Cyperpunk im Herzen?
"THIS STORY IS DEDICATED TO ALL THOSE CYBERPUNKS WHO FIGHT AGAINST INJUSTICE AND CORRUPTION EVERY DAY OF THEIR LIVES."
Mit dieser fast schon politischen Widmung leitet Hideo Kojima 1988 ein Adventure für MSX2 und PC-8801 ein, das leider zu Unrecht im Schatten von
Metal Gear Solid vergessen wird - allerdings wurde es auch erst 1994 für Sega CD ins Englische übersetzt und verkaufte sich in Amerika sowie Europa seinerzeit schlecht. Trotzdem lohnt sich der Rückblick auf dieses digitale Kleinod, das für einige sogar zu den besten Adventures aller Zeiten gehört: Zum einen ist es eine der ersten Spielen überhaupt, das nach dem 1984 erschienenen Roman Neuromancer von William Gibson eine spezielle Science-Fiction-Atmosphäre erzeugten, die wir heutzutage Cyberpunk nennen. In einer düsteren Zukunft ging es vor allem um Machtmissbrauch großer Konzerne, um Überwachung, Ausbeutung, aber auch um Computer, Robotik, Mischwesen, Dekadenz, Cyberwelten, Hacker und rebellischen Widerstand.
Die Menschheit wird ersetzt
Snatcher spielte in der künstlich geschaffenen Inselstadt Neo Kobe City.
Auch spielhistorisch ist Snatcher kein Fremdkörper in der Biografie Kojimas, sondern ein früher Mosaikstein. Denn nicht wenige der oben erwähnten Motive des Cyberpunk findet man später sowohl in
Metal Gear Solid als auch bald in
Death Stranding. Dieses Adventure fällt also nicht als exotisches Projekt seiner "Jugendzeit" auf (er war gerade zwei Jahre bei Konami angestellt), sondern gehört zum roten Faden seiner speziellen Philosophie, in der Spiele immer mehr sind als nur Unterhaltung - Kojima hatte schon immer eine Botschaft darüber hinaus.
Übersetzt bedeutet Snatcher ja so viel wie "Dieb" oder "Entführer" - und so nennt man im Neo Kobe City des Jahres 2047 die humanoiden Roboter, die jeden Winter Menschen töten und diese quasi als Klone ersetzen. Angst geht um, denn keiner weiß, ob man es vielleicht beim Kollegen am Arbeitsplatz mit einem Doppelgänger zu tun hat!
Also muss ein detektivischer Held her, der sich der Sache annimmt. Man schlüpft in die Rolle von Gillian Seed, der zur gerade gegründeten Spezialeinheit JUNKER (Japanese Undercover Neuro-Kinetic Elimination Rangers) gehört und bei nahezu jedem Kontakt herausfinden muss, ob Leute menschlich sind oder nicht. Vieles wie z.B. der Neonlook der Stadt, das Figurendesign von Gillian im Trenchcoat oder inhaltliche Motive erinnerten natürlich sofort an den Kultfilm Blade Runner, der 1982 in den Kinos lief; auch der 1988 für Furore sorgende Anime Akira ließ grüßen. Außerdem erkennt man den inspirierten Filmfan in Kojima durch deutliche Anspielungen an Terminator mit seinen fast gleich designten Robotern - so dass ihr Aussehen aufgrund befürchteter
Blade Runner und Metal Gear ließen grüßen...
juristischer Probleme in den USA sogar geändert werden musste. Genauso wie die sichtbaren Brüste einiger Frauen für die Sega-CD-Version wieder im Kleid verschwanden.
Kommandos, Dialoge und Schießereien
Kojima zitierte sehr viel Film- und Science-Fiction-Popkultur, aber er kreierte auch einiges selbst und es entstand ein ganz spezielles Ermittlungsflair mit einer wirklich klasse Story für Erwachsene. Es gab sowohl Unheimliches als auch Dekadentes, sowohl einen technologischen Sense of Wonder als auch menschlich Abgründiges bis hin zum Fetisch und politische Bezüge zum Kalten Krieg.
Damals hinterließ Snatcher übrigens derart Eindruck bei Goichi Suda (
Killer 7,
No More Heroes), dass dieser für das japanische Radio ein Hörbuch-Prequel in Episoden namens "Sdatcher" produzierte. Als Grundlage für die Krise innerhalb des Spiels diente eine Zeitlinie, die zu einer globale Katastrophe bis ins Jahr 1996 zurückführte, in dem etwas mit einer biologischen Waffe aus der Sowjetunion so schief lief, dass man fast die komplette Weltbevölkerung auslöschte. 50 Jahre nach dieser globalen Katastrophe beginnt dann die Geschichte auf der künstlich geschaffenen Inselstadt. Und zwar mit einem Helden, der unter Gedächtnisstörungen leidet, so dass man die Neugier des Spielers natürlich komplett einbinden konnte. Heute ist Amnesie eher die gewöhnliche Regel, damals war das noch kreativ.
