Kolumne

hundertprozent subjektiv

KW 15
Freitag, 16.04.2010

Pixels Bruder - Faszination Brettspiel


Er sitzt auf der Couch und starrt die Wand an. Vor ihm schwebt ein großes schwarzes Loch - 50 Zoll im Durchmesser, tausende Euro schwer, mit hoch definierten Höllenmaschinen goldverkabelt. Aber es kommt einfach kein Spaß mehr heraus. Die Leere des Bildschirms hallt seit zwei Tagen wie ein Echo in seiner Brust. Selbst die Lüfter schweigen betreten.

Seit Jahren ist er Spielefresser, jagt Highscores und Trophäen und jetzt sowas! Das ganze virtuelle Klimbim kommt ihm schal vor. Er hat keine Lust mehr auf den digitalen Scheiß. Vielleicht ist das eine Art Gameover-Syndrom?

Plötzlich klingelt es. Pixel steht auf und schlurft zur Tür. Als er sie öffnet, wird er vom grellen Tageslicht fast geblendet - davor zeichnen sich die schwarzen Konturen eines breitschultrigen Mannes ab. Erst will er dem blöden Vertreter die Tür vor der Nase zuknallen. Aber als dieser Kerl den Hut zieht, überkommt ihn ein nostalgisches Déjà-vu: Hey, ist das nicht...? Das kann doch nicht...? Bevor er ihn erkennen kann, spricht der Mann die magischen Worte:

"Hallo Pixel, kleiner Bruder!"

"Mensch Brett, großer Bruder!"

Die beiden stehen ein paar Sekunden wie erstarrte Kulturgeschichte auf der Türschwelle: Der Jüngere mit schräg sitzender Kappe, ausgefranster Jeans, Headset und knallrotem Castlevania-Shirt; der Ältere mit gebügelter Cordhose, Stetson, Hornbrille, grau meliertem Seitenscheitel und braunem Koffer. Die Verwandtschaft ist auf den ersten Blick nicht unbedingt greifbar.

Pixel überkommt nach der Überraschung zunächst die Scham: Verdammt, wie alt und spießig sieht der bloß nach all den Jahren aus? Da liegt ja sogar Staub auf seinem komischen Hut! Und dann beginnt eine verloren geglaubte Eifersucht in ihm zu brodeln. Dann spürt er diesen historischen Stachel.

"Na, dann komm mal rein, Alter! Lange nicht gesehen..."

Der ältere Mann schleppt sich und seinen Koffer steif herein, schaut sich unsicher um. Seine Blicke treffen die sanft summenden Neonröhren und die in den Ecken kauernden Kabelschlangen, all die flirrenden Disc- & Box-Türme, umgekippten Ladestationen, dazwischen Chipsreste und zig abgegriffene Controllerleichen am Boden. Dann erkennt er das mattschwarze Loch an der Wand. Stumme Boxen warten davor wie Riesen auf ein Kommando.

"Schön schummrig hast du es hier."

"Jep, ist schon cool. 5.1. mit Surroundsound. Wo bist du eigentlich all die Jahre gewesen? Was hast du bloß gespielt?"

"Och, ich...ähm...wo...also Senet in Ägypten, Mühle in Italien mit ein paar Senatoren, Indien wegen Pachisi, China, Go und so. Auch Amerika. Mit dem Zug. Habe überall mit Würfeln und Figuren zu tun gehabt. Du weißt schon: Ludologische Experimente."

"What the fuck? Du quasselst wie mein verrückter Mathelehrer! Wieso hast du nicht mal ne SMS oder Mail geschickt? Du hast ja nicht mal Twitter oder ne Facebookseite! Ich dachte, du bist das berühmte Brett!"

"Entschuldigung. Ich weiß, ich weiß. Ich komm mit dem Zeugs einfach nicht mit. Mir reicht dieser Wikipedia-Eintrag. Bin da wohl konservativ veranlagt. Aber ich habe einen Prototypen dabei, in dem physische und virtuelle Welt in einem...ähm...könnten wir das mal..."

"...ich hab mich von Pong bis Crysis alleine durchgeschlagen, war auf Internaten von Atari über Amiga bis Dreamcast und werde immer zwischen allen Stühlen hin und her gerissen! PC, PS3, 360, Wii! Selbst die scheiß Handys sind am Start!"

"Hey, Pixel, so schlimm ist es doch nicht..."

