Nintendos Minispielpanik
Reggie hat
gesprochen. Und er hat tatsächlich ein wenig Angst. Um uns alle. Dabei steht der Mann seit Jahren als gewichtiger Marketingprediger für Nintendo auf der hart umkämpften Bühne des Show Business. In Los Angeles verkauft er als selbstbewusster Zahlenjongleur regelmäßig die strahlende Spielezukunft - eine heile Welt weißer Couchlandschaften, in der friedliche Enkel und fitte Großeltern zusammen spielen. Da ist es so schön, dass selbst David und Victoria Beckham eingezogen sind.
Aber jetzt muss Reggie eine Warnung aussprechen, denn die Idylle wird bedroht. Nicht (in erster Linie) von Sony oder Microsoft, sondern von diesen gefährlichen mobilen Spielen, die nur ein, zwei Dollar kosten. Nintendo hat diese gut getarnten, fast schon mikroskopisch kleinen Titel, jetzt auf dem Radar entdeckt. Sie sind nicht weniger als "eines der größten Risiken in unserer Spiele-Industrie". Oh Schreck - neue Feindbilder nahen! Waren das nicht gerade noch die Raubkopierer, die Shooter oder all die Online-Rollenspiele?
Wie sollen wir, die wir als Spieler scheinbar alle in einem Boot sitzen, das bloß überleben? Erst die kriminellen Killerspiele für große Actionfans, dann die einlullende Breitseite von World of WarCraft und jetzt noch hunderte, nein tausende Nadelstiche von Angry Birds bis rauf zu Doodle Jump! Wieso kaufen Menschen bloß diesen billigen iPhone-Schund? Warum investieren sie ein paar Euro in kleine Independent-Spiele? Wieso kaufen sie nicht ganz große Spiele wie Mario Party 23, Pokémon 24 oder Kawashima 25?
Reggie hat ja Recht: Kleine Spiele sind auf dem Vormarsch. Und der AppStore ist tatsächlich eine Gefahr. Aber sicher nicht für "uns", auch nicht für die Spielkultur, sondern einzig und allein für
Nintendos Umsätze! Schließlich weht den erfolgsverwöhnten Japanern kurz vor dem Start des (verdammt teuren) 3DS etwas Gegenwind entgegen, denn AppStore, Steam & Co verkaufen immer mehr Spiele. Woran das liegt? Weil sie kreativ sind, weil sie frisch sind und weil das Preis-Leistungsverhältnis für viele Leute stimmt.
Reggie hat erneut Recht: Ja, da draußen gibt es Unmengen an kleinen Spielen, die selbst zwei Dollar nicht wert sind. Aber wie viele DS- und Wii-Spiele gibt es, die ihre 40, 50 Euro nicht wert sind? Wie viele überteuerte Klassiker gibt es über Virtual Console? Wie viele Ausgaben von Mario Party gibt es aktuell? Acht? Zehn? Oder schon zwölf? Im digitalen Wettbewerb dürfte dieser Titel maximal zehn Euro kosten, aber Nintendo verlangt das Vierfache - obwohl man sich im AppStore für weitaus weniger Geld eine Minispielsammlung zusammen stellen kann, die auch noch unterhaltsamer ist.
Man hat mit seiner konservativen Strategie nicht nur das Internet als Plattform für Unterhaltung, sondern auch den digitalen Vertrieb und damit den Wettbewerb ein wenig verpennt. Da ist man bis auf die komplette Öffnung seiner Klassiker und etwas WiiWare nicht vorhanden. Wo sind die coolen Minispiele von Nintendo für ein, zwei Dollar? Wo sind kreative Highlights für fünf bis zehn Euro? Wieso jammert man rum, anstatt den Wettbewerb anzunehmen und die eigenen Spiele günstiger zu machen?
