FIFA 0609.12.2005, Jörg Luibl
FIFA 06

Im Test:

Eigentlich bietet die Xbox 360 alle Voraussetzungen, um Fußball der nächsten Generation zu zeigen: Der Controller hat endlich zwei Schultertasten für eine feinere Ballkontrolle, die Grafik kann nicht nur fotorealistische Profis, sondern auch Polygonfans darstellen und über Xbox Live darf weltweit online gekickt werden. Warum landet das nur für die 360 konzipierte FIFA 06 (ab 14,90€ bei kaufen): Road to FIFA World Cup (FRTWC) trotzdem in der Sackgasse?

Die Bundeszombies kommen

Man kann über Klinsmann sagen, was man will: Er predigt Offensiv-Fußball. Er hat seinen Wohnsitz in Kalifornien. Er grinst in Endlosschleife. Er ist ein Schwabe. Das ist alles richtig, aber eines ist er nicht: ein Zombie. Oder etwa doch? Wir haben jedenfalls unseren Augen nicht getraut, als der Bundestrainer bei unserem Freundschaftsspiel mit den Franzosen vom gnadenlosen Zoom der Kamera erfasst wurde: Mit totenbleichem Teint und schwarzbraunem Blick gestikulierte er wie ein Untoter an der Außenlinie.

Bis auf einen 3D-Radar und neuen Menüs bleibt alles beim Alten - auch beim Eckensystem. Neu ist, dass Auswechslungen und Taktikänderungen jetzt übergangslos möglich sind.
Wenn der blutleere Schweinsteiger dann angerannt kommt, um die taktischen Anweisungen entgegen zu nehmen, fehlt nur noch die Kettensäge, um einen neuen Resident Evil-Film zu drehen: Die Bundeszombies kommen. Besonders störend ist bei Klinsmann der Unterschied zwischen der Haut der Hände und der des Gesichts - einmal kalkweiß, einmal leicht gebräunt. Das ist ein farblicher Bruch, der zwar nicht bei allen, aber auch anderen Figuren sofort ins Auge fällt. Genau so wie der viel zu starre Blick, das fehlende Blau der Augen oder die übertrieben glänzenden Visagen. Obwohl der Wiedererkennungswert bei Ronaldinho & Co da ist, wirken viele Nationalspieler wie Wachskarikaturen.

Künstliche Patchwork-Kulisse

Sieht FRTWC schlecht aus? Nein. Es gibt sogar unheimlich ansehnliche Fouls, Paraden und so manche gelungene Nahaufnahme von Huth oder Cafu. Nur wirkt die Kulisse nicht natürlich, sondern aufgedonnert. Auf den ersten Blick zeigen sich noch Anzeichen einer neuen Grafikgeneration, wenn man bereits im durchgestylten Lademenü in futuristischer Kulisse kicken kann oder wenn man die polygonreichen Visagen sieht, in denen Wangen wackeln, Grübchen zittern oder selbst Pickel sprießen. Nur ergeben all diese Dinge zusammen nur selten einen authentischen Ausdruck auf den Gesichtern der Profis. Dieser Hauch von Fotorealismus und innerer Stimmigkeit kommt eher bei Madden NFL 06 oder NBA Live 06 auf. Die Sportentwickler bei EA liefern unterschiedliche Qualität ab, wobei FIFA eindeutig das schwarze Schaf ist - und das schon seit Jahren.

Aber allen EA-Sportspielen ist in feinen Abstufungen gemein, dass diese feinen Details von der Muskelfaser bis zur Hautfalte nur beim Anstoß, der Hymne oder in Zeitlupen zu sehen sind und nicht auf dem Platz - dort sieht die Grafik gerade auf normalen Fernsehern nicht viel besser aus als auf der Xbox. Und schaut man sich den Spielfeldrand bei Ecken an, könnte der auch aus FIFA 2004 stammen. Insgesamt herrscht eher die altbekannte Qualität der Figuren, eine neue Euphorie kommt nicht auf. Deshalb stellt sich die Frage, warum man nicht lieber das umfangreichere und in sich harmonischere  Xbox-FIFA 06 auf der 360 spielen soll? Erst, wenn ihr die höhere Auflösung eine HD-Geräts, Beamers oder PC-Monitors nutzt, zeigen sich deutlich schärfere Figuren und es weht endlich ein Hauch von Next-Generation. Die Freude währt jedoch auch da

