Special: Half-Life 2 und die literarische Utopie (Action)

von Jörg Luibl



Half-Life 2 und die literarische Utopie
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Publisher: 4Players
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Interview mit Dennis Ray Vollmer


4Players: Welche Big Brother-Vision gefällt Ihnen besser: die von Endemol, George Orwell oder Valve?

Dennis Ray Vollmer: Orwell. Obwohl sich "Gefallen" merkwürdig anhört, weil zumindest die letztgenannten Zukunftsentwürfe beängstigend sind. Gefallen hat mir Big Brother in der ersten Staffel - darf man hier verraten, dass ich dort war, als Zladdi ging?

4Players: Sie waren im Container?

Dennis Ray Vollmer: Nein, aber es war witzig den Rummel um Zladdi und Manu mitzuerleben. Draussen versammelte sich quasi unabgesprochen die "Fans" und feierten sich selbst mit gebastelten Plakaten, jede Menge Bier usw. und es gab ein Riesenaufruhr, als Zladdi dann das Haus verlies. Eine Woche später riegelte RTL das Gelände davor ab und kontrollierte Plakate, stellte Bierwagen auf und zog die Kommerzialisierung nochmal an. Der absolute Müßiggang war BB auf jeden Fall: man "fletzt" sich in die Couch, plaudert, jemand bringt Essen, das man sich dann aus der Kammer holt und wenn's wirklich nötig ist, kann man draußen ein bisschen Sport treiben. Das war natürlich nicht idyllisch, schon gar nicht beängstigend, sondern auf die Dauer langweilig, wirkte dennoch sehr entspannt.

4Players: Sie haben Anglistik sowie Film- und Fernsehwissenschaften an der Ruhr-Uni Bochum studiert. Woher kommt das akademische Interesse am Spiel?

Dennis Ray Vollmer: Ich glaube bezüglich meines Beitrags sind die Schnittpunkte deutlich. In Bochum waren die Film- und Fernsehwissenschaften immer auch medienwissenschaftlich orientiert, schließlich war schon Friedrich Kittler bei der Gründung dabei, sodass neben bildästhetischen und filmgeschichtlichen Fragestellungen auch der größere medienhistorische Rahmen vermittelt wurde. FFWler lernen (ideologiekritisch) allem zu misstrauen, was sich "realistisch" und "natürlich" gibt. Als nun die Computerspiele sich von der symbolischen, zeichenhaften Ebene verabschiedeten und in Richtung Perspektive und Fotorealismus, und nun verstärkt physikalischen Realismus gingen, fand ich das spannend, denn der Computer ist ja - im Gegensatz zu Film und Fotografie - nicht an eine bestimmte Konstruktionsweise von Realität gebunden. Und inzwischen ist diese Form des Realismus durch Grafikkarten hardwareseitig zumindest "bevorzugt", aber eigentlich Pflicht für Games. Die Filmtheorie hat Fotorealismus, Perspektive und Kinotechnik mal als eine ideologische Anordnung betrachtet und kritisiert. Man weiß inzwischen, dass der Zuschauer sich diesem "Dispositiv" auch entziehen kann und seinen eigenen Film "konstruiert", hinsichtlich des Computers müsste man noch schauen, mit welchen Methoden sich der "User" dem Computerrealismus entzieht.
Aber mein Interesse ist natürlich nicht rein akademisch.

4Players: Half-Life 2 hat Traumwertungen erhalten, sich millionenfach verkauft, weltweit begeistert. Warum würden Sie als Filmkenner ebenfalls zum Oskar greifen? Oder ihn gar verweigern?

Dennis Ray Vollmer: Wofür? Best male actor? Best female artist? Nein, im Ernst, wenn es eine Art Oscar für "Beste Theateraufführung im Computerspiel" gäbe, dann wäre Half-Life 2 auf jeden Fall nominiert. Es scheint mir, als ginge HL2 eher weg von der "cineastischen Darstellung" und hin zum Theater bzw. zur Bühnenaufführung. Leider meist ohne Zuschauer, weil der Spieler immer schon zum Ausgang rennt, bevor die NPCs mit dem Acting fertig sind. Das ist mindestens so unhöflich wie im Kino beim Abspann aufzustehen. Als ich zum ersten Mal aus dem Bahnhof auf den Platz trat, dachte ich "Wow, was diese Leute wohl gemacht haben, bevor ich die Tür geöffnet habe?" Dieses Gefühl einer simulierten Stadt hatte ich seit Mafia nicht mehr.

4Players: Was halten Sie von der Dramaturgie in Half-Life 2?

