Im freien Fall
Zuschauen kann so schön sein - vor dem Fernseher, im Kino, im Stadion. Auch bei einem Spiel lehnt man sich gerne genüsslich zurück, wenn dramatische Zwischensequenzen einen Hauch von Hollywood
ins Wohnzimmer wehen. Vor allem, wenn es wie in einem Agenten-Thriller knistert: Verrat und Intrigen, Amis gegen Russen, Kubakrise, atomare Bedrohung. Im Jahr 1964 liegt der dritte Weltkrieg quasi in der Luft und liefert die brisanten politischen Funken für ein episches Abenteuer alter heroischer Schule: Einer gegen alle.
Eure Aufgabe? Als junger Elitekämpfer der US Army sollt ihr nichts Geringeres als die globale Katastrophe verhindern. Dafür lässt man euch mit 200 km/h über dicht bewaldetem russischem Gebiet abspringen. Der Prolog ist eine Delikatesse, die Schnitte sitzen perfekt: Während Snake ins Bodenlose fällt, wird das erzählerische Fundament gegossen. Ihr müsst den Wissenschaftler Sokolov entführen, dessen fast komplettierter Nuklearpanzer Hunderttausenden den sicheren Tod bringen könnte.
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The Boss: Die Frau kennt keine Gnade und zeigt Snake, wie man kleine Helden entwaffnet. |
Zum Zuschauen verdammt?
Aber so schön das Zuschauen auch ist: Konami gönnt sich den Luxus von zwei Stunden interaktivem Vorspann, um Story und Kampf in Gang zu bringen - mit einigen Längen, die den Geduldsfaden strapazieren. Auch danach verbringt man fast die Hälfte der etwa 15-stündigen Spielzeit als Zuhörer und Betrachter. Was man sieht, ist brillant - das Flair des Kalten Krieges spürbar: Vom Waffendesign über Filmanspielungen und technische Errungenschaften bis hin zu Chruschtschow-Johnson-Telefonaten weben die Japaner einen überaus glaubwürdigen Stimmungsteppich. Dazu trägt auch der grandiose Soundtrack bei, der von Harry Gregson-Williams (Shrek 2) komponiert wurde: Seine Melodien mit der betörend kräftigen Frauenstimme sorgen für glamouröses Bond-Flair. Auch inhaltlich hat Konami versucht, seinen Einzelkämpfer in die Sphäre des britischen Top-Agenten zu bringen - aufreizende Babes im lasziv geöffneten Hosenanzug inklusive. Der Auftritt von Eva wirkt im dreckigen Dschungelcamp allerdings wie die Landung eines unwirklichen Boob-Aliens. Und Snake ist sichtlich überfordert...
Keine Frage: Davon profitiert die Atmosphäre. Es knistert wie im Kino. Man kann fast die Popcorn-Tüten rascheln hören. Die Actionszenen sind erstklassig, die Regie meisterhaft. Und die skurrilen, superheldenhaft wirkenden Protagonisten lassen die vermeintlich nüchterne Zeitreise oft zu einem überzeichneten SciFi-Comic mutieren - spektakulär, blutig, rasant. Sex und Gewalt wurden in der Reihe noch nie so akzentuiert dargestellt. Kenner werden zudem so manche Seitenhiebe auf spätere Ereignisse und Charaktere finden: Ocelot steht z.B. noch am peinlichen Beginn seiner Revolver-Karriere und entwickelt sich während des Spiels zum heißblütigen Antagonisten.
Die im englischen O-Ton belassenen Dialoge wirken zwar manchmal etwas gestelzt, und man kann sich fragen, ob Snake für sein junges Alter nicht etwas zu rauchig à la Eastwood selbst nichtige Kleinigkeiten betont. Aber das sind nur kleine Untertöne: Insgesamt bestechen die Gespräche mit ihrer gesunden Mischung aus Slapstick und Ernsthaftigkeit. Die deutschen Untertitel wurden sehr gut übersetzt. Und selbst kleines Codec-Geschwätz offenbart schnell, wie viele Details Konami recherchiert hat, um die 60er zum Leben zu erwecken. Alles dreht sich um ein Thema: Treue. Wem schuldet man sie? Seinem Land, seinen Freunden, seinem Gewissen? Im Zentrum steht Snakes Verhältnis zu seiner mysteriösen Ausbilderin "The Boss": Der Schüler versteht seine Lehrerein nicht, wirkt an einigen Stellen wie ein hilfloses Kind. Dabei geht es durchaus philosophisch zu, denn der Spieler wird gezielt in die Konflikte hineingezogen, zum Nachdenken animiert.