Kommentar

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KW 05
Dienstag, 02.02.2021

Google, das ungeduldige Riesenbaby


Als Stadia im März 2019 präsentiert wurde, war das öffentliche Interesse enorm. Zwar wollte sich da neben Microsoft, Apple, Facebook und Amazon nur ein weiterer der "Big Five" in der Spielewelt etablieren - aber Google schien die Macht und den Willen zu haben, das globale Zocken zu verändern. Es war sogar eine gewisse Angst unter traditionellen Spielern spürbar. Als die ersten Infoblitze aus den Wolken zuckten, rochen einige sogar den Qualm der alten Ära: Konsolen? PC? Das war einmal...

Immerhin ging es nicht nur um Spiele-Streaming, das selbst Doom Eternal in 4K mit 60 fps, sondern irgendwann in 8K mit 120 fps liefern sollte, sondern um die Anbindung an das mächtige YouTube, inklusive Soforthilfe bei Sackgassen sowie automatisierter Hilfen. Und ganz wichtig: Es sollte exklusive Spiele aus eigenen Studios geben. All das unter der Mithilfe von Phil Harrison und Jayde Raymond, also erfahrenen Leuten, die u.a. bei Sony, EA und Ubisoft tätig waren.

Stadia wirkte im Vergleich zu Apple Arcade oder Amazon Games wie ein ganzheitliches Konzept mit langfristiger Planung und klarem Fokus. Wie jemand, der im neuen Krieg der Spiele gewinnen will. Waren da zukünftig etwa auch Spiele à la The Last of Us oder Assassin's Creed in der Pipeline? Man weiß es nicht. Letztlich war das nur ein Gewitter, aus dem ein mittelmäßiges Spielchen namens Gylt tröpfelte, das übrigens nicht von einem eigenen Studio stammte.

Aber kaum mehr als ein Jahr nach dem Start im November 2019 hat die 323 Milliarden Dollar schwere Alphabet-Tochter die Entwicklung eigener Spiele eingestellt. Das klingt angesichts der finanziellen Macht der viertwertvollsten Marke der Welt wie ein peinliches Eingeständnis. Um es zu überspitzen: Elon Musk schickt Satelliten und bald Touristen ins Weltall und Google kann nicht mal Spiele entwickeln?

Natürlich hinkt der Vergleich. Aber manchmal wird aus gefühltem Größenwahn tatsächlich etwas Greifbares. Auch Sony wurde 1994 mit seiner PlayStation belächelt, als Nintendo und Sega den Videospielmarkt dominierten. Aber sie hatten sowohl technologisches Know-how als auch eine Hingabe für die eigenen Spiele und vor allem eine bessere Strategie: Während Google nur das namhafte Management, aber kein namhaftes Studio einkaufte, investierte Sony damals u.a. in Psygnosis, die zum Start mal ein WipEout servierten.

Allerdings ist Stadia kein Standbein, sondern ein Experiment für Google, das man sich leisten kann. Und scheinbar hat man plötzlich festgestellt, dass die damit verbundene Entwicklung eigener Spiele keinen Gewinn verspricht. Moment mal: Widerspricht das nicht allen Marktanalysen, die der Spielebranche nahezu sicheres Umsatzwachstum attestieren? Schließlich haben auch Amazon, Apple und Facebook investiert. Und hatte Sony nicht mit exklusiven Spielen in den letzten Jahren so viel Erfolg? Hat nicht Microsoft kürzlich Bethesda gekauft? Beweist Nintendo nicht mal wieder, dass man selbst als technologischer Underperfomer mit eigenen Spielen erfolgreich sein kann? Investiert nicht Tencent weltweit in Studios? Plustern sich nicht gerade alle mit dem Kauf von Lizenzen und Entwicklern auf?

Ja, aber all das zeigt auch, wie hart umkämpft der Wettbewerb ist. Und wie schwierig es ist, erfolgreiche Spiele zu entwickeln. Vor allem, wenn man sich zum Ziel setzt, wirklich exklusive Unterhaltung auf höchstem Niveau anzubieten. Dazu braucht man nicht nur "Prominenz" wie Harrison & Raymond, sondern erfahrene Spieldesigner, die besten kreativen Leute, ein motiviertes Team und vor allem eine Strategie, die Geduld und Hingabe bedingt. Man sollte im Idealfall mit kleineren Projekten beweisen, dass man etwas kann und sich dann steigern. Ein Rockstar oder Naughty Dog aus dem Boden stampfen? Viel Spaß.

So gewöhnlich es in der Tech-Branche auch ist, dass man Projekte, die nicht abliefern, wieder einstellt, so bezeichnend ist es auch, wie ungeduldig, naiv und großkotzig Google an Stadia herangegangen ist. Und so seltsam das klingt: wie wenig leidenschaftlich. Schon die ersten PR-Veranstaltungen wirkten wie sterile Alien-Übertragungen mit der kalten Botschaft: Wir haben die Ressourcen, wir haben das Geld, wir kaufen das Know-how und servieren euch bald die besten Spiele! Aber einige Dinge kann man eben nicht kaufen: Geduld. Hingabe. Tradition. Leidenschaft. Ein Spiel ist (im Sinne des Erfinders) kein Shop, kein Service, kein Produkt - sondern ein künstlerisches Projekt, das wachsen muss. Und die erfolgreichsten Titel haben meist Wurzeln, die weit zurückreichen.

