Zurück nach Mittelerde
Mehr als zwölf Millionen Mal hat sich
Hogwarts Legacy in nur zwei Wochen verkauft – ein unglaublicher Erfolg für die Harry-Potter-Marke, deren erster Film 2001 in die Kinos kam. Damals gab es nur einen anderen Leinwand-Blockbuster – ebenfalls eine Romanverfilmung – die dem Zauberlehrling in puncto Außenwirkung und Kinobesucherzahl das Wasser reichen konnte. Der Herr der Ringe: Die Gefährten. Der Aufgalopp zu Peter Jacksons heute legendärer LOTR-Trilogie war für den Nukleus der modernen Fantasy-Literatur endlich der multimediale Durchbruch, den man der Buchvorlage schon so lange zugetraut hatte. Und vor Der Herr der Ringe gab es natürlich noch Der Hobbit – hier wurde die Geschichte von Bilbo Beutlin erzählt, dem auf seiner Abenteuerreise der Eine Ring quasi vor die Füße fiel. Verloren hatte ihn eine Kreatur namens Gollum. Dieses ambivalente Wesen, dessen einst liebenswertes Gemüt des Hobbits Smeagol immer wieder aufblitzt, war nicht nur aufgrund der starken Darstellung von Andy Serkis – den wir Spieler auch aus
Heavenly Sword und
Enslaved kennen – ein immens spannender Charakter. Spannend genug für ein eigenes Videospiel, dachte sich das Hamburger Studio Daedalic, das vielen vor allem wegen der irrwitzigen
Deponia-Adventures ein Begriff ist.
So sieht Daedalics (Anti-) Held aus – bisschen anders als in den Filmen, aber ganz gut getroffen.
Das ambitionierte Action-Abenteuer – Daedalic ist bisher kaum als Entwickler aufwändiger 3D-Produktionen in Erscheinung getreten – wurde bereits im März 2019 angekündigt, machte zuletzt bei einer Online-Präsentation im Mai 2022 aber keine gute Figur. Ich durfte mir damals ein paar vorgespielte Abschnitte anschauen, entschied mich aufgrund der überschaubaren Qualität aber dafür, keine Vorschau darüber zu schreiben. Und war dann auch nicht überrascht, als das Team im Juli die Release-Reißleine zog, um dem Titel noch ein paar Monate mehr an Entwicklungszeit angedeihen zu lassen. Unsere Gollum-Sorgen reichen sogar noch weiter zurück: Schon im April 2021 hatte mein Kollege Jan eine frühe Gollum-Version vom Mai 2020 gezockt, und bereits
unsaubere Animationen und Kulissen auf Indie-Spiel-Niveau beklagt. Doch nun konnten wir Anfang März 2023 endlich selbst Hand an das Spiel legen und zwei Levels ausprobieren – eine knappe Stunde verbrachte ich mit dem liebenswerten Scheusal. Zuerst stand eine Schleich- und Platforming-Tour im Elbenreich auf dem Plan, danach ging es nach Mordor für mehr Story-Fokus, Atmosphäre und Rätselmomente.
The Lord of the Rings: Gollum orientiert sich natürlich am Kanon von Tolkiens Büchern, grätscht aber mittenrein zwischen die Ereignisse aus Der Hobbit und den Herr-der-Ringe-Romanen: Gollum hat den Einen Ring also bereits an Bilbo Beutlin verloren. Weil man aus früheren Vorschau-Artikeln zum Spiel aber weiß, dass die Erzählung Rückblenden nutzt, könnten wir auch noch Zeuge jener Zeit werden, als der Halbling Smeagol zum ersten Mal Bekanntschaft mit dem verhängnisvollen Schmuckstück machte…
Die liebe Technik
Schleichspaß im Lande Mordor, wo die Schatten drohn? Am 25. Mai finden wir es endlich heraus.