Sven Göran Erikson ist im Vergleich zu Klinsmann noch gut weggekommen. Trotzdem wirken alle Figuren puppenhaft, manche sind viel zu bleich.
nicht lange: Es ruckelt auch unter HD in den Wiederholungen so stark, dass man misstrauisch alle Kabel überprüft - flüssige Zeitlupen gibt's nicht. Das erinnert an die zittrigen Zwischensequenzen in Perfect Dark Zero oder an die Stotter-Fahrten in Need for Speed: Most Wanted . Das ist alles andere als Next-Generation. Hat man die Xbox 360 bei EA so schlecht im Griff?

Stillstand statt Fortschritt

Auch die Animationen erreichen auf der 360 nicht die Vielfalt und Natürlichkeit eines Pro Evolution Soccer 5 : Zu schnell hat man sich an Dribblings, Schusshaltung sowie Grätschen satt gesehen. Alle Stars dribbeln, schießen und köpfen ansehnlich, aber auf Dauer zu ähnlich. Und manchmal wirken vor allem die langen Sprints und Übersteiger sogar noch abgehackter als auf PS2 und Xbox. Wie kann das sein? Auch die individuelle Klasse wird nur bei ganz wenigen Stars wie Ronaldinho oder Zidane in eigenen Bewegungsabläufen sichtbar. Und man hat dann spätestens auf den zweiten Blick das Gefühl, dass EA einfach nur eine Polygonspritze genommen hat, um das alte FIFA 06 mit neuer Power aufzupumpen - es wirkt nicht harmonisch, fast schon künstlich. Einzelteile wie Publikum, Spieler, Trainer oder der viel zu lange Rasen (der Ball versinkt darin bis zur Hälfte!) wurden stümperhaft zusammen gefügt, so dass man eine Art Patchwork aus Fotorealismus und Plastikgefühl, aus Next-Gen und Last-Gen vor sich hat. FRTWC könnte auch die Alpha-Fassung für das kommende WM-Spiel sein.

Wählt man die TV-Übertragung als Kamera zeigen sich weitere Brüche: Spieler und Platz werden in der Entfernung nur noch verschwommen dargestellt. Soll diese nicht vorhandene Tiefenschärfe ein Hingucker sein? Dieses Weichzeichnen des Hintergrunds ist spielerisch sinnlos und unrealistisch. Wir hätten uns lieber eine frische Kameraperspektive gewünscht, mit der man näher an die Kicker ran kommen kann, um sich die Details in Bewegung anzuschauen - aber das gibt's nicht. 

           

Fanjubel & Schlachtrufe

Wie sieht die Fankulisse aus? Immerhin haben zahlreiche Entwickler versprochen, dank der 360-Power endlich animierte Polygone statt hässlichen Texturbrei anzubieten. Misstrauisch stimmt, dass das Publikum beim Einlauf der Stars seltsam flimmert - auf normalen Fernsehern mehr, auf HDTV weniger. Aber man hat in Sachen Polygonzuschauer Wort gehalten. Nur werden die Fans im Hintergrund von einem Weichmacher als anonyme Masse dargestellt. Während sich Rooney & Co fast fotorealistisch freuen, werden die Jubler

Der Rasen ist in einigen Nahaufnahmen viel zu lang.
dahinter verwaschen dargestellt oder freuen sich in kollektiver Armwedelrhythmik. Natürlich sind die Stars wichtiger und natürlich kann man nicht mal Tausende Fans einzeln und individuell darstellen - kein Thema. Aber selbst bei Nahaufnahmen, wo man nur ein paar Fans im Hintergrund hat, werden sie als ein schwammiger Brei gezeigt - nur eben dreidimensional statt zweidimensional. Dieses Zoomen in die Fans haben 2KSports in NHL 2K6  sowie Konami in PES5 selbst auf den "alten" Konsolen viel besser gelöst, indem sie einzelne Gruppen mit vielen unterschiedlich bekleideten und jubelnden Individuen zeigen. Vergleicht man diese Fan-Ausschnitte auf der PS2 mit denen auf der Xbox 360, muss man sich fragen, wer jetzt Next-Gen bietet...