"Nicht schlimm? Sag mal, rallst du noch, was um dich herum passiert, Alter? Ich hatte nie ein festes Zuhause! Ich wurde zur Primetime als Amokläufer diskriminiert, während du dich jahrhundertelang durch die Weltgeschichte gewürfelt und auf allen Tischen breit gespielt hast! Der gute Onkel Brett tut ja keinem weh, aber der böse Pixel schon!"

"Aber die deutsche Jugendschutzhysterie hat mich damals auch erwischt: Wusstest du, dass das 1957 in Frankreich erschienene Risiko tatsächlich in Deutschland auf den Index sollte? Erst als man aus dem "Erobern" und "Vernichten" das politisch korrekte "Befreien" machte, durfte die Welteroberung mit Plastikarmeen hierzulande stattfinden."

"Ja, aber das ist doch nicht vergleichbar! Ist auch egal. Deine Zeit ist sowieso vorbei - ich bin jetzt der King! Hast du mein Video auf YouTube gesehen? Da waren all meine Kollegen drauf, selbst Donkey Kong!"

"Meine Güte, du schießt ja aus der Hüfte wie Jesse James, Pixel!"

"Nein, wie Max Payne. Oder Marcus Fenix. Du bist einfach zu alt, Brett."

"Beruhige dich doch erstmal. Ich wollte ja nur fragen, ob du etwas Zeit und Platz für mich hast. Ich habe in diesem Koffer ein physioholografisches Experiment, das die Welt..."

"Ich checks einfach nicht. Willst du etwa wieder einziehen? Das kannst du dir abschminken! Das klappt nach all den Jahren nicht - in den 80ern hatten wir auch kein Glück! Erinnerst du dich an dieses pädagogische Elektrospielzeug mit Leuchtdioden oder den Klugen Otto? Alles Bullshit! Ich wollte Centipede, Frogger und Missile Command! Wir sind einfach zu unterschiedlich - ich bin Pixel, du bist Brett, versteh das endlich!"

"Ähm...also...verstehe. Ich hab aber in all den Jahren nachgedacht. So verschieden sind wir vielleicht gar nicht. Wusstest du, dass Sid Meier mal mit Strategie fürs Regal angefangen hat? Und dass es von Baldur's Gate zunächst einen Prototypen auf dem Brett gab?"

"Ach, hör auf! Was verstehst du schon von fraggen, leveln, upgraden? Von Pings und Serverdowns? Von Role-playing und Raids, hm?"

"Also abschießen, aufsteigen und aufrüsten kannst du mittlerweile auch bei mir. Schon längst wird auf dem Brett à la Doom geballert und à la Die Siedler aufgebaut. Schon längst gibt es auch am Tisch zahlreiche kooperative Spiele - sogar Horror. Und egal ob The Bard's Tale anno 1983 oder Dragon Age anno 2009: Beide wären ohne Dungeons & Dragons aus der Feder des Gary Gygax nicht denkbar! Und weißt du was? Ich hab das neue Rollenspielzeitalter dabei!"

"Fühlst du dich jetzt kulturgeschichtlich überlegen? Oder willst du dich bloß einschleimen? Ich werde doch immer nur auf den fucking Shooter reduziert, während du hier rumphilosophierst."

"Na und? Sei stolz auf ihn! Selbst wenn es heutzutage mit Medal of Honor nach Afghanistan geht, ist das aus kulturgeschichtlicher Perspektive nichts Neues: Schon im 19. Jahrhundert versuchte man populäre Themen zu bedienen, indem man gezielt Spiele mit aktuellem Bezug wie etwa zu den Kolonialreichen oder Nansens Nordpolfahrt entwickelte. Es gab sogar Propagandaspiele wie 'Oh, welche Lust Soldat zu sein!' oder 'Wehrschach Tak-Tik'"

"Sollen das etwa Argumente für mich sein? Dass es unter Adolf auch Kriegsspiele gab?"

"Oh, ähm...stimmt, da bin ich jetzt wohl etwas zu weit galoppiert. Aber ich habe auch so viele Sachen im Kopf. Und der Koffer..."

"Ja, das passiert dir öfter. Und ich hab jetzt keine Lust mehr auf diesen Kram. Mir geht das alles auf den Sack. Ich hab auf überhaupt gar nichts mehr Bock."

"Hey, Pixel."

"Ja?"

"Was ist denn bloß los? Und warum ist dein Tempel so dunkel?"

