„Ich weiß was du denkst: Warum weiterhin tagein, tagaus aufstehen – selbst wenn mein Leben ins Nichts führt?“
O’Neill nutzt den RPG-Maker, um die Geschichte von Evan Winter zu dokumentieren – einem Mann, der mit Mitte dreißig psychisch am Ende ist. Im Stil einer Graphic-Novel, immer wieder unterbrochen durch Texteinblendungen und Standbilder, erlebt man eine Kurzgeschichte, deren Ablauf und Ende unveränderbar ist. Man erhält einen Einblick in seine trostlose Gedankenwelt und kann nicht mehr tun, als jeden Schritt zur Katastrophe mitzuerleben.
„Keine Lohnerhöhungen, keine Beförderungen, keine Hoffnung, keine Zukunft. Und lass uns ehrlich sein: Keine Liebe“
Actual Sunlight illustriert das Leben eines Erwachsenen mit schweren Depressionen.
Wohl deshalb schickt O’Neill eine Warnung vorweg. Irgendwo in der Mitte der rund 70 Minuten erhalte ich diese persönliche Anmerkung des Autors: „Dieses Spiel handelt von einem Mann in seinen Dreißigern. […] Es interessiert mich nicht, wie sehr du glaubst, dass dein Leben schlecht ist – wenn du nicht mindestens 25 bist, geht es hier nicht um dich! Ich warne dich!“ Es geht also nicht um Probleme von Teenagern oder um flüchtige Gedanken, die vermutlich jeder in seiner Jugend hatte. Hier geht es um eine schwere Depression. Begeh‘ keine Dummheit.
Denn Evan ist kein Teenager – und er ist am Leben gescheitert. Zumindest glaubt er das. Er ist ein übergewichtiger, in sich gekehrter, selbstzentrierter und zynischer Mann Mitte dreißig. Er hat einen Job, den er hasst, und eine Wohnung, die ihm egal ist. Er lebt zwischen Junkfood, Pornographie, Videospielen und unerbittlichem Selbsthass. Evan ist einsam, gebrochen und von einer hoffnungslosen Routine zermürbt.
„Du hast nichts, auf das du dich freuen kannst. Es ist wird der gleiche dumme Scheiß sein. Jeden Tag, für den Rest deines gottverdammten Lebens.“
Actual Sunlight ist eine spielbare Graphic-Novel. Viel Mechanik oder Interaktion gibt es nicht.
Mit zynischen Beobachtungen der Umgebung und herzzerreißenden Oden an die Traurigkeit charakterisiert O’Neill einen Mann, der sein Selbst an die Depression verloren hat. Wie eine Maschine funktionierend, ist er nicht mehr als eine Hülle, in der ein verzweifelter Geist lebt. In Selbstgesprächen und Gedanken reflektiert sich Evan selbst. Er wirft sich vor, nichts aus seinen perfekten Voraussetzungen (weiß, männlich, gebildet) gemacht zu haben. Er hasst sich dafür, nie eine erwiderte Liebe gefunden zu haben, verachtet seinen Lebensstil, hasst seinen Körper. Anderen Menschen begegnet er kaum, echte Kontakte besitzt er nicht.
Er tendiert dazu diesen Selbsthass auf die Gesellschaft und seine Mitmenschen zu projizieren – dabei reflektiert er sich schonungslos selbst. So findet sich zu Beginn ein Eintrag von ihm in einem Alan-Wake-Fanforum, in dem er nicht nur das Spiel als oberflächlichen, pseudo-emotionalen Mist verreißt. Er geht auch seine Mitmenschen dafür an, genau so zu sein wie er: übergewichtig, emotional abgestumpft, hoffend, dass sie eines Tages so sein können wie die Protagonisten im Spiel. Das ist zynisch, finster und brillant. Ebenso brillant ist auch der abschließende Kommentar eines Moderators: „Entry deleted. Tl;DR. Faggot.“ Eine Metapher für Evans unglückliches Leben selbst.
„Wenn Liebe bedeutet, eine andere Person glücklich zu machen, wie kann jemand, der niemanden glücklich machen kann, jemals wirklich lieben?“
O'Neill hat sein Spiel im RPG Maker entworfen. Entsprechend einfach sind Hintergründe und Umgebungen.