Natürlich kann es auch von null auf hundert gehen, man denke an Minecraft oder Fortnite. Aber das sind Ausnahmen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen den Zeitgeist treffen. Die große Mehrheit der erfolgreichen Spiele, gerade all jene im Triple-A-Bereich, knüpfen letztlich an etabliertes Spieldesign an und führen es fort. Doch was so simpel wie das Kopieren klingt, ist eben weit mehr und unheimlich komplex in seinen Abläufen, zumal Technologie, Kreation und Vision so ineinander greifen müssen, dass letztlich etwas so Charakteristisches wie Demon's Souls, danach etwas so Erfolgreiches wie Dark Souls und daraus gar ein regelrechter Boom wie all die Soulslikes entsteht.

Das wird heutzutage immer schwieriger, weil im Gegensatz zu den 80ern und 90ern quasi alle Genre "erfunden" sind, weshalb man gerne an die alten Traditionen anknüpft und diese neu auflegt - was wiederum Lizenzen oder im besten Fall sogar die Erfahrung der alten Hasen von damals bedingt. Im Gegensatz zu Sony in den 90ern muss sich Google natürlich in einem mit Spielen überfluteten Markt beweisen, in dem es sehr schwer ist, eigene Marken zu etablieren, selbst wenn man die Erfolgsformel der Konkurrenz so leicht dechiffrieren kann.

Wie anspruchsvoll das ist, musste auch Amazon Games feststellen, das immerhin seit 2014 mit mehreren Studios von Washington bis London aktiv ist - und erst 2019 mit vielen Entlassungen "restrukturiert" wurde. Der letztes Jahr veröffentlichte Shooter Crucible, ein Mix aus Fortnite und League of Legends, war ein Flop. Das 2016 angekündigte Online-Rollenspiel New World wurde immer wieder verschoben und soll im Frühjahr starten - die Zeichen für das zweite Prestige-Projekt stehen auf: Flop. Aber selbst das wäre mehr als das, was Google in diesem Bereich geleistet hat. Und Amazon hat zumindest interessante Ideen und einen längeren Atem.

Bei all dem darf man aber nicht vergessen, dass Stadia nicht gescheitert ist - im Gegenteil: Streaming funktioniert. Streaming ist günstiger und für einige komfortabler als klassisches Zocken. Auch technologisch liefert man ab, denn im Gegensatz zum Wettbewerb wie PlayStation Now gibt es sogar ein HDR-Signal und 5.1.-Sound. Die meisten Spiele laufen sauber, selbst wenn sie hohe Ansprüche stellen - Cyberpunk 2077 erreichte fast die Qualität von PlayStation 5 und Xbox Series X. Und auch Hitman 3 läuft nicht nur flüssig, sondern ermöglicht mit "State Share" ein cooles Feature - man kann einem Kumpel den aktuellen Status schicken, der u.a. mit der bis dato freigespielten Ausrüstung sowie Szenarien loslegen kann.

Auch wenn Hardcore-Zocker natürlich abwinken und z.B. auf die Latenz verweisen, muss man Google attestieren, dass sie für einige Spieler den optimalen Service und noch offene Potenziale haben - auch wenn man über 8K und 120 Bilder pro Sekunde im Jahr 2021 nur müde lachen kann. Also: Es wird mit Stadia weitergehen. Zumal man gerade erst eine Kooperation mit LG angekündigt hat, so dass man zum ersten Mal direkt auf den Bildschirmen zocken kann -  ohne eine zusätzliche Hardware wie Chromecast Ultra. Aber das wird nicht exklusiv bleiben. Und wie lange hält sich Stadia dann?

Es kann sein, dass Googles Streaming auch ohne eigene Spiele in Bedrängnis gerät, denn ein anderer der Big Five hat da einige Trümpfe in der Hand: Microsoft mit der xCloud. Aktuell kann man über den Game Pass (Spiele-Abos im Vergleich) schon auf die Cloud zurückgreifen, aus der Titel wie Halo allerdings nur mobil und noch nicht auf den TV gestreamt werden. Genau daran arbeitet man, es soll schon dieses Jahr losgehen. Und sobald man hunderte Xbox- und PC-Spiele auf seinen 4K-Bildschirm laden kann, braucht man Stadia wofür? Was präsentierte man noch 2019 auf Stadia: Doom Eternal von id Software? Tja, das und so einige andere Titel kommen zukünftig wohl nur aus Redmonds Wolke...

Zudem gibt es ja weitere Angebote wie GeForce Now oder PlayStation Now, zumal da auch noch Shadow lauert, quasi als kompletter PC-Ersatz. Und trotz aller Flops mit eigenen Spielen ist da ja erst im September 2020 auch noch Amazons Luna angekündigt, das sich samt eigenem Gamepad stark an welchem Service orientiert? Richtig: dem von Google.