Noch bevor ich mit Gollum buchstäblich die Wände hochgehe oder Vogeleier ausbrüte – dazu gleich mehr – sticht mir natürlich die Grafik ins Auge. Und die ist leider nicht besonders gut. Das deutliche Tearing schiebe ich mal auf die noch fehlende Feinpolitur, generell wirken Look, Animationen, Modelle & Co. aber überraschend unschick. Die Haare der Elben wollen nicht locker fallen, ihre üppig begrünten Felsentempel enttäuschen mit platten Texturen, auch die Gesichter und Mundbewegungen sind weit von der Qualität aktueller Blockbuster entfernt. Auf den ersten und zweiten Blick – im düsteren Mordor gefallen mir die Kulissen schon besser – wirkt das Gollum-Spiel wie ein früher PS4- oder Xbox-One-Titel und nicht wie ein PS5- oder Series-X-Game. Das klingt hart und dürfte den ein oder anderen Herr-der-Ringe-Fan natürlich verprellen – es nützt euch aber herzlich wenig, wenn ich euch jetzt Edeltechnik plus AAA-Zuckerguss verspreche und das finale Produkt dann nicht so lecker aussieht. Ich schätze Daedalic für deren Fähigkeit, pfiffige Spielwelten zu erschaffen und tolle Dialoge zu schreiben – einen großen grafischen Sprung bei Gollum traue ich dem Team in der verbleibenden Zeit aber nicht zu.
Kletter-Künstler Gollum: Der drahtige Held kraxelt horizontal wie vertikal und kann sich beliebig lange festhalten.
Zum Glück ist Spielegrafik aber bei Weitem nicht alles, als gelungener empfand ich das sogenannte "World Building". Den Hamburgern scheint bei der Hauptfigur der Spagat zwischen sympathischem Sonderling und fiesem Egoist zu gelingen: Gollum (respektive Smeagol) hat natürlich vor allem das eigene Wohl im Blick und lügt den Elben opportunistisch in ihr stolzes Antlitz, gleichzeitig spürt man bei ihm die Unsicherheit und den Wunsch, gemocht zu werden. Seine innere Zerrissenheit findet mehrfach auch spielmechanisch Ausdruck: In manchen Szenen kann man als gemeiner Gollum oder als ängstlicher Smeagol antworten, an anderer Stelle gibt es vor einer wichtigen Entscheidung sogar eine innere Argumente-Schlacht zwischen den beiden Persönlichkeiten der Hauptfigur. Gut gelöst finde ich bei den Elben den Wechsel zwischen unserer Sprache und Hochelbisch – es ist okay, wenn ich als Gollum manchen Dialog zwischen NPCs nicht verstehe, zeitgleich kommt reichlich Herr-der-Ringe-Atmosphäre auf. Gefallen hat mir auch das düstere Design der Karten-Räume und Kerker in Mordor, wo Gollum mal mit, mal ohne Ork-Bewachung herumstreunen darf. Gollums Dialog mit dem "Candle Man", einem grimmigen Inquisitor, sorgt für heimelige Düster-Stimmung und wirft Fragen auf – nachdem Gollum eine kleine Aufgabe erfüllt hat, soll er zum Spion für den Schuft werden. Mal schauen, was da spielerisch und story-technisch im finalen Spiel auf uns zukommt…
Prince of Elbia
Links sehen wir Gandalf. Hättet ihr den alten Zauberzausel erkannt?
