Clive Barker im Blutrausch
Aber hat dieses hautnahe Actionerlebnis überhaupt noch was mit der alten Tradition zu tun? Ist das noch Survival-Horror? Ja. Trotz all der Projektilaction geht es in erster Linie immer um den klassischen Cocktail aus Überleben und Erkunden, aus Action und Rätseln. Und das Stöbern in den Ecken lohnt sich: Ihr könnt in ruhigen Passagen Scheiben einschlagen,
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Ihr müsst Ashleys Kidnapper mit gezielten Schüssen erledigen. Stirbt einer, kommt der nächste angeschlurft. |
Schubladen öffnen und Kisten zertrümmern, um Schätze zu finden. Manchmal funkeln diese Kleinode an unzugänglichen Stellen, in Vogelnestern oder auf Türmen. Außerdem könnt ihr jede Menge Rätsel lösen. Die bestechen zwar nicht mit Kopfnüssen, aber dafür mit Vielfalt: Ihr müsst Farben verbinden, Symbole erkennen, Laser ausrichten, Gegenstände verknüpfen, Puzzleteile verschieben sowie im Team Hebel- und Druckplatten betätigen oder gegen die Zeit Artefakte sammeln. Alles nichts Anspruchsvolles, aber immer eine willkommene Abwechslung.
Resident Evil 4 ist aufgrund seines Tempos zwar nicht mehr so unheimlich wie Teil 1, wo es mehr subtilen Horror gab. Aber es gibt immer noch das klassische Grauen mit trügerisch langer Stille und plötzlichen Schockmomenten - vor allem zu Beginn und am Ende im Labor. Trotzdem werden Kenner der Reihe, vor allem des einflussreichen ersten Teils, feststellen, dass diese Momente spärlicher auftauchen. Auch deshalb, weil einem nicht mehr dieses beklemmende Gefühl der Hilflosigkeit im Nacken sitzt. Man wird entsetzt und schockiert, aber man hat meist die Gewissheit, überall genug Munition zu finden, um sich freizuschießen. Es gibt bis auf die erste Spielstunde selten Phasen, in denen man seine Waffen nicht ausreichend füttern kann.
Und das ist vielleicht der größte Kritikpunkt, den man Capcom vorhalten könnte: Das Überleben wird einem zu selten in Sachen Nachschub schwer gemacht. Das war ein Markenzeichen des alten Resident Evil, das neue geht komplett andere Wege. In den Vorgängern musste man aufgrund der knappen Munition öfter mal fliehen. Ist dieser Überschuss ein Beinbruch für den Spannungsbogen? Nein, höchstens eine Prellung. Eine, die schnell vergessen ist. Nicht nur, weil sie Frust vorbeugt. Denn erstens muss man auch jetzt fliehen: Zwar nicht aufgrund fehlender Feuerkraft, aber aufgrund übergroßer und verflixt schneller Monster, die euch wie einen Hasen durch die Gänge hetzen, während ihr Sicherheitstüren öffnen müsst - die Zeit und den Tod im Nacken. Zweitens spielt sich Resident Evil 4 trotz der vollen Magazine wie ein virtualisierter Clive Barker-Roman: Es reiht Extremsituation an Extremsituation, lässt euch den Atem anhalten und fordert. Trotz der Projektilfülle bleibt der Motivationsfaden straff, denn das Spiel verlangt Nonstop-Reaktionen von euch und bietet viele knifflige Szenen, in denen ihr in null Komma nichts den Löffel abgeben könnt.
Frustfreier Nervenkitzel XXL
Kann man unbegrenzt Waffen mitnehmen? Ja. Aber nur, wenn ihr den Kofferplatz für teures Geld erweitert, damit ihr Granaten, Munition, Heilkräuter sowie Waffen und ihre zahlreichen Aufsätze hineinpacken könnt: Stabilisierungsgriffe, Zielfernrohre, Wärmebildsichtgerät. Diese Begrenzung sorgt dafür, dass man nicht das ganze Arsenal von der Uzi bis zum Minenwerfer mitnehmen kann. Aber dafür tragt ihr den Koffer immer bei euch - Capcom hat komplett auf die nervigen Truhen verzichtet. Auch die Farbbänder wurden endlich ad acta gelegt: Ihr könnt zwar nur an bestimmten Stellen speichern, aber die kommen regelmäßig vor heiklen Szenen, nach einem Kapitel. Und da ihr eine unbegrenzte Zahl an Continues habt, die sogar während eines Bosskampfs Speicherpunkte setzen, kommt nie langer Wiederholungsfrust auf. Resident Evil 4 spielt sich wesentlich angenehmer als die Vorgänger.
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Wolverine in böse: Dieser Kerl ist zwar blind, aber ebenso schnell wie tödlich. Und er hat verdammt gute Ohren. |
Aber nicht nur Frust sucht man vergeblich, auch die Langeweile hat sich erfreulich dünn gemacht - spielerisch und optisch: Das Grauen begegnet euch im Wald, auf Gebirgspässen, in Minen, in Sümpfen, in Dörfern, in Tunneln, in Schluchten, auf Zinnen, in Laboren, in Hallen, in Kerkern. Die Anzahl der Locations ist genau so unglaublich wie die herrlich interaktive und zoombare Karte, die nebeneinander gelegt ein kilometerlanges Netz an Gängen webt. Ihr fahrt auf Booten, in Lastwagen, mit Gondeln und schweren Räumfahrzeugen. Eure Zielpunkte werden immer angezeigt, so dass es kein orientierungsloses Umherirren gibt.
Im Duett mit Präsidententochter Ashley gibt`s noch kooperativen Nervenkitzel: Stirbt sie, ist Game over. Sehr oft müsst ihr ihren Weg zu wichtigen Schaltern mit dem Scharfschützengewehr freischießen, während ihr selbst umzingelt werdet. Hier entwickelt man ähnliche Beschützerinstinkte wie in ICO. Zumal ihr den Teenager indirekt über die Befehle "Folgen" und "Warten" steuern dürft. Ihr könnt sie zudem auffangen, wenn sie Abgründe hinunter springt, und ihr eine Räuberleiter für Kletterpartien anbieten. An einer Stelle schlüpft ihr sogar direkt in ihre Haut: Ohne Waffe müsst ihr hier schnell unter Tische kriechen und Kurbeln bedienen, während euch die Kuttenträger jagen - Hochspannung im Minirock. Habt ihr die Kontrolle mit Leon, geht sie sogar zitternd in die Knie, damit ihr über sie hinwegschießen könnt. Sie ist euch nie im Weg und gibt euch sogar mal einen Tipp, wenn z.B. ein El Gigante in einer Schlucht auf euch zumarschiert.