Schatzjäger und Spaßsucher
Archäologen tragen einen Schlapphut, schwingen die Peitsche und lassen im Ernstfall den Revolver knallen. Sie haben immer einen coolen Spruch auf den Lippen oder ein Rätsel vor Augen. Andere sind perfekt geschminkt, tragen einen Pferdeschwanz und kriechen lasziv durch Tunnel. Sie haben im Examen mit strammen 90-60-90 brilliert und schon als Teenager olympisches Gold im Doppelsprung samt Salto geholt.
Und dann der Arbeitsalltag: Katakomben öffnen, Schätze heben, Schurken töten - ein Traumjob für harte Hechte und sexy Babes. Die Indiana Jones- und Tomb Raider-Abenteuer haben den Grundstein für das Image des heroischen Haudegens gelegt. Okay, es gibt Ausnahmen, wie z.B. den schluffigen Tschechen aus
Nibiru . Aber in der Regel sind sie chronisch unrasiert, haben die Taschen voller vergilbter Karten und fliegen um die halbe Welt, um Geheimnissen auf die Schliche zu kommen.
Erst der Gang durch die trostlosen Flure einer deutschen Universitätsfakultät offenbart die nüchterne Wahrheit. Wer sich traut, in der lastenden Stille an eine der Türen zu klopfen, wird die wahren Meister der Archäologie entdecken: Bücherwürmer, Bürohengste, Bleichgesichter. Grauer Sakko, Bierbauch, Augenringe. Müder Blick, tippende Finger, Zigarette. Die Erben Schliemanns. Vertikale Stratigraphen, relative Chronologen und typologische Rudimentsucher. Es sind diese akribisch schuftenden Wissenschaftler, die die Schätze der Erkenntnis heben.
Was wir Spieler davon haben? Jede Menge! Man denke an all die historisch angehauchten Adventures, Action- und Strategietitel, die uns für einige Stunden in vergangene Epochen entführen. Es ist der Zauber der Zeitmaschine, die Macht des Vergangenen, die uns fesselt. Was wäre
Age of Empires , wenn die Ensemble Studios nicht auf wissenschaftliche Ergebnisse der Archäologie und Militärgeschichte hätten zurückgreifen können? Was wäre
Rome: Total War , wenn Creative Assembly nicht die Strukturen, die Bewaffnung und die Ausrüstung der Legionen nachgeschlagen hätte? Viele Entwickler sind auf die Früchte der Forschung angewiesen, um glaubwürdige Illusionen zu zaubern.
Spiele mögen sich viele kreative Freiheiten nehmen, aber sie können das historische Bewusstsein schärfen und Wissen vermitteln. Wer
Civilization 3 kennt, wird die sieben Weltwunder aufzählen und die Sumerer nicht für einen Indianerstamm halten. Wer in
Europa Universalis II regiert, wird die Rosenkriege und die Preußen einordnen können. Wer in
Hearts of Iron II die Fäden zieht, wird etwas über den Frontverlauf des Zweiten Weltkriegs erfahren.
Natürlich geht es virtuell in erster Linie um Schlachten, Völker und Truppen. Aber auch martialische Szenarien wecken vielleicht die Neugier im Spieler, selbst nachzuforschen, wo knallharte Fakten und wo butterweiche Fiktion über den Bildschirm flimmert: Hatten die Wikinger tatsächlich Hörner an ihren Helmen? Gab es eine germanische Siedlung Bordesholm? Wieso hießen die Rosenkriege Rosenkriege? Sobald man diesen Fragen nachgeht, wendet man eine wissenschaftliche Methode an: die Recherche.
Der Zocker wird für ein paar Google-Minuten zum Erkenntnisjäger. Archäologen sind ein Leben lang auf der Suche nach Zeugnissen vergangener Kulturen, wühlen in der Erde nach Kleinoden und freuen sich, wenn sie eine beschriftete Tonscherbe finden. Jeder Fund ist ein Teil in einem großen Puzzle. Sie lassen es nicht mit der Peitsche, aber dafür mit Theorien krachen: Die Himmelsscheibe von Nebra hat in der Presse mehr Staub aufgewirbelt als Half-Life 2 und Halo 2 zusammen. Das Duo Hype und Fake spielt nicht nur in der Spielewelt eine Rolle. Und in einem hat Indiana Jones trotz aller Klischees den Nagel auf den Kopf getroffen: Archäologen sind Jäger der verlorenen Schätze.
Sind wir Zocker das nicht auch? Sind wir nicht auch ständig auf der Pirsch nach dieser ersten Faszination, die uns als Kinder mit großen Augen die Zeit vergessen ließ? Mein erstes Atari 2600 wirkte anno 1982 wie ein mystisches Artefakt auf mich. Es strahlte mich an wie ein fremdes Relikt. Da war dieses Herzklopfen, dieses ungläubige Staunen, dieser unsichere Griff zu dem, was ein Gamepad sein sollte, aber wie ein Schraubendreher aussah. Als Pac-Man und Missile Command liefen, habe ich mich wie ein Entdecker auf einem neuen Kontinent gefühlt. Und bin bis heute dageblieben...
Aber lassen wir die Sentimentalitäten: Archäologen und Spieler trennt viel. Die einen
sind geduldige Wissenschaftler, die anderen gefräßige Spaßverschlinger. Zwei grundverschiedene Spezies. Aber sie haben ein paar Kleinigkeiten gemeinsam: Beiden hängt ein Image an, das nichts mit der Realität zu tun hat. Beide suchen leidenschaftlich neue Schätze. Beide schwelgen gelegentlich in alten Legenden, um ihre Quest zu erfüllen. Die einen werden bis nach Troja, die anderen bis zum Abspann geführt. Das Glücksgefühl kann an der Küste Kleinasiens dasselbe sein wie im Bottroper Sessel.
Jörg Luibl4P|Chefredakteur