Der Entscheidungs-Schein trügt
Doch obwohl es alternative Abzweigungen und verschiedene Enden gibt, zu denen ihr abhängig von euren Entscheidungen kommt, erzählt Paranormasight insgesamt eine
sehr lineare Geschichte. Verfrüht erlebte Schicksale sind ein netter Nebeneffekt, letztendlich aber nur eine kurze Unterbrechung, während ihr dem eigentlichen Finale hinterherjagt. Um das zu erreichen, sind ultimativ bestimmte Entscheidungen gefragt, womit Paranormasight mehr Freiheit vorspielt, als es tatsächlich gewährt.
In Paranormasight trefft ihr viele Charaktere mit unterschiedlichen Hintergründen und Absichten. Dank der Perspektivwechsel lernt ihr fast alle davon näher kennen.
Trefft ihr im Verlauf der Geschichte die „falsche“ Entscheidung, kann das somit schnell zu eurem Verderben führen. Zum Glück ist der Bildschirmtod schnell ungeschehen gemacht, indem ihr im Menü aufgeführten
Story-Chart die Situation neu ladet und einen anderen Weg einschlagt. Das riecht nach Trial-and-Error, ist letztendlich aber nur Teil des großen Rätsels, bei dem ihr nicht nur die Geheimnisse des Rituals der Wiederauferstehung lüften, sondern auch die Absichten eurer Mitmenschen erkennen müsst. Praktischerweise erlaubt der Story-Chart auch das Erleben der Abzweigungen, falls ihr direkt den richtigen Riecher hattet.
Wer Wert auf tatsächlichen Einfluss legt, könnte von der stringenten Spielweise enttäuscht werden, doch das fokussierte Erzählen kommt Paranormasight eher zugute und sorgt für eine runde Geschichte. Die wird auch von den stetigen
Perspektivwechseln getragen, bei denen ihr immer wieder in die Schuhe anderer Charaktere schlüpft, während die dadurch entstehenden Cliffhanger unter den Fingernägeln brennen und für zusätzliche Spannung sorgen.
Schleichender Schrecken statt Jumpscare-Dauerfeuer
Angesichts der Ereignisse fürchten sich auch die Figuren der Geschichte und das spiegelt sich hervorragend in ihrer Mimik wider.
Spannung kommt aber auch aus einer anderen Ecke: Der minimalistische Handlungsspielraum mit 360-Grad-Sicht sorgt nämlich dafür, dass die seltenen, aber sehr
effektiv eingesetzten Schreckmomente voll zur Geltung kommen. Paranormasight ist alles andere als eine Jumpscare-verseuchte Geisterbahn auf dem lokalen Rummelplatz, sondern würzt die zum Schneiden dichte Atmosphäre nur ab und an mit einer plötzlich auftauchenden Gruselgestalt.
Ohnehin trägt die gesamte Präsentation zum schaurigen Setting bei: Das Menü ist im Stil eines alten
CRT-Fernsehers gehalten, als hättet ihr nachts versehentlich die Mattscheibe angeschaltet und dabei einen verstörenden Sender erwischt, vor der ihr nun wie gebannt sitzt und weder abschalten noch weggehen könnt. Auch der Rest des Spiels ist von einem leichten CRT-Filter bedeckt und verwebt sich zusammen mit den grob gezeichneten Umrissen der Figuren zu einer besonderen Optik.
Als wäre es nicht genug, nachts in einem verlassenen Park herumzustreunern, müsst ihr eure Umgebung auch noch genau studieren.
Während sich die Angst der Charaktere in ihren gelungenen Gesichtsausdrücken widerspiegelt, bleibt die Musik größtenteils im Hintergrund, nur um in entscheidenden Momenten der Spannung unter die Arme zu greifen und Schreckmomente mit bedrohlichen Geräuschen zu untermalen. Als Horror-Schocker lässt sich Paranormasight trotz Mord, Totschlag und übernatürlicher Erscheinungen also nicht beschreiben. Spannung wird statt drohender Jumpscares eher über die Charaktere mit ihren zweifelhaften Motiven sowie der beklemmenden Stimmung aufgebaut, womit die Visual Novel in die Kategorie
psychologischer Grusel fällt. Die urbanen Legenden laden also nicht nur abgehärtete Gänsehautspezialisten, sondern auch zartbesaitete Interessenten zum Spukbuffet.