Nintendo geht es natürlich nicht schlecht. Aber die eigenen Gewinne schrumpfen seit zwei Jahren, DS und vor allem Wii haben ihren Zenit überschritten. Ist auch kein Wunder, denn beide haben sich weltweit über 200 Millionen mal verkauft - mehr geht fast nicht. Und Nintendo hat eine atemberaubende Erfolgsgeschichte hinter sich, hat die HD-Konkurrenz mit seinem Bewegungskonzept in Grund und Boden gestampft. Man kann über Fitnesswelle, Seniorensoftware, Balance Board und Doktor Kawashima denken, was man will, aber all das hat das Spiel in der Breite der Gesellschaft verankert.
Und genau dazu trägt auch Apple mit seiner digitalen Plattform bei - das mobile Spielen hat an Wert und Kreativität gewonnen, weil frei und ohne Lizenzzwänge entwickelt werden kann. Aber jetzt verliert Nintendo ein wenig die Ruhe, jetzt wird man kurz vor dem Start des 3DS auch noch scheinheilig, wenn man eine Gefahr herauf beschwört, der man selbst mit Qualität begegnen könnte. Was sagte Reggie noch? "Great franchises really motivate consumers to buy the software." Wirklich zu jedem Preis? Wo sind denn die großartigen Markentitel für Wii?
Seit zu vielen Jahren verwurstet Nintendo seine Lizenzmännchen, ohne frische Ideen einzubringen. Mario, Kirby & Co haben sehr viel für die Spielewelt geleistet - gar keine Frage. Aber sie werden so gnadenlos ausgeschlachtet, dass es so langsam muffig riecht. Nintendo muss sich fragen lassen, welche großen Ideen man abseits seiner Maskottchen etablieren konnte? Wo ist frischer Wind? Pikmin war so etwas, aber dann kam herzlich wenig. Und das war 2002.
Die Japaner haben es sich in ihrem Erfolg zwischen Fitness und Gehirnjogging gemütlich gemacht. Ohne die Unterstützung der Dritthersteller mit Abenteuern wie Silent Hill: Shattered Memories oder Micky Epic wäre die Wii längst eine tote Konsole für alle Zocker, die mehr als Körper und Geist fit halten wollen. Nintendo sollte den schwarzen Peter nicht den kleinen Herausforderern zuschustern, sondern große Spiele entwickeln, die den Preis wert sind.
Wenn Aufwand auch etwas mit Kreativität und intelligentem Spieldesign zu tun hat, dann sind die "kleinen Minispiele" nicht selten deutlich aufwändiger als so manche "Großproduktion". Dass Spiele wie World of Goo oder Osmos bei uns besser abschneiden als ein Medal of Honor, Tron Evolution oder Golden Eye, als Mario Party 8, Mario Sports Mix oder Wii Sports Resort, hat auch mit der Tektonik der Spielkultur zu tun - die alten Platten verschieben sich, das kreative Angebot wächst und die Mentalitäten ändern sich.
Wenn sich ein vermeintlicher Drei-Sterne-Koch über den Burger King gegenüber aufregt und die Billigfresskultur kritisiert, dann hat er zwar nicht ganz Unrecht, aber er muss dann auch gehaltvolle Qualität liefern und kein Lizenz-Fastfood. Der Wettbewerb der kleinen Unterhaltung ist eine Herausforderung, der sich Sony und Microsoft längst gestellt haben, wie all die kleinen Perlen im PSN und XBL beweisen.
Na los, Nintendo, kann der 3DS für ein Vielfaches an Euros so viel Spaß entfachen wie World of Goo, Plants vs. Zombies, Flower, Trine, Braid & Co? Kann der 3DS für den happigen Preis von 250 Euro mehr als Klassiker durch den 3D-Wolf drehen? Und was hat Wii dieses Jahr noch für 50 Euro zu bieten, wenn anspruchsvolle Spiele wie Portal 2, Dark Souls, L.A. Noire, The Witcher 2 oder Deus Ex: Human Evolution auf PC, 360 und PS3 erscheinen?
Es gibt keine Gefahr für die Spielewelt - im Gegenteil: Es gibt mehr Vielfalt. Und es gibt mehr Konkurrenz für Nintendo.
Jörg Luibl
Chefredakteur