"Notgames"
"Was ist ein interaktives Kunstwerk, das auf Wettbewerb, Ziele, Belohnungen, Siege oder Niederlagen verzichtet?"
Diese Frage stellt das belgische Künstler-Duo, das unter dem Namen Tale of Tales an interaktiver Kunst arbeitet. Die studierte Bildhauerin und der Grafikdesigner sind mit Videospielen aufgewachsen, haben an herkömmlichen Abenteuern aber kein Interesse. Sie suchen Erlebnisse abseits der Herausforderung an Fingerfertigkeit und Rätselraten. Auriea Harvey und Michael Samyn sind prominente Vertreter einer Generation, die das interaktive Medium nicht als Erweiterung von Film und Würfelglück versteht.
Sie haben sich allerdings auch stur verhalten – jenen Spielern gegenüber, die aufgrund von deren Besonderheiten keinen Zugang zu ihren Werken fanden. Das schreiben sie selbst in der
Kickstarter-Beschreibung zu Sunset, die mit mehr als 67.000 Dollar einen Teil der Entwicklung finanzierte. Doch warum sollte sich ein Spiel des belgischen Studios eigentlich nicht anfühlen wie ein Shooter? Immerhin liegen die entscheidenden Qualitäten weder in der Egoperspektive noch in der Steuerung.
Ein klassisches modernes Drama
Und so beobachtet man die Welt der frühen siebziger Jahre aus den Augen von Angela Burnes. Mit Gamepad oder W, A, S, D und Maus bewegt man sie durch das zweistöckige Penthouse-Appartement des Kunstliebhabers Gabriel Ortega. Dort hängen lange, gerade Jalousien senkrecht vor großen Fenstern, ineinander verdrehte Glassplitter lassen die Wand verspielt glitzern. Die im Boden versenkte Badewanne zeugt vom Luxus des
Das reich verzierte Apartment eines wohlhabenden Kunstliebhabers ist der einzige Schauplatz.
Gästebads, während schwungvoll gebogene Liegestühle zum Entspannen auf der Veranda einladen. Musik dringt aus klobigen Silberdecks: Radio und Schallplattenspieler sind in edles Holz eingelassen.
Der wohlhabende Ortega hat Burnes als Hausmädchen angestellt – Angela, die als studierte schwarze US-Bürgerin in das fiktive südamerikanische
Anchuria kam, wo weder Klassenunterschiede noch Rassenkämpfe eine Rolle spielen. Deren Abschluss aber von dem Regime nicht anerkannt wird, das sich während ihres Aufenthalts an die Macht geputscht hat. Jetzt darf sie das Land nicht verlassen, also arbeitet sie jeden Tag die Aufgaben ihres Arbeitgebers ab. Sie putzt Fenster, räumt auf, bereitet das Essen vor und sortiert seine Unterlagen.
Eine Stunde bleibt ihr dafür, oder 30 Spielminuten. Und in dieser halben Stunde hat man freie Hand: Man kann die Aufgaben erledigen oder sie ignorieren. Man kann am Klavier üben – mit der Zeit spielt Angela tatsächlich besser. Man kann, muss aber nie, sich in einen Sessel fallen lassen, wo das Hausmädchen Tagebuch führt. Man kann die Statuen, Gemälde und Bücher betrachten, die Ortega im Überfluss hortet. Ein Jahr lang begleitet man Angela so bei ihrer täglichen Arbeit. Nicht jeder Tag ist ein spielbarer; wer Sunset in Ruhe erlebt, kann aber knapp zehn Stunden lang damit beschäftigt sein.