Man agierte mit Gillian aus der Egosicht nicht direkt in Szenen, auch nicht über Point&Click, sondern indirekt über
Auch vor expliziter Gewalt schreckte Kojima nicht zurück.
Kommandos, die man unter den jeweiligen Kulissen anwählen konnte - so ließen sich über Begriffe wie "CAMERA" oder "DOOR" genau diese Aspekte eines Raumes näher untersuchen, was zu weiteren Texten führte, bis man über "MOVE" zum nächsten Ort wechselte. Schon damals war Hideo Kojima die Story wichtig, nur gab es noch keine seiner berühmt-berüchtigten Filmszenen, sondern dafür sehr ausführliche und gut geschriebene Dialoge mit etwa einem Dutzend Nebencharakteren, darunter auch Gillians Frau. Die Übersetzung dieses Epos dauerte drei Monate! All das sorgte dafür, dass man sich - aus heutiger Sicht - wie in einer "Visual Novel" fühlte und dass Charaktere und Spielwelt immer greifbarer wurden. Gerade dieser heute so etablierte Fokus auf Storytelling war in den 80er Jahren, als Arcade-Action quasi Trumpf war, alles andere als normal. Snatcher wirkte wie ein epischer Roman inmitten von kleinen Kurzgeschichten.
Metal Gear lässt grüßen
Dass man so gut abtauchen konnte, lag auch an charmanten Details der Weltkonzeption, mit ihrer halb offenen Struktur. Man musste nicht streng von A nach B, konnte sogar in Sackgassen geraten. Kleinigkeiten sorgten für Filmflair und Neugier: In Gesprächen wurden die Gesichter vergrößert dargestellt, es gab coole Kameraperspektiven und einige technische Gadgets. Gillian wurde von einem kleinen Roboter namens "Metal Gear" (das gleichnamige Spiel erschien ja ein Jahr früher, 1987, und Kojima zitierte auch daraus einiges) begleitet, über den man per Bildtelefon mit anderen Leuten reden konnte. Neben einigen unheimlichen gab es auch sehr brutale und bizarre Situationen, in denen die Designer weder vor expliziter Gewalt noch bloßen Brüsten oder Werwölfen zurückschreckten. Zwar war Snatcher kein knackiges Rätselspiel, aber es
Der Shooter-Teil war weniger unterhaltsam, aber sorgte zwischendurch für Spannung...
gab zumindest kleinere Kombinationsaufgaben und tatsächlich plötzliche Action: So manche Situation konnte in einen eher schwachen Shooterteil übergehen, in dem man alle Feinde in bestimmter Zeit mit seinem Fadenkreuz anvisieren und im Moorhuhnstil abschießen musste - auf Sega CD übrigens mit der Justifier-Lightgun spielbar!
Dass Kojima und Konami anno dazumal noch ein gutes Verhältnis hatten, zeigt sich daran, dass man in Neo Kobe City auch Werbung mit dem Logo des Publishers finden konnte. Damals war das nach Metal Gear erst sein zweites Projekt und noch kannte niemand im Westen diesen Hideo Kojima, der erst mit Metal Gear Solid im Jahr 1998 seinen ersten Welterfolg feiern sollte. Übrigens hat er sich aus Zeitgründen nicht um einen Nachfolger zu Snatcher kümmern können, den er aber nach eigenen Angaben auch von einem anderen Team begrüßen würde - zumindest sagte er das 2014 im Interview mit
Endadget: "If someone wants to adapt those games ... I would definitely support that person, I would help out that person, but I don't think there are too many people like that."
Tja, das war allerdings 2014 und schon ein Jahr später kamen die Differenzen ans Tageslicht. Das Problem für kreative
Das waren noch harmonische Zeiten für Konami und Kojima.
Entwickler da draußen ist natürlich die unrühmliche Scheidung zwischen Kojima und Konami: Die Rechte an Snatcher liegen bei einem Publisher, der aktuell kein besonderes Interesse am Revival seiner alten Marken zeigt und der Kojima am liebsten aus allen Credits streichen würde. Da Snatcher lediglich 1994 für Sega-CD in Europa auf Englisch (1995 auch in den USA) veröffentlicht wurde und 1996 auf PlayStation und Sega Saturn nur auf Japanisch, gehört es zu den Raritäten für westliche Spieler.
Es gab in Japan noch 1990 eine Art Rollenspiel-Remake namens SD Snatcher für MSX2, das von Fans übersetzt wurde, sowie das oben erwähnte Radio-Hörbuch Sdatcher; die Musik dazu stammte übrigens vom Silent-Hill-Komponisten Akira Yamaoka. Es ist erstaunlich, wie lange sich manche japanischen Entwickler dieser Pionierphase innerhalb der Branche halten konnten - und Hideo Kojima gehört auch angesichts dieser klar erkennbaren Handschrift von 1988 bis 2019 vollkommen zurecht zu den wenigen großen Meistern des Spieldesigns. Es wäre trotzdem unheimlich schön, wenn dieses markante Spiel noch einmal neu aufgelegt werden würde.