Die akustische Atmosphäre ist zwar immer noch gut, aber sie kann nicht begeistern und krankt an alten Schwächen. Wieso setzt sich EA nicht mal hin und überarbeitet die Soundbibliothek für die Fangesänge? Gerade dann, wenn eine neue Konsole auf den Markt kommt? Wie kann es sein, dass man seit Jahren (!) falsche Schlachtrufe hören muss, die nicht zum Match passen? Wie z.B. "Ruhrpott, Ruhrpott"-Rufe in einem Länderspiel. Auch das Kommentatoren-Duo bleibt auf dem schlechten Niveau von FIFA 06. Hinzu gekommen sind zwar einige neue Informationen zu WM-Teams und deren Profil, aber sie werden staubtrocken vorgelesen oder manchmal sogar unpassend in ein Spiel geschnitten - und schwups, ist die Stimmung im Keller.

Altbekanntes Spielerlebnis

Warum rede ich so viel über die Technik? Zum einen, weil viele Spieler aufgrund der Power der neuen Konsole auch eine neue Kulisse erwartet haben und weil EA diese auch versprochen hat - es sollte emotionaler, realistischer und packender zur Sache gehen. Zum anderen, weil sich spielerisch fast gar nichts getan hat. Wie schon bei FIFA 06 kann man jetzt das Spiel mit Rückwärtsdribblings verzögern und zahlreiche Techniken anwenden, die so stark wie nie zuvor an Pro Evolution Soccer 5 erinnern: vom Pass in die Tiefe, dem Durchlassen bis zur mehrfach abgestuften Flanke in der Passzone. Trotzdem stellt sich schnell dieselbe ernüchternde Routine zwischen Abspiel und Abschluss ein, weil vor allem Flanken in die Weite des Raums und Zuspiele in den Lauf aufgrund der lethargischen Mitspieler selten funktionieren. Der Spielaufbau ist zu pomadig, Torsituationen wiederholen sich, mechanische Abläufe bestimmen ein Match, Lupfer landen ebenso todsicher wie seltsam dargestellt im Kasten. Wer jetzt torgefährliche Szenen am Stück erwartet, wird enttäuscht: Aufgrund der viel zu starken Doppeldeckung und der Zähigkeit im Mittelfeld plätschern viele Matches so vor sich hin. Adrenalin kommt nur dann ins Spiel, wenn man Pfosten oder Latte trifft und das geschieht ungewöhnlich oft.

Enttäuschend ist jedoch, dass EA scheinbar keine einzige Entwicklerminute in die größte Baustelle von FIFA 06 investiert hat: die Ballphysik. Hätte man den Start auf einer neuen Konsole nicht für ein neues oder wenigstens verbessertes System nutzen können? Das Leder fliegt immer noch viel zu leicht und unrealistisch durch die Luft und klebt am Fuß des Spielers, als hätte er es angebunden. Kurzpässe spielt man sich wie beim Eishockey zu, Abpraller oder realistische Flugbahnen sieht man zu selten. Dass es bei Fernschüssen genau so wie in den Wiederholungen Ruckler gibt, kommt noch störend hinzu. Und auch die KI bleibt auf dem Niveau von FIFA 06: Stellt euch mal mit einem Spieler in der Mitte des Platzes hin und

Xbox 360 nicht im Griff? Besonders bei Fernschüssen und in den Zeitlupen ruckelt es kräftig.
bewegt euch nicht - alles steht still. Es dauert eine halbe Ewigkeit, bis sich ein Gegner an euch heranpirscht. Wer sich genauer mit den wenigen spielerischen Stärken und den vielen Schwächen des Kicks befassen will, findet im Xbox-Test zu FIFA 06 eine ausführliche Analyse der Spieldynamik. Dort wird auch erläutert, warum FIFA vielleicht besser an die Arcade-Vergangenheit anknüpfen sollte.

