Special: Half-Life 2 und die literarische Utopie (Action)

von Jörg Luibl



Half-Life 2 und die literarische Utopie
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Publisher: 4Players
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Lost in Translation?
Half-Life 2 und die literarische Utopie


Ein Gastbeitrag von Dennis Ray Vollmer

Intro

Half-Life 2 (Valve, 2004) spielt in dem Szenario eines "idealen" totalitären Überwachungsstaats, in dem Menschen von Außerirdischen körperlich wie geistig versklavt sind. Seine Hauptfigur Gordon Freeman wird vom mysteriösen G-Man beauftragt, den rebellierenden Untergrund zu vereinen und gegen die Unterdrücker anzuführen. Apokalyptische Zukunftswelten wie diese sind genreunabhängig und recht beliebte Hintergrundgeschichten für storybasierte Computerszenarien wie u.a. "Deus Ex" (Eidos, 2000), "The Fall - Last Days of Gaia" (Silverstyle, 2004), "The Moment of Silence" (Digital Jesters, 2004). Ihre Nähe zur literarischen Utopie ist zunächst offensichtlich: Beide Formen "spielen" realitätsentlehnte, soziopolitische Modelle durch, die für den Leser/User zugleich verfremdet und vertraut erscheinen. Aus dieser Spannung zwischen Fremdheit und Vertrautheit der modellierten Welt bezieht der Zukunftsentwurf seine kritische Haltung. In Half-Life 2 etwa, schließt sich der Kritik an Totalitarismus und Überwachung auch die Frage nach der Definition des Menschen selbst an, etwa in Form der Evolutionstheorie der außerirdischen Combines sowie in den verschiedenen "Lebensformen" und "Halbwesen" zwischen Insekt, Cyborg, künstlicher Intelligenz und Zombie, denen Freeman begegnet.

Das Aufkommen von Utopien ist an sich schon bemerkenswert in Zeiten, in denen ökonomische wie gesellschaftliche Prognosen im alltagssprachlichen Sinne "utopisch", also unerfüllbar und wirklichkeitsfremd, erscheinen. Die Forschung hat die Verbindung zwischen großen sozialen wie wirtschaftlichen Krisen und dem Aufkommen utopischer Literatur immer wieder dargelegt. Erst recht wird es spannend, wenn den Zukunftsentwürfen mit computergestützter Physik, elaborierter Gestik und Mimik und sozialer Interaktion ein möglichst hoher Realismus verliehen werden soll.

Wenn in beiden Fällen, Literatur und Spiel, von "Spielen" die Rede ist, dann natürlich in provozierender Absicht, denn dies überschreitet die zum Teil verhärteten Grenzen zwischen Ludologen und Narratologen. Die im Folgenden dargelegten Parallelen zwischen literarischer Utopie und Half-Life 2 dienen somit einem Ausblick auf die brisante Frage nach dem Spiel in der Narration und der Narration im Spiel. Gehen Spiel und Erzählung zusammen oder sind sie frei nach Jesper Juul "lost in translation"?

Als Julian West auf seinem Sofa die Augen öffnet, blickt er auf einen fremden Mann in seinen Sechzigern, der sich über ihn beugt. Eine Frau und ein weiterer, ihm unbekannter Mann befinden sich
Die HL2-Geschichte in Zeitungsartikeln.
ebenfalls in dem Raum, in dem er sich soeben noch hingelegt hatte. Es ist Montag, der 30. September 2000 - Decoration Day - und Julian muss mit einiger Verwunderung feststellen, dass er exakt einhundertdreizehn Jahre, drei Monate und elf Tage geschlafen hat. Das "heutige" Boston ist eine wundersame und gleichzeitig vertraute Welt der Shopping Malls, des elektrischen Lichts, des Rundfunks und bargeldlosen Zahlungsverkehrs geworden. Ungewöhnlich ist daran nur, dass Edward Bellamy, Autor der fantastischen Erlebnisse des jungen Julian West, diese gesellschaftliche Entwicklung bereits 1887 niederschrieb. "Looking Backward: 2000-1887", so der Romantitel, ist eine amerikanische Utopie, die der realen wirtschaftlichen Krise und der beginnenden Industrialisierung Amerikas um 1900, ein ökonomisch florierendes, christlich sozialistisches Zukunftsmodell gegenüberstellt.

