Das schöne Spiel
Einfach mal den Hammer wegstecken und die Kamera drehen. Einfach mal den Ball artistisch streicheln, statt ihn ins Tor zu prügeln. Einfach mal in aller Ruhe das schöne Spiel genießen.
Nichts gegen den Wettbewerb - im Gegenteil: Der Kampf um den Sieg gehört zur DNA des Spiels. Er sorgt für Motivation, Spannung und Spaß. Aber manchmal wird daraus auch ein Krampf, wenn das Gewinnen zur totalen Maxime wird.
Das gehört natürlich auch zur Spielkultur: Das Ausreizen der Spielwelt zum eigenen Vorteil, durch Wände zu schießen und Glitches zu nutzen, damit der Boss endlich fällt. Wir sind digital immer noch dieselben Jäger und Sammler, die schon in der Steinzeit Energie sparen, trotzdem fett werden und sich weiter fortpflanzen wollten. Das minimal Effiziente verdrängt das maximal Mögliche.
Man kennt das ja aus dem Alltag: Der Tritt in die Eier, statt Tigertechniken im Hun Kuen Kung Fu. Die Currywurst an der Bude, statt zuhause Kurkuma, Pfeffer, Chili, Kreuzkümmel, Ingwer, Koriander & Co zu zermahlen, den Grill anzuschmeißen und eine verflixte Debatte mit seinem Klimagewissen zu riskieren. Oder um wieder ernst und digital zu werden: Es geht um das schnelle Abgreifen von Beute und Boni, die sich einem anbieten - auch wenn man alleine spielt. Warum? Weil man es kann. Weil Gelegenheit eben Diebe macht. Weil wir darauf konditioniert sind, uns einen Vorteil zu verschaffen. Und das wissen nicht nur 2K Games. Oder die Goodgames Studios.
Dabei kann das Schöne eines Spiels in der Hektik des Abgreifens untergehen. Man muss auch mal in Ruhe etwas wirken lassen. Was heißt das, das Schöne? Ich meine nicht das rein Visuelle, obwohl das natürlich dazu gehört. Damit meine ich im weitesten Sinne die ästhetische Seele eines Spiels, die weit unter der Ebene des Erfolgs verzaubern kann.
Sie ist nicht universell definierbar, nicht exakt greifbar, weil es natürlich um die Verstärkung der eigenen Vorstellung des Ästhetischen geht - also um zig höchst persönliche Reflexe. Irgendetwas sorgt vielleicht dafür, dass man in einem Spiel innehält oder einfach nur den Moment genießt. Oder dass man ganz unabhängig von Sieg oder Niederlage etwas Besonderes ausprobiert, einfach weil es schön aussieht. Manchmal dreht man nur die Kamera, um eine Stimmung aufzusaugen. Das kann aber auch eine filigrane Körpertäuschung samt Finte in einem Fußballspiel wie
eFootball PES 2020 sein, die man für den Sieg gar nicht braucht, aber die man im Strafraum in all ihrer Eleganz so selten sieht, weil sich auch digital alle so über den Platz scheuchen wie in der Realität.
Das Gegenteil zum kollektiven Pressen der Bundesliga steckt im portugiesischen Begriff des "Joga Bonito", des schönen Spiels, der mit dem Fußball der Brasilianer rund um Sócrates der 80er Jahre verknüpft wurde - auch da war eine eigene Ästhetik spürbar, die das Publikum unabhängig vom Sieg "beseelte".
Können Videospiele beseelen? Klingt religiös, ist aber psychologisch gemeint. Einige Spiele offenbaren in bestimmten Situationen einen begeisternden Charakter, bauen eine digitale Präsenz auf, die über "stimmungsvolle Atmosphäre" hinaus geht. In GreedFall entsteht z.B. nur punktuell durch das Zusammenwirken von Musik und Kulisse in mir so etwas wie Mantel&Degen-Flair, so dass ich mich gerne umsehe. Aber sobald die Kisten funkeln und die Leute nicht reagieren, entsteht ein Bruch.
Wie individuell diese Wirkung ist, zeigt sich auch, wenn man Spiele vergleicht, die an der Oberfläche nahezu identisch designt sind, vielleicht sogar ähnliche Defizite haben: Obwohl es bei dem einen funkt, lässt einen das andere kalt. In Red Dead Redemption 2 fühlte ich mich teilweise vor Ort, während ich in Assassin's Creed Odyssey immer an der Oberfläche surfte. In Darkest Dungeon knisterte es, während ich in Vambrace gähne.
Sowohl Lords of the Fallen als auch Dark Souls entführen in düstere Fantasywelten mit gnadenlosen Kämpfen. Aber nur das Abenteuer von From Software erzeugte diese äußere und innere Anziehungskraft, die über das Visuelle hinaus ging und mich ästhetisch begeisterte. Selbst wenn nichts passierte, bekam ich manchmal Gänsehaut.
Dass das nicht nur auf persönlichem Geschmack beruht, sondern auf der Kunstfertigkeit der Entwickler, die eine markantere Vision einer Welt erdenken und umsetzen können, zeigt sich auch an Verstärkungen innerhalb einer Studiovita. Den Höhepunkt erreichte das schöne Spiel der Soulsreihe in Bloodborne. Auch ein Journey, ein Gris oder ein Hollow Knight sorgen für eine starke Resonanz bei mir, die nicht nur die
Macht des Artdesigns demonstriert.
Es geht um ein audiovisuelles Artdesign, das die digitale Spielrealität so vertieft, dass all das zusammen eine lebendige Ausstrahlung erreicht. Dazu gehören Stimmen, Töne und Kompositionen, all die emotionale Resonanz der Musik. Dann erlebt man mehr als stimmungsvolle, vielleicht sogar magische Momente. Die verbergen sich aber auch in kleinen eleganten Aktionen, die innerhalb eines hektischen, auf Sieg gertrimmten Wettbewerbs für besondere Augenblicke sorgen.
So entsteht entweder situativ oder innerhalb einer Welt eine Behaglichkeit und Freude, die mir seit meiner Kindheit nur das schöne Spiel vermitteln kann.
Jörg Luibl
Chefredakteur