Beide schauen auf die Wand, auf den Bildschirm und die bulligen Boxen. Brett schlendert zwischen Couch und Fernseher, als würde er Maß nehmen. Dann murmelt Pixel in sich hinein:

"Es ist nur...ich habe keinen Spaß mehr am Spiel."

"Oh. Ja, das kenne ich. Als ich mit Napoleon in Schlesien festsaß, musste ich mal drei Wochen am Stück Backgammon mit ihm spielen. Er hat jede Partie gewonnen. Danach hatte ich auch ein schwarzes Loch in der Brust. Aber dagegen gibt es ein Hilfsmittel."

"Ach ja? Was denn?"

"Ein neues Spiel!"

Plötzlich erhebt sich Brett mit funkelndem Blick, schmeißt seinen Trenchcoat auf die Couch und wuchtet den Koffer genau zwischen die Boxen, genau vor den schwarzen Bildschirm. Als er ihn mit einem Ruck öffnet, schwebt eine Art gleißende Discokugel an die Decke und taucht eine Fläche darunter in warmes Licht. Zunächst sieht man nur einen blauen Dunst und spürt eine Art Luftfeuchtigkeit. Dann wird eine dreidimensionale Spielwelt mit sanft ins Terrain gelaserten Hexfeldern sichtbar, die wie übergelaufene Milch ins Wohnzimmer fließen. Brett nestelt nervös an seinem Koffer herum und reicht Pixel ein Kabel.

"Könntest du das bitte mal in deine Anlage stöpseln?"

"Klaro."

Jetzt weht auf einmal Wind durch die Felder und die Wälder rauschen aus den Boxen. Man hört Schafe blöken und Kinder lachen. Irgendwo hämmert ein Schmied und in einer Höhle kann man für einen Augenblick ein flammendes Augenpaar erhaschen. Unter den Wiesen zeichnen sich Labyrinthe ab, die mit Stollen verbunden sind - ein gepanzertes Monster verfolgt einen Arbeiter, ein Ritter prescht aus einem Tor. Irgendwo in der Ferne kreischen fliegende Kreaturen. Das sieht aus wie ein bewegtes Miniaturwunderland.

Pixel geht langsam auf diese Welt zu. Er hält seinen Finger wie ET in die Nähe eines düsteren Turms mit zerfetzter Fahne, die im Wind hin und her klatscht. Als er sie berührt überkommt ihn eine Gänsehaut: Er kann den Stoff fühlen, er kann den Wind riechen.

"Als was willst du durch diese Welt reiten, Bruder? Das ist zwar ein Brett, aber du bist richtig drin, verstehst du? Wie in deinen Spielen! Ich werde ein Paladin sein!"

Kaum hat Brett gesprochen, funkt es kurz und er verschwindet wie eingesaugter Goldstaub in der Spielwelt. Auf einer Wiese materialisiert er sich in prächtiger Rüstung und winkt seinem Bruder zu. Dann erscheint über der Spielwelt ein edles Menü:

Choose your character.

Pixel spürt wieder diese magische Neugier.

Er lacht, er wählt und spielt.



Jörg Luibl
Chefredakteur

 

Kommentare

Xanija schrieb am
Ich würde eher für den Webmaster sammeln, wenn hier auf einmal eine fast 3 Jahre alte Kolumne wieder auf die Hauptseite kommt. Aber das erleben wir ja komischerweise hier regelmäßig. Weiß zwar nicht warum, aber irgend jemand wird sich da wohl etwas dabei denken... vielleicht...
Michael J. fox schrieb am
Ach Jörg,
wie können wir endlich mal für dich sammeln damit wir dich in die "Dan Brown Schule für angewandtes Schreiben" schicken können?
Wir beobachten dich ja schon einige Zeit und können sagen, ja, er bemüht sich.... aber manchmal ist dies einfach nicht genug.
Cpt. Trips schrieb am
Der Link zum Pixel-Video geht nicht.
Wuschel666 schrieb am
Ich liebe Brettspiele und Pen & Paper RPGs. Einfach en guten abend mit freunden an nem. Ich liebe das. Klar zock ich auch sehr gern und viel aber auch brett und rollenspiele würd ich auch nicht verzichten wollen.
Das macht 4players eifnach sehr sympathisch, dass solche kolumnen hier geschrieben werden, dass redakteure selber mal pen & paper gespielt haben und auf brettspiele stehen und dass sogar brettspiele hier seperat erwähnt werden. Tolle sache!
schrieb am