Wenn Gordon Freeman - Spielfigur des Action-Shooters Half-Life 2 - aus seinem Schlaf erwacht, wissen wir nicht, wie er in die Bahn gelangte, die ihn nach City 17 bringt. Soeben hatten wir ihn und den G-Man nach der Zerstörung des Black Mesa Labors in Half-Life 1 verlassen und befinden uns plötzlich inmitten eines totalitären Überwachungsstaats, in der Polizeiwillkür, Kameraobservierung, suggestive Bildschirmbotschaften und Lautsprecherdurchsagen an der Tagesordnung sind. Beide Übergänge, die Reise Gordons und der Umschlag der Welt in eine albtraumhafte Weltordnung, müssen wir allerdings erst zu rekonstruieren versuchen, so wie der Kanadier Chan Karunamuni, der die Half-Life-Saga in einer Zeitlinie zusammengefasst hat (http://fragfiles.org/~hlstory//timeline.htm).

Ob Gordon aus einem künstlichen Tiefschlaf erwacht oder "nur" aus der Bewusstlosigkeit in Folge einer Teleportation - Half-Life 2 beginnt in jedem Fall geradezu typisch für die literarische Gattung der Utopie, wie sie gemeinhin mit Thomas Morus Roman "Utopia" (1516) gattungsbegrifflich begründet wird.
                     