Dennis Ray Vollmer: Alles in Half-Life scheint zunächst klassisch auf die Konfrontation mit Dr. Breen hinauszulaufen: Die Eingangsmontage im Zug zeigt bereits Ausschnitte aus der Zitadelle, Breen ist beim Ausstieg auf großen Monitoren zu sehen usw. Aber der Schluss ist das genaue Gegenteil des zu erwartenden Höhepunkts: Breen ist selbst nur vermeintlicher Kollaborateur/Nutznießer der Aliens und eigentlich Opfer. Er entzieht sich der "Rache" Freemans. Und dann friert auch noch der Augenblick ein, in dem wir sowohl unseren größten Triumph feiern als auch der tödlichsten Gefahr gegenüberstehen. Wenn das Portal in einem bedrohlichen Explosionspilz aufgeht, wissen wir, weder was mit Breen noch unseren Freunden geschehen wird. Eigentlich geschickt, denn Valve kann daraus noch 2-3 Add-Ons basteln. Vielleicht ließe sich die Dramaturgie als eine des Übergangs von Aristoteles zu Brecht beschreiben? Was meint der Interviewer? Auch der technoide Soundtrack verstärkt hin und wieder die "Dramatik" einer Szene, wirkt auf mich aber ähnlich "anti-klimatisch", da insgesamt zu unmotiviert und beliebig. Man denkt: "Jetzt geht's los - bring it on!" Und dann kommen einfach nur ein paar Kreaturen oder Combine-Wachen. Die Praktiker unter uns würden in diesem Fall von "schlecht gemacht" reden.

4Players: In Ihrem Gastbeitrag geht es um das Zukunftsszenario in Half-Life 2. Welche Parallelen gibt es zwischen Orwells Roman 1984 und Valves Shooter?

Dennis Ray Vollmer: Hinsichtlich des Settings - oder der Paidea, wie Gonzalo Frasca (siehe Beitrag) sagen würde - eine ganze Menge. Im Grunde teilen sie den entindividualisierenden Überwachungsstaat, die Zerstörung von Kultur und Rückkehr in einen archaischen Weltzustand, den man in HL2 auch in der Fahrt aufs Land erleben kann und sich zudem in Freemans Brecheisen verkörpert. Mann, war ich froh, als ich endlich die magisch-naturwissenschaftliche Hochkultur der Gravity Gun in den Händen halten durfte... Aber vielleicht überstrapaziere ich in diesem Punkt auch die Interpretation. Natürlich ist auch die Unterdrückung der Libido und damit der gesamten Subjektwerdung des Menschen Thema. Man denkt ja bei Libido immer an "niedere Triebe", ähnlich, wie Dr. Breen es im Spiel immer wieder suggestiv der Bevölkerung einreden will. Tatsächlich aber betonen Dystopien und auch Anti-Utopien immer wieder die Bedeutung der freien Sexualität für ein befreites Individuum. Orwells 1984 stellt Sex unter Verbot - Sex Crime.

4Players: Apropos Dystopien: Was verstehen Sie darunter? Pessimistische Zukunftsvisionen?

Dennis Ray Vollmer: Die Utopieforschung unterscheidet verschiedene Arten von Zukunftsentwürfen u.a. nach ihrer Grundstimmung: die Utopie oder Eu-topie malt ein positives Gesellschafts- oder Staatsbild, die Dystopie ein negatives. Anti-Utopien sind genau genommen kritische Einwände gegen Inhalt und Form der Utopie, d.h. keine geschlossenen Gesellschaftsmodelle, keine Distanz zwischen realer und fiktionaler Gesellschaft, gebrochene Erzählformen.

4Players: Die verbindenden Elemente sind zweifellos da. Würden sie sagen, dass Valves Titel eher die Tradition von Orwell & Co als die von Pacman & Co fortführt?

Dennis Ray Vollmer: Wenn man das kritische Anliegen von Dystopien betrachtet, glaube ich, stößt man auf Probleme der Vergleichsebene, die auf Unterschiede zwischen Spiel und Literatur verweisen. Wir vollziehen mit Freeman nicht einen inneren Wandel in der Erkenntnis des Protagonisten nach, sondern sammeln Items, bekommen Upgrades, erreichen "Goals". Das bedeutet zwar nicht, dass man daraus keine Lehren ziehen könnte, aber das spielerische Prinzip von Pacman - you are what you eat - überwiegt.

