Geschichtsstunde
Warum Balan Wonderworld ein spannendes Projekt ist? Weil es mit seiner ebenso bunten wie grobschlächtigen Märchenwelt wie aus der Zeit gefallen wirkt? Weil es mit der Anlehnung an die Gesangseinlagen von Disney-Filmen oder Musicals eine Nische besetzt, in der sich sonst nur die Kingdom-Hearts-Spiele tummeln? Ja, auch. Doch manchmal macht nicht nur der Inhalt eines Titels, sondern auch die Geschichte hinter den Pixeln und Polygonen neugierig. Balan Wonderworld ist das erste Projekt eines neuen Teams im Hause Square Enix, dem Balan Studio. Chef des noch jungen Hauses ist Yuji Naka, der Anfang der 1990er als Programmiergenie bei Sega hauptverantwortlich für Sonic the Hedgehog war - und damit maßgeblich zum Höhenflug des Nintendo-Konkurrenten beitrug. Fortan war Nakas Sonic Team ein wichtiger Stützpfeiler für Segas Erfolg, ähnlich wie z.B. Yu Suzukis AM2-Abteilung, und produzierte in den Folgejahren nicht nur Sonic-Titel sondern auch das Kultspiel
Nights into Dreams oder den Online-Pionier
Phantasy Star Online.
Musical-Spiel? Nach dem ersten Bosskampf wird erstmal gemeinsam getanzt...
Auch nach dem Hardware-Aus von Sega war Naka ein wichtiger Teil des japanischen Entwicklerkosmos: Er experimentierte mit
Billy Hatcher and the Giant Egg, produzierte noch eine ganze Weile weitere Sonic-Spiele (z.B.
Sonic Heroes,
Sonic Rush) und verließ 2006, unter vernehmbaren Getöse, das Sega-Mutterschiff. Seinem neuen Studio Prope war kein durchschlagender Erfolg vergönnt: Nach dem innovativen, aber nicht zu Ende gedachten Trommelspiel
Let's Tap (Wii) und dem niedlichen 2D-Hopser
Ivy the Kiwi? war Prope vor allem mit Streetpass-Software für den 3DS beschäftigt - und das Langzeit-Projekt
Rodea: The Sky Soldier (von Wii auf Wii U geschoben) fiel nicht nur im 4P-Test durch. Heute existiert Prope nur noch auf dem Papier mit Yuji Naka als einzigem Mitarbeiter, seine kreative Energie steckt er in Balan Wonderworld. Dafür erhält er Unterstützung vom japanischen Studio Arzest - und dessen Geschichte ist nicht minder interessant…
Leo ist eine der beiden spielbaren Figuren - hier im Bild sieht man die Krümmung der Spielwelt.
Denn Arzest-Gründer Naoto Oshima ist 1991 der Charakter-Designer des ikonischen Igels Sonic, später arbeitet er zusammen mit Naka auch an
Nights into Dreams und sogar noch am (überfälligen) Sprung in die dritte Dimension -
Sonic Adventure. Oshima kehrte Sega früher der Rücken als Naka: Bereits 1999 macht er mit Artoon seinen eigenen Laden auf - das Studio versucht sich zusammen mit der Unterstützung von Microsoft an zwei
Blinx-Spielen, verantwortet das wundervolle GBA-Kipp-Spiel
Yoshi's Universal Gravitation und hilft bei der Entwicklung der Rollenspiele
Blue Dragon und
The Last Story. Als Artoon 2010 (wie übrigens auch der
NieR-Entwickler Cavia) ein Teil von AQ Interactive wird, steigt Oshima erneut aus. Zusammen mit Sega- und Artoon-Veteranen gründet er ein neues Studio mit dem Namen Arzest, das in der Folge erneut mit Yoshi arbeitet (
Yoshi's New Island, 3DS),
Hey! Pikmin entwickelt und weitere prominente Titel auf den 3DS hievt (Mario & Sonic 2016, Yoshi’s Wooly World). Und dieses Arzest ist nun zusammen mit Balan Studio verantwortlich für Balan Wonderworld - fast 25 Jahre nach dem bonbonbunten Flugmärchen
Nights into Dreams erschaffen Naka und Oshima wieder ein farbenfrohes Wunderland voller Harlekins, lebendiger Pflanzen, drolliger Tierchen und abenteuerlustiger Kinder.
Der verrückte Hutmacher…
Dem Bauern helfen wir in der Demo - die Figuren wirken wie aus einem Märchen-CGI-Film.
…aus Lewis Carrolls Alice im Wunderland wurde sich in Balan Wonderworld wohl fühlen: Die aktuell verfügbare Demo, die ich auf PS5 spiele, entführt mich in zwei Hüpf-Levels und eine Boss-Stage, die allesamt in der Fiebertraum-Version eines Bauernhofs spielen. Überall stehen und liegen Maispflanzen, Kürbisse und Heuballen herum, der dunkelgrün-hellgrün gemusterte Boden erinnert derweil sicher nicht zufällig an die Green Hill Zone aus dem ersten Sonic. Während ich mich über die träge Laufgeschwindigkeit wundere und mich frage, ob wohl auch im finalen Spiel alle vorderen Actiontasten ein und denselben Zweck (Hüpfen) erfüllen, wird vor mir ein schrilles Märchenland buchstäblich ausgebreitet: Denn die Spielwelt scheint konvex gekrümmt zu sein, der Horizont geht nach oben - beim Laufen fühlt es sich so an, als würde ich ein in eine Schale gegossenes Jump’n’Run durchqueren. Das ist seltsam, aber gleichzeitig auch spannend. Finde ich zumindest. Zudem fühlen sich diese ersten Levels, vielleicht auch wegen der trägen, nicht immer optimal platzierten Kamera, ein wenig wie eine Reise in die PS2-Ära an. Die Objekte und Wände der Umgebung sind bei genauem Hinsehen zwar ansprechend texturiert, gleichzeitig wirken die Modelle aber sehr grob und die Größenverhältnisse passen so gar nicht zur Realität. Ich schlurfe und hopse über Grünflächen und Äcker, absolviere simple Sprungpassagen und schlage ein paar wenig ansehnliche Feinde in die Flucht.