Jeder der trocken und mitunter quälend langsam über den Bildschirm flimmernden Sätze ist schmerzhaft ehrlich. Was bedeuten Konsumgesellschaft, Leistungsdruck, Geld – was bedeutet Liebe und Familie? Welchen Sinn hat die eigene Existenz, wenn das eigene Leben für niemanden etwas bedeutet? Zynische Formulierungen und ein fast komischer Fatalismus stehen im scharfen Kontrast zu brutalem Schmerz und schicken mich in ein Wechselbad der Gefühle. Dank dieser pointierten Zeilen kann ich über die sterile Kulisse und extrem minimalistische Spielmechanik hinwegsehen – obwohl ein prägnanteres Artdesign und stärkere Bilder mehr Atmosphäre schaffen würden.
Wer Suizidgedanken hat, sollte sich an vertraute Menschen wenden. Oft hilft bereits das Sprechen dabei, die Gedanken zumindest vorübergehend auszuräumen. Wer für weitere Hilfsangebote offen ist oder sich um nahestehende Personen sorgt, kann sich an die Telefonseelsorge wenden: Sie bietet schnelle Hilfe an und vermittelt Ärzte, Beratungsstellen oder Kliniken unter der Nummer 0800/1110111.
Einen Ausweg aus dem Dilemma gibt es für Evan - und somit auch für mich - scheinbar nicht. Ich habe keine Wahl in den Gesprächen, kann keinen Einfluss auf die Handlung oder Entscheidungen nehmen. Ich kann nur zusehen, wie die Welt eines Menschen zerfällt. Das schmerzt und die erzwungene Ausweglosigkeit unterstreicht die Absicht des Autors, die Innenansicht einer Depression nachzuzeichnen. Dennoch wäre etwas mehr Interaktivität, etwas mehr Freiraum oder einfach nur Antwortoptionen in den Dialogen schön gewesen. So kann ich nur vor jedem Objekt die Interaktions-Taste drücken und hoffen, dass es besser wird.
Doch Evans Gedankenwelt lässt keine Hoffnung und keine Möglichkeit aus seinem eigenen Selbst zu entkommen zu. Und während er ein trostloses Dasein zwischen Wohnung, Job und Supermarkt fristet, ist da immer wieder dieser Gedanke: „Geh auf das Dach und spring.“
Fazit
Actual Sunlight ist finster, ehrlich und schonungslos. Will O’Neill hat in dieser virtuellen Kurzgeschichte seine eigene Depression verarbeitet und erzählt in schmerzhaft ehrlichen, teils grandios zynischen Texten die Geschichte eines Mannes, dessen Leben in Scherben vor ihm liegt. Aber er hat kein Spiel entwickelt! Actual Sunlight ist eine interaktive Kurzgeschichte. Es gibt fast kein klassisches Videospiel-Element, keine Level, keinen Ausweg. Aber O’Neill hat die Ausweglosigkeit und die minimalen spielerischen Elemente absichtsvoll genutzt: sein Plan war nie, ein Papo & Yo oder ein Dear Esther zu schaffen, die erheblich mehr Videospiel sind und sein wollen. Selbst Gone Home bietet mir deutlich mehr Handlungsfreiraum und Interaktivität als Actual Sunlight. Dennoch: O‘Neill macht die Hoffnungslosigkeit einer Depression erlebbar, sensibilisiert und eröffnet einen verstörenden Blick auf den Sinn des eigenen Lebens. Es ist ein Titel, der die Videospielewelt bereichert – auch wenn er spielerisch wenig mehr bietet, als ein (sehr gutes) Ebook. Obwohl wir Graphic-Novels schon getestet haben, sind wir nach gründlicher Abwägung zu dem Schluss gekommen, dass eine Wertung dem Projekt und der ausdrücklichen Zielsetzung des Autors nicht gerecht wird. Actual Sunlight ist ein dokumentarisches Experiment. Es beinhaltet in seinem ehrlichen und erwachsenen Umgang mit einem komplexen Thema eine Reife, von der viele Entwickler lernen können.