Kolumne

hundertprozent subjektiv

KW 02
Donnerstag, 14.01.2021

Der Weg der Katze


Es sind seltsame Zeiten, oder? Einerseits steht die ganze Welt still, zwischen Angst und Lethargie erstarrt. Man fühlt sich wie an einer unsichtbaren Leine, in die eigenen vier Wände verbannt. Täglich grüßen Corona, Trump und Bekloppte. Dieser nicht enden wollende globale Stresstest offenbart all die Defizite der Spezies Mensch.

Andererseits verwandelt sich einiges. Und man hat jede Menge Zeit, sich Gedanken zu machen, in welche Richtung man sich selbst entwickeln könnte. Man muss nur all seine Antennen ausfahren, gut zuhören und genau hinsehen. Der eigenen Nase trauen! Oder mal wieder ein Buch lesen: Als Lektüre empfehle ich "Neko-do, Der Weg der Katze" -  das ist eine buddhistische Lebenskampfkunst aus dem alten Japan, die ich gerade erfunden habe.

Aber besser als die Quellenlage ist die Kernaussage: Auch wenn der Mensch in der Masse degeneriert, kann er sich durchaus mit etwas Fantasie und in guter Haltung, am besten mit einem seelenverwandten Fress-, Sauf- oder Spielkameraden, in ein faszinierendes Wesen verwandeln. Man muss in Home Office nicht wahnsinnig werden! Man muss an der Welt nicht verzweifeln! Die wichtigste Regel: Es gibt keinen Grund zur überflüssigen Veranlassung.

Also erstmal ein Nickerchen. Oder zwei. Ich empfehle dazu ausgiebiges Gähnen - also den Mund langsam und weit öffnen, bevor er mit einem dezenten Schmatzen zuklappt. Danach ein wenig die Position auf der Couch ändern. Nichts Radikales: Bloß eine leichte Kissen- oder Seitenanpassung, vielleicht ein Bein etwas weiter ausstrecken, den Kopf etwas drehen, dann so richtig lange wegnuckern...

Wenn man nach einigen Stunden des tief entspannten Verlagerungsdösens genug hat, sollte man ganz langsam aufstehen und sich auf alle Viere begeben. So landet man unweigerlich in der Yoga-Stellung "Cat", aus der man elegant in die Position "Bird Dog" gelangt, in der man ein Bein und einen Arm möglichst weit ausstreckt. Hört ihr ein leichtes Knacken im Nacken? Gut! Aber danach: Wieder ausgiebig gähnen. Und mal die Haare kämmen. Oder den Bart putzen.

Der ausgetrocknete Hals verlangt bald nach Wasser, Tee oder Bier. Das schlabbert man konzentriert in kleinen Schlucken, bevor es an die Mahlzeit geht, die immer zu festen Zeiten an einem festen Ort eingenommen wird. Dafür braucht man kein Yoga, da reicht eine schmackhafte Lasagne. Oder ein gefüllter, aber höchst personalisierter Napf, aus dem es dampft und duftet - jeder Mensch findet ja was anderes appetitlich. Also bloß keinen Koch engagieren, der Experimente macht: Leibspeise ist Trumpf!

Gut gefressen? Am besten noch was nachtrinken. Danach kann man sich wieder den Problemen der Welt widmen und aus einer möglichst horizontalen Lage heraus durch all die apokalyptischen Nachrichten scrollen, die quasi täglich ins Guinness Buch der Rekordseuchen eingehen. Ganz wichtig: Man darf das Aufregungspotenzial über seine eigene Spezies nicht komplett verlieren. Man darf nicht abstumpfen. Schließlich sind wir evolutionsgeschichtlich auch Jäger, die beweglich und aggressiv bleiben müssen.

Und wenn einen etwas so richtig nervt? Wenn da gelogen und Intoleranz gepredigt wird? Wenn hart erkämpfte Werte zurück in die Steinzeit gepöbelt werden? Wenn die Bekloppten marschieren? Einfach mal die Wände hoch gehen! Klingt gefährlich, kann aber befreiend sein: Man visiere eine Ecke des Hauses an, gehe mit zwei, drei Metern Abstand in die Position "Goddess" und renne los - um dann so weit wie möglich nach oben zu klettern! Falls ihr nicht in einem Altbau wohnt, bitte noch einen Helm aufsetzen. Man kann auch einen Kürbis ausschneiden.