Von einem stolzen Thronfolger mit Säbel und Boyband-Blick ist Gollum weit entfernt – trotzdem haben mich die spielerischen Aspekte mehrfach an den
Prince of Persia, speziell an die 2008er Episode mit Elika im Gepäck, erinnert. Denn mitunter klettert, rennt und hangelt Gollum flink durch den Elbenwald. Der Wicht hat zwar nicht viel Ausdauer, baut aber kurzzeitig mächtig Tempo auf. Dann laufe ich senkrecht Wände hoch – aber nur da, wo es die Entwickler erlauben – oder mache sogar einen horizontalen Wallrun, um zur nächsten Efeu-Stelle zu kommen, wo ich mich wieder festhalten kann. An den Ranken oder weiß abgesetzten Felskanten kann Gollum beliebig lange hängen – mit der Kletter-Ausdauer haushalten wie Link muss er also nicht. Ich hechte auf Knopfdruck schneller die Efeuleiter hoch, nutze Stangen zum Schwungsprung, stoße mich mit einem anderen Button von der Wand ab oder lasse mich eine Ebene tiefer fallen. Zusammen mit einer Weitsprung-Option ergibt sich ein im besten Fall gefälliger Gollum-Parkour. An mancher Stelle jedoch funktioniert das Springen, das Abstoßen oder das Greifen noch nicht reibungslos oder die Kamera bleibt auf der Strecke – hier könnte ein wenig Feinpolitur in den nächsten Wochen aber noch helfen.
Das Elben-Areal meiner Anspiel-Session bot ein ansprechendes Leveldesign, das aber schon sehr offensichtlich auf Gollums Fähigkeit-Repertoir zugeschnitten ist – und vor allem beim Platforming-Teil war es mir einen Tick zu linear. Mehr Freiheit boten die Schleichpassagen: Die Elben-Wachposten sind zwar kurzsichtig, aber prinzipiell aufmerksam – eine kleine Anzeige weist mich darauf hin, wenn Gollum in ihr Blickfeld kommt. Erwischen mich die Feinde, lande ich sofort beim Game-Over-Bildschirm – frontal kämpfen kann der Bursche nämlich nicht. Ob er vielleicht fiese Orkse von hinten niederringen kann? Im fertigen Spiel werden wir es erfahren. Doch zurück zum Schleich-Abschnitt: Ich konnte mit Gollum von einer Grasdeckung zur anderen huschen, mich auf Knopfdruck noch flacher machen oder in den glasklaren Wassertümpeln der Elben auf Tauchstation gehen und so die Wachen umschwimmen. Gollum taucht in Ego-Sicht, holt dann z. B. unter einer Brücke kurz Luft und klettert hinter der nächsten Wache wieder aus dem Pool. Das fühlt sich 2023 genau null innovativ an, spielt sich aber ordentlich und funktioniert gut. Auch an dieser Stelle fühlte ich mich spielmechanisch an manchen Titel der PS360-Ära erinnert. Ob das im fertigen Spiel letztlich dröge und altmodisch oder vielleicht sogar irgendwie erfrischend wirkt, das vermag ich noch nicht final einzuschätzen.
Wer lange in einer feuchten Höhle gelebt hat, ist natürlich ein guter Schwimmer. Auf diesem Wege kann Gollum elbische Wachposten vermeiden.
Richtig überraschend fand ich Gollums zarte Anflüge von Zuneigung als es um das Ausbrüten eines Vogeleis ging, zu dem mich der herrische Inquisitor in Mordor verdonnerte: Zum einen waren die im Level verteilten Tipps, wie die schräge Ausbrüt-Maschine zu bedienen ist, nett in die Umgebung "eingearbeitet" – das Lösen dieser kleinen Denkaufgabe bereitete mir Vergnügen. Zum anderen kam diese übergroße Portion an flauschiger Niedlichkeit unweit der Folterkammern des Dunklen Herrschers völlig unerwartet. Und spätestens jetzt hatte mich Daedalic doch an der Angel: Ich will wissen, was es damit auf sich hat, welche seltsamen Figuren, Kreaturen und Apparaturen sich die Hamburger für diese groß(artig)e Fantasy-Welt noch ausgedacht haben. Und ich bin natürlich gespannt, wie Gollum sich als Charakter weiterentwickelt: Vermutlich werde ich ihn nicht zum Sonnenlicht liebenden Helden umpolen können, aber vielleicht reicht es mir ja, wenn ich verhindern kann, dass der schüchterne Smeagol doch nicht endgültig unter Hass, Missgunst und Gier begraben wird.