Kommentare

johndoe-freename-73049 schrieb am
Ich fand den Anfang eher mittelmässig und bin auch der Meinung, dass im Verlauf des Spiels wesentlich mehr drin gewesen wäre. Allerdings fand ich das Ende (als Lynch-Fan) klasse, was nicht zuletzt am ersten Musikstück im Abspann liegt und der G-Man ein \"klasse Schauspieler\" ist.
Ich bedaure meist, dass mein Interesse aufgrund schlechter Storys oder Inszenierungen abhanden kommt (Ausnahmen bilden für mich Spiele wie Max Payne 2, Deus Ex oder Thief 3, die vielleicht nicht allen Belangen überzeugen, aber dafür in Sachen Story und Inszenierung).
Ich fände es wünschenswert, wenn sich die Entwickler desöfteren an guter Literatur(oder Filmen)bedienen würden. Das Rad muss ja nicht ständig neu erfunden werden, aber mehr Kreativität und vielleicht die ein oder andere inspirative Quelle wäre doch wohl sehr von Nöten.
Was die Wortwahl betrifft hätte man sich auch einer etwas einfacheren Auswahl bedienen können, um dem ein oder anderen den Text leichter zugänglich machen zu können, denke ich. Als Selbstbeweiräucherung oder Aufgeblasenheit würde ich es aber eher nicht interpretieren.
Mich freut es, aber auch sehr hier mal etwas derartiges Lesen zu können.
Jörg Luibl schrieb am
Dream works hat geschrieben:Ich muss jedoch noch anmerken, dass ich gerade die ungewähnliche Rolle des Protagonisten an der Half-Life-Reihe sehr schätze. Ich habe gewisse Probleme mit dem Argument, dass Spiel liese keine Identifikation mit dem Spielcharakter zu und ist deswegen erzählerisch wertlos.
Es kommt eben darauf an, wie man Half-Life 2 liest, wie man es erlebt. Deine Interpretation...
Dream works hat geschrieben:Ich vertrete die Theorie, dass sich die Geschehnisse nur in dem Bewusstsein des Freemans abspielen.
...hat auch ihre Grundlage. Und sie wäre vielleicht die einleuchtendste Antwort auf die Frage, warum sich Gordons Charakter nicht entwickelt. Wenn man diese Theorie aufnimmt, frage ich mich allerdings, warum diesem inneren Theater nicht mal die Kulissen weggerissen werden? Das hätte doch noch viel mehr Dramatik gebracht!
Dream works hat geschrieben:Freeman ist also wahrscheinlich kein "realer" Charakter, der eine soziale Rolle innerhalb eines existenten Gesellschaftsgefüges einnimmt.
Okay, wenn man also mit HL2 nur eine innere Utopie, einen Vorgang innerhalb des eigenen Bewusstseins spielt - hätte dieses dann nicht deutlicher zum Vorschein kommen müssen? Ist das Spiel dafür nicht zu steril in der Abbildung der Ereignisse? Ich denke da z.B. an seelische Verzerrungen, Flashbacks, Déjà-vus etc.
Dream works hat geschrieben:Könnte natürlich auch alles völlig anders sein. Ich finde, gerade aus diesen vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten zieht die Story von Half-Life 2 ihren Reiz.
In der Theorie ist das tatsächlich reizvoll, darüber zu spekulieren. Aber als ich im Spiel aufgehen wollte, fehlte es mir in der Mitte an erzählerischem Fleisch, an Dramaturgie. Gordon kam mir nach ein paar Stunden nicht mehr vor wie ein Doktor, sondern wie ein Duke - erzählerisch immer flacher, grafisch immer steiler. Dabei gehört der Einstieg zu den dramaturgisch besten, die ich jemals gespielt habe. Hätte HL2 dieses Niveau nur halten können...
Bis denne
Dream works schrieb am
So übertrieben intellektuell und hochtrabend finde ich diesen Artikel gar nicht. Da war der erste wesentlich schlimmer. Bei dem musste ich jeden zweiten Satz mit dem Synonymwörterbuch übersetzen.
Andererseits verlangt diese Thema und überhaupt die gesamte Rubrik \"Spielekultur\" gerade eine adäquate Sprachfom.
Allerdings finde ich auch, dass es dem Beitrag an Substanz mangelt. Auf welcher Ebene Half-Life 2 funktioniert (oder eben auch nicht funktioniert) dürfte hinlänglich zumindest jedem bekannt sein, der Spiele nicht mit ausgeschaltetem Hirn spielt.
Ich muss jedoch noch anmerken, dass ich gerade die ungewähnliche Rolle des Protagonisten an der Half-Life-Reihe sehr schätze. Ich habe gewisse Probleme mit dem Argument, dass Spiel liese keine Identifikation mit dem Spielcharakter zu und ist deswegen erzählerisch wertlos. Es gehört doch zum Spielprinzip, dass Gordon Freeman als Figur, die quasi außerhalb der Ereignisse steht und nur zu bestimmten Zwecken ins Spiel kommt, keinen Charakter entwickelt. Ich vertrete die Theorie, dass sich die Geschehnisse nur in dem Bewusstsein des Freemans abspielen. Zwar schweigt sich das Spiel darüber aus, aber offensichtlich ist es ja so, dass Gordon Freeman kein fassbarer, fester Bestandteil der Welt ist. Anders ist es, denke ich, kaum zu erklären, dass er bzw. der Spieler sich plötzlich in einem Zug wiederfindet ohne eingestiegen zu sein und am Ende nach erledigter Mission wieder in die Ruhephase versetzt wird, während sich der G-Man ausklingt. Freeman ist also wahrscheinlich kein \"realer\" Charakter, der eine soziale Rolle innerhalb eines existenten Gesellschaftsgefüges einnimmt.
Könnte natürlich auch alles völlig anders sein. Ich finde, gerade aus diesen vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten zieht die Story von Half-Life 2 ihren Reiz. Ich kann daher überhaupt nicht verstehen, wenn man ihr mangelnde Substanz vorwirft. Das Gegenteil ist doch der Fall.
haldolium schrieb am
[quote=Ragism]
Der interessantere Teil war da eher, wie schlecht Half-Life 2 im narrativen ist.
[/quote]
Jo da kann ich dir in gewissem maße zustimmen. Ich finde ebenfalls, dass valves "100%-ego" Prinzip nicht so ganz aufgeht.
Zwar ist HL2 imho noch viel intensiver als diverse genre-mitstreiter, aber mit 3rd-person cutscenes hätten die bestimmt mehr erreicht.
So wie in Gothic, wo man ebenfalls als namenloser Held beginnt und sich ersteinmal mit dem charakter auseinander setzen muss.
Jörg Luibl schrieb am
Ragism hat geschrieben: Man betrachte nur, wieviele schlechte Beiträge in jeder Ausgabe des Spiegels stehen. Trotzdem könnten wir ihn nicht mehr wegdenken. Ich hoffe, das wird bei Euch genauso! Toi, toi, toi!
Hey, der Vergleich geht jetzt runter wie Butter...;)
Bis denne
schrieb am