Was lange währt...
Satte acht Jahre hat der Künstler und Spielemacher
William Chyr an Manifold Garden gearbeitet, wobei schon sein
erstes Konzept praktisch alles enthielt, was die edlen Rätsel heute ausmacht – „heute“ übrigens wohl wissend, dass der Titel im vergangenen Jahr bereits im
Epic Games Store und erst jetzt auch auf PS4, Switch und Xbox One erschienen ist. Für welche Plattform ihr euch entscheidet, spielt aber keine Rolle, denn das verquere Knobeln entfaltet auf allen Systemen seine ganze Stärke.
Und diese Stärke fängt beim Umkehren der Schwerkraft ja erst an. Wobei: Genau genommen kehrt man sie nie um, sondern kippt sie immer nur um neunzig Grad, indem man eine Fläche aktiviert, die senkrecht zum aktuellen Boden steht. Will man an der Decke laufen, müsste man also erst eine Wand anklicken, dann zu jener Fläche laufen, die sich gerade noch ganz oben befand, und diese ebenfalls anklicken. Wofür man das braucht? Im einfachsten Fall um eine Tür zu erreichen, die sich eben dort befindet. Meist legt man aber Würfel auf Schalter, die sich nicht immer auf dem Boden befinden, sondern vielleicht an einer Wand – die Frage ist dann, wie man den Würfel dazu bekommt nicht herunterzufallen. Oder man lenkt kleine Rinnsale um, um mit ihrem Wasser kleine Mühlräder in Bewegung setzen und mehr. Weil schon das Entdecken der Aufgaben und Möglichkeiten hier einen großen Teil des Reizes ausmacht, will ich nur wenig davon vorwegnehmen.
Grenzenlos
Die abstrakte Architektur wiederholt sich unendlich oft in alle Richtungen. Stilistisch erinnern die unmöglichen Räume an Arbeiten von M.C. Escher. (Switch)
Zunächst einmal begeistert Manifold Garden ohnehin nicht mit seinen Kopfnüssen, sondern mit seiner famosen Architektur, die aufgrund des spielerischen Konzepts aus ausschließlich rechtwinkligen Strukturen besteht. Sie sehen über weite Strecken so aus, als wären sie nur skizziert worden, und erinnern deshalb an Werke, mit denen M.C. Escher in der Allgemeinheit bekannt wurde. Immerhin befinden sich Treppen und Türen an allen möglichen Stellen; sie wären unerreichbar, könnte man nicht beliebig auf allen Flächen entlang spazieren oder sich von weit oben auf einen tief unten liegenden Sockel fallen lassen. Selbst nach einem langen Fall verliert man ja keine Gesundheit.
Das ist nämlich der zweite Grund, aus dem vieles an Eschers unmögliche Perspektiven erinnert: Es gibt keinen Himmel, keinen Erdboden, keine Berge oder sonstige Levelgrenzen. Stattdessen wiederholen sich alle Bauten unendlich oft in jeder Richtung. Was das bedeutet? Dass ihr euch von einer Plattform stürzen könnt und schon nach wenigen Sekunden wieder bei dieser Plattform ankommt. Lasst ihr die Hände vom Analogstick, fallt ihr also ewig in die Tiefe – so lange, bis ihr über die Plattform oder auf ein anderes Gebäude zu schwebt. Ich finde das famos! Schon rein technisch ist dieser nahtlose Übergang von einem Raum in seine jederzeit sichtbaren Ebenbilder ähnlich beeindruckend wie das Durchschreiten gewisser
Portale.
Kunstvoll ineinander gesteckt
Die spielerisch faszinierende Welt enthält auch interessante erzählerische Elemente. (Switch)
Dabei erschuf Chyr aber keine selbstverliebte Hommage an Escher. Er hat auch Puzzles konstruiert, die das Kippen der Schwerkraft in der räumlichen Unendlichkeit hervorragend instrumentalisieren. Sämtliche Gegenstände fallen ja ebenfalls durch die ständige Wiederholung, kommen also von oben an, wenn man sie nach unten fallen lässt. Selbst Wasser fließt dieser Logik entsprechend.
Zusätzlich wiederholt Chyr seine Räume aber nicht nur, er verschachtelt sie auch ineinander und erinnert spätestens damit an die Testkammern von GLaDOS. Anstatt durch ovale Portale führt der Weg dabei durch große Tore: Die stehen oft mitten in einem normalen Raum, während man in ihren Durchgängen schon einen ganz anderen Ort erkennt. Über mehrere Tore und Glasfenster entstehen dadurch ebenso absurde wie faszinierende Ansichten, in die man sich erst einmal hineindenken muss, um eins der Rinnsale z.B. durch die verschiedenen Dimensionen zu leiten.
Ständig neu
Von Bäumen pflückt man zusätzliche Würfel und Farben stehen übrigens für verschiedene Himmelsrichtungen. (PS4)
Dabei stecken nicht nur einzelne Räume ineinander; man kehrt auch immer wieder in bereits besuchte Areale zurück, um von dort aus neue Gebiete zu erreichen. Tatsächlich schwebt Manifold Garden nicht lose im Nirgendwo, sondern baut auf seine unterkühlte Art eine Welt auf. Eckige Bäume wachsen etwa aus den Würfeln und tragen mehrere davon als Früchte, sodass man zusätzliche Würfel findet, um an anderen Stellen eine Lösung zu kreieren. Das Spiel öffnet sich langsam. Im Kleinen wie im Großen entdeckt man ständig Neues. Fast jeder Raum ist einzigartig und fast jedes Rätsel auf irgendeine Art neu. Dass nicht nur Gegenstände von der Schwerkraft umher geworfen werden, sondern Chyr die Idee des unendlichen, drehbaren Raums auf verschiedene Art spielerisch nutzt, ist dabei eine der großen Stärken. Es gibt nur wenige so umfassend konzipierte und auf den Punkt konstruierte virtuelle Welten!
Manchmal rennt man etwas lange auf den Gebilden umher und dreht sie immer wieder, um Zusammenhänge zu erkennen, darf aber keine Markierungen setzen – das kann beim Betreten neuer Gebiete schon mal ermüdend sein. Ich will die Umgebung eben erst verstehen, anstatt auf gut Glück sofort die ersten dort liegenden Würfel zu verschieben. Schön wäre auch eine frei einstellbare Steuerung, bei der die häufig gebrauchte Taste zum Benutzen und Aufheben auf einer der oberen Schultertasten liegen könnte. Doch das sind leicht verschmerzbare Kleinigkeiten. Ein Genuss ist dafür der Klang einschließlich eines reduzierten Soundtracks von
Laryssa Okada, die den vielsagenden Minimalismus treffend widerspiegelt.