Oben angekommen, schaut man sich kurz, aber konzentriert um - etwa so wie Jack in Shining. Das sieht vielleicht irre aus, aber manchmal muss man eben das Innere nach Außen kehren: Die markante Grimasse reißt die anderen Bewohner aus ihrer Lethargie, sie regt den Kreislauf an, fördert allgemein die Aufmerksamkeit im Home Office und soll sogar aphrodisierend wirken. Man muss wild, unberechenbar, aber auch kontrolliert und elegant bleiben!

Falls jemand aus einem anderen Haushalt zu Besuch ist und blöde Fragen von wegen geistiger Gesundheit stellt, geht man schweigend in den Keller - wie ein guter Philosoph. Wer clever ist, hat da etwas Gras mit Minzaroma versteckt. Einmal schnuppern, dann rappelt es kurz in der Birne und man ist topfit. Dann geht man wieder hoch als wäre nichts gewesen und schaut gelassen in einer statuesken Pose aus dem Fenster - diese Souveränität wird sich bald auf alle übertragen. Nachdem man da draußen Vögel und Nachbarn genau beobachtet hat, idealerweise von ein paar leise geknurrten Flüchen begleitet, weil man sie als zivilisierter Mensch weder jagen noch erschießen darf, müssen die eigenen Sinne angeregt und die Hand-Auge-Koordination gefördert werden.

Gerade in diesen Wachphasen geht es ja nicht nur ums Fressen oder Saufen, sondern auch um die wichtige Kompensation für die vom Lockdown gestresste Psyche. Und jetzt kommt das Beste: die Spielzeit! Hier kann man seine Neugier und viele Jagdtriebe befriedigen. Aber Vorsicht: Man muss wie beim Fressen sehr wählerisch bleiben, sonst spielt man irgendwann alles und schämt sich dafür. Man springt also nicht sofort auf die Couch und zockt los, weil da jemand irgendwas auf Switch, Xbox oder PlayStation anmacht. Nein, nein, es gibt Grenzen.

Man sollte erstmal stoisch zusehen, gähnen und so tun, als würde man gleich einschlafen. Falls jemand überfreundlich das Gamepad rüber reicht, ignoriert man es natürlich. Erst wenn er es zum neunten oder zehnten Mal mit ähnlicher Hingabe macht, oder noch besser: wenn das richtige Spiel zur richtigen Zeit auf dem richtigen System startet, richtet man sich auf und gibt sich voll und ganz, mit allen Sinnen dem wunderbaren Zocken hin!

Man gibt alles, jubelt, flucht und hat einfach mächtig Spaß in dieser digitalen Welt, in der man so viele Sorgen hinter sich lassen und zeigen kann, was in einem steckt. Aber das macht man nur so lange, bis es plötzlich Wichtigeres zu tun gibt: Man darf ja das Verlagerungsdösen nicht vergessen. Da kann man auch mal aus der letzten Runde Mario Kart oder in der 88. Minute PES aussteigen - vor allem, wenn man hinten liegt. Alle regen sich auf? Spielverderber?

Nein, diesem kollektiven Druck beugt man sich nicht. Man interessiert sich nicht für schnöde Ergebnisse. Man folgt weder einer Ansage noch einer Gruppe. Also einfach stoisch das Gamepad weglegen und gemessenen Schrittes in den Keller gehen. Oder wieder ganz souverän aus dem Fenster sehen. Danach was fressen. Und ganz ausgiebig verlagerungsdösen.

So entsteht ein fester Tagesablauf mit vielen Überraschungen für die ganze Familie. Das Leben besteht aus so einigen Tiefpunkten und Rückschlägen. Die Kunst ist, die Zeit dazwischen zu genießen.

Vielleicht mal wie eine Katze.


Jörg Luibl
Chefredakteur

 

Kommentare

Baralin schrieb am
Oft finde ich die Themen der Kolumnen für eine Gamingseite zu abseitig. So wie diese hier.
herrdersuppen schrieb am
Sollten sich mal mehr Menschen an der Katze ein Beispiel nehmen. 12 Stunden Schlaf für jeden und die Welt wäre ein Stückchen unaufgeregter und besser.
Alan Riplay schrieb am
Sehr cool und unterhaltsam geschrieben! Danke dafür!
Easy Lee schrieb am
Kannste in mein derzeitiges Leben copy & pasten. Sitzt fast passgenau.
schrieb am