Abgespeckte Spielmodi

Und nach all diesen technischen und spielerischen Enttäuschungen kommt noch das Magerpaket in Sachen Spielmodi hinzu. Der Untertitel ist Programm: Auf dem Weg zu WM gibt es nur National- und keine Liga-Teams. Das ist zwar konsequent, aber im Vergleich zu FIFA 06 auf Xbox, PS2, GameCube oder PC eine empfindliche Beschneidung in Sachen Umfang - immerhin sind nur noch knapp über 70 Mannschaften und neun Stadien dabei. Außerdem wird die Qualifikation zwar in den Vordergrund gestellt, aber wenig prickelnd inszeniert: Ein kurzer Trailer mit dem WM-Pokal, ein paar Freundschaftsspiele, dann geht's inklusive Verletzungen & Co los. Aber man vermisst eine gewisse Dramaturgie in dieser Qualifikation, die mich mit meinem Team fiebern lässt. Und selbst bei den Werten gibt es seltsame Brüche: Argentinien hat eine Gesamtstärke von 80, Deutschland liegt mit 83 nur einen Punkt hinter dem amtierenden Weltmeister Brasilien. Hallo? Die offizielle FIFA-Rangliste sieht anders aus. Warum sollte ich die Quali länger als ein paar Runden spielen? Es gibt zwar auch die Möglichkeit, eigene Turniere oder Ligen mit den Nationalteams zu veranstalten, aber wer jetzt schon deutsche WM-Duft schnuppern will, wird enttäuscht: Es gibt weder ein offizielles WM-Turnier als Belohnung für die erfolgreiche Qualifikation noch spezielle Zeremonien oder eine besondere Wettbewerbsstimmung. Minispiele im Training oder eine echte Managerkarriere sucht man ebenso vergeblich wie einen Editor. Am Ende bleibt nur noch der Kick über Xbox Live, der aber nur für kurze Zeit bei der Stange hält. Egal ob Freundschafts- oder Ranglistenspiel: Lags begleiten das gesamte Match. Dass es selbst über unsere schnelle Firmenanbindung ruckelt, lässt für DSL-Kicker nichts Gutes ahnen.      

Fazit

Ich bin enttäuscht. EA hat zum einen die Chance verpasst, seine Fußballserie mit dem Debüt auf der Xbox 360 in neue spielerische Bahnen zu lenken, denn es hat sich nichts in Sachen Ballphysik, Dynamik oder KI getan. Immer noch rollt der Ball wie am Faden durch die Reihen, immer noch fehlt ihm die Schwere. Dieser schreckliche Stillstand ist eine Steilvorlage für all jene, die mit einem Wechsel zu Pro Evolution Soccer 5 liebäugeln. Der Umfang wurde sogar beschnitten, denn es gibt keine Club-, nur Nationalteams, keine echte WM als Belohnung und die Qualifikation als solche wurde alles andere als dramatisch inszeniert. Zum anderen, und das ist vollkommen unverständlich, scheitert man an der Präsentation: Mal abgesehen von den Rucklern stört mich vor allem der Patchworkstil aus Fotorealismus und Plastikfiktion, aus Schärfe und Weichzeichnung. Es gibt einfach zu viele Brüche, kein harmonisches Gesamtbild: Manche Profis sehen aus wie Zombies, die Animationen wiederholen sich zu schnell, selbst kleine Fangruppen werden verschwommen dargestellt, der Rasen ist zu lang und es gibt immer noch schreckliche Kommentare sowie unpassende Fangesänge. Dieser Weg zur WM ist nicht mehr als ein inhaltlich kastriertes und schlampig aufgedonnertes FIFA 06. Ich hoffe, dass EA aus dieser WM-Beta im nächsten Jahr ein vollwertiges WM-Spiel macht.

Pro

ein Hauch von Next-Generation
einfache Steuerung
Xbox Live-Unterstützung
elegantes Rückwärts- & Seitwärtstänzeln
coole First-Touch-Kontrolle
schnelle Taktikwechsel

Kontra

keine spielerischen Verbesserungen gegenüber FIFA 06
Ruckler bei Weitschüssen, starke Ruckler in Wiederholungen
künstlich und wenig harmonisch wirkende Kulisse
schlechte Kommentare, unpassende Fangesänge
keine Clubmannschaften, nur Nationalteams
kein Editor mehr
keine Manager-Karriere
nur 72 Teams & neun Stadien
nur Qualifikation, kein WM-Turnier
keine Wettbewerbsstimmung
keine Next-Gen-Animationen
Lags über Xbox Live

Wertung

360

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