4Players: Das ist eine Überraschung - wir hätten aufgrund Ihrer Vita eher auf Orwell getippt! Aber wenn wir schon bei Pacman sind: Hat Half-Life 2 aus erzählerischer Sicht nicht komplett versagt? Man erfährt nichts über den Protagonisten, die Dialoge sind rar, die Story bleibt eine Ahnung…

Dennis Ray Vollmer: Nun, wenn man das cliffhangerartige Ende betrachtet, ist die "Erzählung" auch noch nicht beendet - das war jetzt tautologisch, aber es ist klar, was ich meine, oder?

4Players: Nicht wirklich; die Dopplung verwirrt eher ein wenig. Aber klären Sie uns auf, ob das nicht zu Ende erzählte Half-Life 2 erzählerisch versagt hat?

Dennis Ray Vollmer: Ok, ich denke, wir können noch Einiges in Teil 3 und den unvermeidlichen Add-Ons erfahren. Jede Erzählung blendet immer auch Aspekte aus, die nicht erzählt worden sind, Momente, die man noch weiter ausführen könnte. Das Aufschieben von spannenden oder erlösenden Erzählmomenten ist aber auch ein typischer Stil, den bspw. die X-Files bis zur Schmerzgrenze ausgekostet haben. Man könnte darüber spekulieren, inwiefern HL2 erfolgreich in seiner experimentellen "Erzählweise" ist, einen Schritt weg von den Cutscenes und hin zur Aufführung zu unternehmen. Bei eher "goal"-orientierten Spielern fällt der Vorhang in der Regel vor dem Ende bzw. sobald irgendwo eine Tür geöffnet wird und sie halbwegs wissen, was gemacht werden soll.

4Players: Was halten Sie von Doom3? Wird hier nicht auch eine literarische Utopie aufgegriffen? Die des Terrors, des Horrors, der Hölle?

Dennis Ray Vollmer: Versatzstücke aus apokalyptischen oder heilsversprechenden Zukunftsversionen lassen sich in sehr vielen Spielen finden. Sicher greift Doom Science-Fiction Elemente auf, aber simuliert Doom eine Hölle? Im Vergleich ist HL2 als Simulation weiter entwickelt, umfassender und im höheren Maße "kohärent", denke ich. Auf der Ebene der "Engines" finde ich den Vergleich schon spannender: Wie sieht das zukünftige Modell der 3D-Spiele aus? Ein überspitzt formuliertes Gedankenspiel: Sollen wir künftig die Welt wahrnehmen als eine sphärische, aus Licht und Schatten erzeugte, wie Doom sie darstellt, oder stärker als eine physikalische, materielle Welt? Die Lichtverhältnisse in Doom3 lassen die Welt irrealer, aber auch "flacher" erscheinen - aus dem Schatten direkt vor dir tritt plötzlich ein Monster, das du niemals dort vermutet hättest. Half-Life2 dagegen ist ungeheuer plastisch und tiefer - überall liegen Objekte rum, zoomen Dinge aus dem Hintergrund auf dich zu. Vielleicht hätte man HL2 mit der Engine von Doom generieren sollen? Das hätte den düsteren, dystopischen Charakter mittels einer Symbolik aus Licht und Schatten beschrieben.

4Players: Noch bedienen sich die meisten Games düsterer Zukunftsvisionen. Es gibt zwar politische Anspielungen und ideologische Botschaften, aber alles unter dem Mantel der Fiktion. Ist dieser Mantel wichtig?

Dennis Ray Vollmer: Für die Utopie und Dystopie ist der fiktionale Charakter des Entwurfs immer wichtig gewesen, um einerseits kritisch den geistigen, sozialen usw. Abstand zur gegenwärtigen Gesellschaft zu markieren und andererseits auch der politischen Verfolgung zu entgehen. Die absichtlich eingeführte Distanz zur wahrgenommenen "realen" Situation des Lesers/Autors hat man beiden Formen in den 70ern u.a. zum Vorwurf gemacht und in Form ambivalenter (Anti-) Utopien aufzubrechen versucht. Joanna Ross' "The Female Man" ist geradezu ein Paradebeispiel für solche Auflösungsversuche: Die dystopischen, utopischen und realen Entwürfe der Autorin sind wortwörtlich nur a ‚While-a-way', wie die Parallelwelt im Roman bezeichnet wird. Darüber hinaus ist das Buch ungeheuer witzig und spielt permanent mit Erzählformen. Irgendwann im Buch kommentiert plötzlich die Autorin die Geschehnisse - es ist ein ständiger Aufbruch und eine Ironisierung der Perspektiven.

