Ein fremdartiger Monolith
Wenn man verstehen möchte, wie und warum Myst anno 1993 derart gewirkt hat, hilft vielleicht ein Blick auf andere Spiele dieser Zeit. Ein Jahr zuvor erschienen u.a.
Alone in the Dark,
Black Crypt, Dune,
Flashback, Final Fantasy V,
The Lost Vikings,
Ultima Underworld und Wolfenstein 3D. Das mit der Grafikpracht in der dritten Dimension, vor allem der Siegeszug der Ego-Shooter, wurde gerade erst eingeläutet. In dieser Ära dominierten neben der immer vielfältigeren Action und Rollenspielen eher klassische Point&Click-Adventures im Stile eines
Indiana Jones and the Fate of Atlantis oder
Monkey Island 2: Le Chuck's Revenge.
Der Start des Spiels auf dem Amiga - sofern man ein CD-Rom-Laufwerk sein Eigen nennen durfte.
Dagegen wirkte Myst wie ein fremdartiger Monolith aus einer anderen Welt. Zum einen bewegte man keinen Helden seitwärts durch eine Kulisse, sondern erkundete lediglich Standbilder in der Ego-Sicht. Was heute sehr gewöhnlich anmutet, war damals gerade in diesem Genre etwas Neues, von dem auch das Mittendringefühl profitierte. Denn zum anderen war man umgeben von Apparaten und Konstrukten, die für ein monumentales Flair sorgten. Aufgrund der Einsamkeit und Rätselhaftigkeit auf der Insel wurde die Immersion noch verstärkt. Hier fühlte man sich wirklich wie ein Entdecker.
Ein Urahn reduzierten Spieldesigns
Die Geschichte um das namengebende Buch Myst, das einen im Stile der Unendlichen Geschichte von Michael Ende in seine Welt hinein zog, wirkte zudem wie ein ernster Kontrapunkt im Vergleich zu den sonst eher humoristischen Adventures. Außerdem beschränkte sich das gewaltfreie Abenteuer rund um den "The Stranger" genannten Helden auf das Wesentliche, es gab keinerlei Feinde und nur sehr wenige Charaktere, dazu nur dezente Menüs und einfache Interaktionen. So wurde Myst nicht nur zum Vorläufer für reduziertes Spieldesign, sondern war aufgrund seiner simplen Steuerung natürlich auch für "neue" Spieler interessant.
Rätselhafte Apparate auf einer einsamen Insel.
In komplett statischen, aber beeindruckend gerenderten Kulissen versuchte man per Point&Click die Rätsel des jeweiligen Schauplatzes zu lösen, ohne wie sonst üblich in einem Inventar diverse Gegenstände anzusammeln oder gar zu kombinieren. Statt den Bildschirm nach Beute abzusuchen oder Dialoge zu meistern, musste man lediglich die mechanischen Probleme bewältigen, indem man Schalter, Zahnräder & Co anklickte, um teils in mehreren Phasen komplexe Apparate in Gang zu bringen. Heute könnte man die Faszination vielleicht mit den ersten haptischen Rätseln in
The Room vergleichen, vielleicht sogar mit VR - genauso frisch fühlte sich Myst damals auf den ersten Systemen mit CD-ROM-Technologie an.
Interaktiver Rätselroman
Was muss man hier lösen?
Myst hatte auch reichlich Herrenhaus-, sogar etwas Gruselflair und letztlich genug erzählerische Substanz, um sich wie ein interaktiver Roman des 19. Jahrhunderts anzufühlen - kein Wunder, dass dem Release drei Novellen folgten: The Book of Atrus (1995), The Book of Ti'ana (1996), The Book of D'ni (1997). Zudem war das visuelle Spektrum beeindruckend, zumal man ja auch durch die Zeit reiste: Man erkundete Wälder, Tempel, Türme, Keller; man war sowohl in der Landschaft als auch in fein modellierten Räumen unterwegs. All das sorgte für enorme Schauwerte und faszinierte weltweit: Lange hielt die PC-Version den Rekord für das meistverkaufte Spiel – bis es 2002 von den Sims abgelöst wurde.
Die beiden Entwickler Rand K.
und Robyn Miller hätten diesen Erfolg vermutlich nicht für möglich gehalten, als sie das Abenteuer auf ihren Macs mit der "Stratavision Software" konzipierten - selbst den Soundtrack mit 26 (!) Stücken in sechs Themen steuerten sie selbst bei. Ihr Grafiker Chuck Carter blieb der Branche übrigens viele Jahre als Künstler erhalten, war mit seinen 3D-Grafiken und Artworks u.a. am Nachfolger Riven, aber auch an diversen Command & Conquers,
Nox sowie an Marvel Ultimate Alliance 2 und 2019 noch an ZED beteiligt.
Schweres Erbe
Auch in der Steinzeit war man unterwegs.
Die fantastischen Verkaufszahlen sorgten natürlich dafür, dass sich aus der Premiere eine Serie entwickelte, zu der bis heute etwas über 25 Nachfolger, Ableger und Kollektionen gehören - wobei es offiziell nur fünf Teile gab, die 2005 ihren Abschluss fanden. Mit RealMyst im Jahr 2000 und dessen späterer „Masterpiece Edition“ gab es schon gelungene moderne Interpretation, die übrigens auch auf Switch erhältlich sind. Allerdings verblasste der Glanz und auch die Anziehungskraft mit den Jahren, bis es 2007 zum bugverseuchten Tiefpunkt auf dem DS mit einem Negativrekord kam: Myst wurde auf
Nintendos Handheld mit 1% abgestraft. Aber mittlerweile gibt es auch für knapp 30 Euro ein solides
VR-Abenteuer als Remake über die Unreal Engine.
Wer es klassischer mag, kann aber auch einen modernen Nachfolger im Geiste spielen, der 2016 sogar von den Cyan Studios höchstpersönlich entwickelt wurde:
Obduction. In diesem über Kickstarter finanzierten Spiel für PC, VR und Konsolen führen sie ihren Klassiker überzeugend fort. Dazu unser Fazit aus
dem Test: "Obduction ist aufgrund fehlender Hilfen und Hotspots vor allem für Veteranen ein empfehlenswertes Adventure, das an die Tradition von Myst anknüpft und diese nicht nur erzählerisch moderner interpretiert. Die Stärken aktueller Storytelling-Abenteuer treffen auf klassische Tugenden und moderne Technik. Man erkundet eine offene Spielwelt mit ansehnlicher Kulisse und experimentiert mit Maschinen, Konstrukten, Lasern, Schaltern & Co."