Apokalyptisches London
Trotz des schwachen Einstiegs nimmt die Geschichte bald Fahrt auf, zumal die dahin siechende Stadt eine morbide Anziehungskraft verströmt. Auch wenn das Artdesign nicht an die Qualität von
Remember Me herankommt, wo Dontnod in begrenzteren Arealen noch ein besseres Gespür für Kleinigkeiten sowie subtile Momente bewies, entstehen in dieser fast offenen Welt, in der Ereignisse auf der Karte mit Ausrufezeichen markiert werden, einige stimmungsvolle Szenen, die von sehr gut komponierter Musik begleitet werden. Auch die Soundeffekte von kläglichem Gejammer bis hin zu Schreien oder tiefkehligem Brüllen tragen dazu bei, die technischen Defizite hinsichtlich der Bildrate, Pop-ups sowie steifer Mimik etwas abzudämpfen. Vor allem der nicht in der Distanz wabernde, sondern immer ein paar Meter vor Jonathan auftauchende Nebel auf der PlayStation 4 Pro sorgt für empfindliche Brüche in der Kulisse - und das selbst in menschenleeren Gassen.
Leider kann man in Gebäuden alles mitgehen lassen - auch wenn die Bewohner dabei sind.
Trotzdem erinnern manche Situationen sogar ein wenig an
Bloodborne: Man hält als Vampir schonmal inne, wenn die brutalen Mobs in der Ferne mit Fackeln, Kapuzen und Kreuzen die Straßen abriegeln und jeden bedrohen, der sich ihnen nähert. Zieht man sich nach der Warnung zurück, passiert nichts; geht man weiter, entbrennen hitzige Gefechte. Bürger bewegen sich auch mal von A nach B und betreten Häuser, aber das in sehr begrenzten Routen. Schön ist, wie zögerlich manche ihre Türen öffnen. An dieser Oberfläche werden das Misstrauen und die Angst greifbar...
...nur um dann durch die plumpe Spielmechanik konterkariert zu werden, wenn man im Haus eines Bürgers alles einsacken kann. Unfreiwillig komisch wirken zudem Händler, die mitten in der Nacht ohne einen einzigen Kunden ihre Waren anpreisen. Was heißt "Waren"? Manche haben nicht mal eine Waffe, sondern nur Zutaten, damit das ständige Crafting weiter gehen kann. Realsatire wird so eine Situation spätestens dann, wenn man für eine Zutat beim Händler Geld bezahlen soll, die man im Schrank oder der Tonne neben ihm einfach so abgreifen kann.
Verschachtelte Gassen
Schaut man sich um, fühlt man sich fast wie in einer verschachtelten mittelalterlichen Stadt à la Mordheim mit all den mehrstöckigen Häusern, Balkonen und Simsen. Leider nutzt Dontnod gerade diese Möglichkeiten nicht konsequent aus, denn man wird nicht nur oft von längeren Ladezeiten, sondern hüfthohen Barrieren oder künstlichen Hindernissen aufgehalten. Das ist schade, denn aufgrund der Architektur sowie des vampirischen Teleports fühlt man sich unweigerlich an
Dishonored 2
In den dynamischen Kämpfen hat man es auch mal mit mehreren Feinden zu tun.
erinnert: Sobald man einen hohen Balkon oder entfernten Steg erreichen kann, erscheint das Sprungsymbol - dann beamt man sich so auch wunderbar in die Höhe oder mehrfach vorwärts. Sogar den Fluss kann man so überwinden!
Aber die Entwickler blockieren sichtbare Routen manchmal aus unerfindlichen Gründen, obwohl ein Sprung klar möglich wäre, so dass die flüssige Erkundung immer wieder ausgebremst wird. So entstehen aufgrund verschlossener Gatter einige aufgezwungene Sackgassen sowie Routen - auf eine Verwandlung in Wolf, Fledermaus oder Spinne samt Wandklettereien à la Dracula hat man verzichtet.
Das Level- und Spieldesign ist weit entfernt von der Qualität eines Dishonored, aber wesentlich offener als noch in
Remember Me: Es gibt zumindest sporadisch alternative Wege zu einem Ziel, man kann patrouillierende Wachen stellenweise umgehen - leider reicht da das simple Durchspurten in den nächsten Bereich, was die einzigen beiden subtileren Vampirfähigkeiten, nämlich die temporäre Unsichtbarkeit sowie das Einfrieren eines Feindes, zumindest für die Erkundung vollkommen entwertet. Überhaupt vermisst man gerade als Vampir schleichende Alternativen oder die Ausnutzung des Schattens. Man kann dafür Hindernisse wie Kisten oder Fässer zerdeppern, um in abgeriegelte Areale zu gelangen - aber auch das nicht immer. Und genau diese Wankelmütigkeit zieht sich durch das ganze Abenteuer.
Eine deutsche Sprachausgabe hat man sich gespart, aber dafür gibt es gut übersetzte Texte, die allerdings in Notizen & Co in etwas zu kleiner Schrift angezeigt werden.
Bei der Kanalisation bleibt man ebenso inkonsequent, denn dort kann man lediglich spezielle Gebiete erkunden, die man mal über die Aktivierung von Gattern oder Pumpen freilegen muss, was wenigstens für etwas Rätselflair sorgt. Aber was hat man unter Tage an Potenzial verschenkt! Es gibt kein komplettes Netz, das die vier Stadtteile unterirdisch verbinden würde. Immerhin grenzen die Docks, Whitechapel, das West End sowie das Pembroke Hospital direkt aneinander an und die Gassen sind verschachtelt designt, so dass man sich schonmal verlaufen kann - da hilft dann ein Blick auf die interaktive zoombare Karte. Schön ist übrigens, dass einige Questzielmarker nur die ungefähren Bereiche eines Fundes anzeigen, aber nicht die exakte Position, so dass man zumindest lokal selbst suchen muss. Trotz dieser Defizite in der Erkundung versinkt man in möglichen Zielen und Aufgaben, zumal die Story anzieht.