu einem der größten literarischen Schätze unserer Zivilisation herstellt und gleichzeitig die Themen der künstlichen Intelligenz sowie Schöpfungsmythen dabei streift. Und zwar nicht in einer ideologischen Einbahnstraße, sondern angenehm vielseitig. So hat man als Spieler auch auf intellektueller Ebene das Gefühl, ein akademischer Reisender und kein religiös Getriebener zu sein.
Rätselhafte Schriftzeichen
Ein großer Teil dieses Abenteuers besteht darin, eine uralte Sprache zu erlernen und in die eigene historische Frühzeit
Das Entziffern einer uralten Sprache wird edel inszeniert.
vorzdringen, indem man beschriftete Artefakte, Statuen oder Monumente untersucht. Auf ihnen befinden sich Bildzeichen, die an Hieroglyphen oder eine geschwungene Variante der sumerischen Keilschrift erinnern. Zunächst kennt man nur wenige Symbole, kann lediglich einzelne Worte wie "Gott" oder "Wind" entziffern, muss dabei auch mal raten, aber schon bald kommen Pronomen, Binde- und Zahlworte, Adjektive etc. hinzu, während sich das Archiv mit zig Sätzen füllt. Und die muss man sich immer wieder anschauen, um sie irgendwann komplett zu übersetzen.
Aber keine Bange: Dahinter verbirgt sich kein trockener Grammatiktest und auch kein linguistischer Knobelapparat im Stile der Spiele von Zach Barth, wie etwa
Opus Magnum. Natürlich muss man kombinieren und nachdenken, aber das Ganze fühlt sich eher an wie ein Puzzle, wenn man ähnliche Symbole mit dem Suchbegriff vergleicht oder passende Teile einsetzt - auch das Bildhafte gibt ja Anhaltspunkte auf Worte. Fehler und Missdeutungen gehören wie beim Erlernen einer Sprache dazu, man gewinnt neue Einsichten, so dass ein harmonisches Gefühl des langsamen Übersetzens entsteht. Zumal sich die inkle Studios bei der Visualisierung an dem Magiesystem aus
Sorcery! orientieren, so dass dem Ganzen trotz der Beschränkung auf Zeichen etwas Edles und Zauberhaftes anhaftet.
Stück für Stück gewinnt Ariya weitere Erkenntnisse.
Ariyah wird also begleitet vom Roboter Six, der ihr zwar mit Rat und Tat zur Seite steht, aber auch ihrer Professorin dient - was zu einigen Konflikten führt, zumal auch Menschen und Roboter fremdeln. Manchmal muss Six bei Händlern draußen bleiben, andere schlachten alte Roboter einfach aus. Er versucht zwar alles mathematisch und logisch zu kommentieren, denn er folgt in seinem Kern einem Moralkodex à la Isaac Asimov, der es Robotern unmöglich machen soll, Menschen zu verletzen. Aber er scheint manchmal seltsame, fast unheimliche Aussetzer zu haben, während er an anderer Stelle durchaus Gefühle zeigt: Er sagt z.B., wenn er sich irgendwo unbehaglich fühlt, sich um Ariya Sorgen macht oder was er von menschlichen Sklaven hält - hier entstehen verblüffende Dialoge zwischen Mensch und Roboter. Will er tatsächlich weg von diesem Ort? Soll ich auf ihn hören oder ihn ignorieren? Wie nahezu alles in diesem Abenteuer hat auch Six einige Überraschungen zu bieten. Auf jeden Fall gehört er mit zu den interessantesten Nichtspieler-Charakteren der letzten Jahre, auch weil er vielschichtiger ist als es scheint.