4Players: Es gibt Anti-Kriegs-, Anti-Rassismus-, Anti-Drogen-, Anti-Gewaltfilme. Wird die Spielewelt nicht erst dann erwachsen, wenn es auch Titel gibt, die gesellschaftliche Probleme schonungslos aufgreifen?

Dennis Ray Vollmer: "Schonungslos" ist ein schönes Stichwort. Zum Erwachsenwerden gehört für mich auch die Unabhängigkeit und "Stärke", Tabuthemen anzupacken und zu reflektieren. "Reflektieren" - nicht einfach auf der Oberfläche abbilden. Aber Spiele können nur so erwachsen werden, wie die Spieler, welche mit ihnen umgehen und umgekehrt, können sie nicht "belehren". Auch Literatur kann das nicht und es ist auch nicht die Aufgabe beider Formen. Ich sag das deshalb, weil der Wunsch nach "verantwortlichen", wertebezogenen Spielen und Literaturen immer wieder laut wird. Im Vordergrund steht dann meist die Sorge, es gelänge vielleicht in falsche Hände und Kinder würden es spielen. Solange man Games nicht erwachsen werden lässt oder zumindest im Geist für Kindergebrauch reserviert, wird das mit dem "Erwachsen werden" nichts. Wenn man sich traut, den Spielern "frei" das Ziehen von "Lehren" aus dem Dargebotenen zu überlassen, werden Spiele erwachsen werden können. Wie hätte sich Literatur entwickelt, wenn man stets nur den augenblicklichen Common Sense zugelassen hätte?

4Players: Sie schreiben in Ihrem Gastbeitrag, dass die Utopie ein "künstliches Nirgendwo" sei. Wenn mit künstlich auch konstruiert, steril und wenig lebendig gemeint ist: Gibt es davon nicht sogar hunderte in der Spielewelt? Leben wir nicht schon die Utopie?

Dennis Ray Vollmer: Das wäre eine furchtbare Vision. Es klingt immer blöd, Zeitgeschehen zu kommentieren, aber insofern augenblicklich wirtschaftliche, politische und soziale Prognosen enorm kleine Halbwärtszeiten - oder Half-Lifes - haben, kommen Utopien fast nie zustande. Statt dessen: die Reform der Reform der Reform. Wenn das aber auf die MMORPGs und Offline-Spielwelten a la SIMS bezogen ist, dann wird es schon schwieriger. Die Sims jedenfalls, das hat ja u.a. Tilman Baumgärtel in einem noch unveröffentlichten Artikel ausgeführt, sind eher die Schreckensvisionen vom Ende aller Utopien und dem endgültigen Triumph des kapitalistischen Modells.

4Players: Sie beschäftigen sich intensiv mit Zukunftsprognosen, fiktiven Weltbildern. Gibt es eine Entwicklung in der Spielewelt, die Ihnen Angst macht?

Dennis Ray Vollmer: Angst? Nein, vor welchen Entwicklungen in der Spielewelt könnte oder sollte man Angst haben? Der reale gesellschaftliche Rückzug aus dem Öffentlichen ins Private macht mir manchmal "Angst", weil ich nicht sehe, dass dagegen politisch etwas getan wird.

Neugierig auf eine Vertiefung des Themas? Die Kolumne ist nur lockerer Aufmacher des aktuellen Spielkulturthemas "Half-Life 2 & die literarische Utopie":

Gastbeitrag: Lost in Translation
Biografie: HL2-Autor im Überblick
Bilderserie: Von Orwell bis Valve
Porträt: Dennis Ray Vollmer
4Players: Auf welche Spiele freuen Sie sich in diesem Jahr ganz besonders?


Dennis Ray Vollmer: World of Warcraft - ich konnte meinen Account am Freitag rechtzeitig anmelden, lucky me! Aber auch Knights of the Old Republic 2. Man sieht, ich bin eher ein Mainstreamspieler, der die vielen kleinen, tollen Indi-Spiele nicht kennt, aber kennen lernen möchte. Wenn doch nur über sie mit derselben Inbrunst berichtet würde, die hinter den Riesennummern steht... vielleicht bei 4Players.de?

4Players: Wenn Sie mit "tollen Indi-Spielen" hervorragend bewertete, aber kaum verkaufte Perlen wie ICO, Rez, Beyond Good&Evil meinen, werden Sie in unserem Archiv fündig. Aber ein echter Geheimtipp aus der Szene unabhängiger Entwickler ist in diesem Jahr "Darwinia" - allerdings ein Echtzeit-Strategiespiel. Vielen Dank für das Gespräch und viel Erfolg bei Ihren Studien!

      

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