Warum sollten Spieler also in Zukunft auf Stadia vertrauen? Zumal mit der Schließung der eigenen Studios natürlich ein herber Image-Verlust für den Tech-Riesen einhergeht. Google bestätigt das Bild des ungeduldigen Riesenbabys, das der Welt sein tolles Spielzeug präsentiert, nur um es dann in die Tonne zu werfen.

Einige werden erleichtert seufzen. Einige werden sagen, dass sie es geahnt haben. Aber zu betrauern gibt es für Spieler letztlich nichts. Denn da war ja auch nichts. Und Streaming wird - mit oder ohne Stadia - ein Teil der modernen Spielewelt bleiben.


Jörg Luibl
Chefredakteur

PS: Den Kommentar gibt es in abgewandelter Form auch als Video.

 

Kommentare

Kamerad Greenberg schrieb am
Ich schreibe nur: Toller Beitrag Jörg! Es hat echt Spaß gemacht diese Kolumne zu lesen.
Cytasis schrieb am
Meiner Meinung nach hat Stadia nur ein Abomodell gebraucht aller: Ich zahl 10 Euro im Monat und kann kostenlos auch (gute) Spiele zocken, evtl mit + Funktion für die neuesten titel oder so für 5 euro Aufschlag (iwie so).
Bei Stadia hat mich ehrlich gesagt abgeschreckt, dass ich noch Titel zum Vollpreis zahlen muss um sie zu zocken. Bei Steam hätte man ja die Möglichkeit, wenn der Service eigestellt wird, viele Sachen offline zu zocken (Bei Gog kann man sich sogar das ganze Game sichern als Backup). Bei Stadia eben nicht. Ist der Service weg, dann auch alle gekauften Spiele, soweit ich verstanden hab und das ist mir zu doof. Ich will auch nach Jahren evtl. wieder mal Fallout4 oder so zocken.
CritsJumper schrieb am
sourcOr hat geschrieben: ?07.02.2021 16:15 Stadia war halt nicht so erfolgreich wie erwartet, also konnte man die Investition in eigene Spiele nicht rechtfertigen. Das Schließen der Studios war also eigentlich die richtige Entscheidung.
Ich hab das ja schon an anderer Stelle für eine falsche Folgerung gehalten. Der Konzern hat es eben nicht nötig. Er entwickelt lediglich die Technik.
Wie viele eigen produzierte Videos und Serien hast du denn schon bei der größten Videobroadcast-Plattform gefunden?
Es ist doch für diesen Konzern viel besser wenn dritte sogar die Hardware betreiben und bereit stellen um diese via Stadia einzubinden.
Wenn alles gut läuft, läuft es so wie bei der "Suche" und die Konzerne hängen sich freiwillig so ein Reck in das Rechenzentrum um die Inhalte für den Konzern sogar noch auf eigene Kosten zu optimieren und die Daten werden trotzdem raus getragen. Was will man mehr?
Eventuell läuft es noch wie beim normalen Web, und Subdienstleister bieten Kurse an zur Optimierung der Reichweite über diese Dienste, anhand von Esoterik als Reichweitenoptimierung. Zu den Subdienstleistern zählen natürlich auch Influencer.
sourcOr schrieb am
Stadia war halt nicht so erfolgreich wie erwartet, also konnte man die Investition in eigene Spiele nicht rechtfertigen. Das Schließen der Studios war also eigentlich die richtige Entscheidung.
Das ganze Konzept war eben von Anfang an schlecht und ich gehe mal davon aus, dass die Plattform den Studios dann auch folgen wird.
Die Alternative wäre gewesen, seine Spiele auch auf anderen Plattformen anzubieten. Aber nur der Spiele wegen Spiele zu machen stand wohl net zur Debatte.
Drian Vanden schrieb am
dx1 hat geschrieben: ?07.02.2021 01:11 Ich hab die Erklärung, was eine Milchmädchenrechung ist, inzwischen sogar korrekt verlinkt. ;) (Tags und alles war fertig, aber ich hatte die URL nicht reinkopiert. Gute Nacht.)
Ja, alles richtig, hatte ich auch genauso verstanden. Was ich ausdrücken wollte war lediglich: wenn du schon eine Milchmädchenrechnung aufstellst, dann müsste diese Rechnung konsequent auch andere Exklusivtitel miteinbeziehen. Sonst wäre die ohnehin inkonsequente Milchmädchenrechnung auch noch irrigerweise inkonsequent der grundsätzlichen Formel gegenüber, die du ihr vorangestellt hattest. Und da du dir ja doch ein bisschen Zeit und Mühe für den ursprünglichen Post gegeben hattest, wollte ich schlicht nachfragen, weshalb du inkonsequent nur The Last of Us einbeziehst. In anderen Worten: deine Milchmädchenrechnung verlor dadurch an Glaubwürdigkeit.
schrieb am