Dieses eine Tarkov
Ich bin seit dem Jahreswechsel im virtuellen Lockdown. Das heißt ich komme gerade einfach nicht mehr von einem Spiel los, das mich schon seit letztem Jahr beschäftigt, als irgendwer in der Redaktion leichtfertig meinte „Wir können ja mal was zu
Escape From Tarkov machen“ - ohne zu wissen wie dieses Spiel mir in meine üblichen Gewohnheiten grätschen würde. Von wegen "
der Blitz zündet nicht mehr" - hier hat er sogar den Blitzableiter verfehlt.
Knapp 600 Online-Stunden später ist „Tarkov“, wie es jeder niedlich verkürzt, nicht nur mein insgesamt meistgespieltes Spiel aller Zeiten, sondern vermutlich auch das, mit dem ich mich am intensivsten beschäftigt habe. Ich bin nämlich eigentlich der Typ Kurzspieler. Selbst Mehrspieler-Shooter können mich selten länger als 50 Stunden begeistern und Online-Rollenspiele meide ich seit jeher. Ich habe nämlich nur sehr selten das Gefühl, dass es mir wirklich etwas gibt, Spiele bis auf die letzte Nachkommastelle ihrer Mechaniken kennenzulernen.
Doch Tarkov ist anders. Hier erkennt man nämlich trotz aller zum Teil schmerzhaft scharfer Ecken und Kanten die Seele und Vision der Entwickler von Battlestate Games um Mastermind Nikita Boyanov, der die ursprüngliche Vision des Spiels ungeachtet aller wirtschaftlichen Zwänge der Spielebranche vorantreibt. Escape From Tarkov ist unfertig, unzugänglich und gnadenlos. Wer hier auf Wohlfühl-Unterhaltung oder das schnelle Erfolgserlebnis hofft, der muss umdenken oder enttäuscht abziehen. Aber wer sich durchbeißt, der wird schon in Beta 0.12.9 mit einem der meiner Meinung nach besten Spiele unserer Zeit belohnt.
Mein persönlicher FBI-Agent wird sich wohl zumindest kurzzeitig gefragt haben, wieso von mir vermehrt Google-Suchanfragen wie „5.56mm best ammo“ oder „AK74 Attachments“ auftauchen. Warum ich dauernd Militär-Equipment wie Frontgriffe, Scopes und Magazine vergleiche. Und woher eigentlich mein plötzliches Interesse für russisches Convenience-Food rührt. Denn Escape From Tarkov ist mehr als nur ein Spiel. Nach etwas über einem Jahr erkenne ich zuverlässig Helme, Kopfhörer und sonstige Ausrüstungsgegenstände von Spezialeinheiten, Streitkräften und Polizeitruppen auf der ganzen Welt. Vermutlich könnte ich ein Spontanreferat über die Vorzüge und Nachteile der AR-15-Plattform halten, ohne auch nur jemals in der Nähe einer echten Feuerwaffe gewesen zu sein. Und – eigentlich ein viel größeres Problem – jedes andere Spiel mit realistisch anmutenden Schusswaffen muss sich plötzlich mit diesem einen Spiel messen, bei dem ich nicht nur per Tastendruck mein Magazin aus der Waffe nehmen, sondern sogar die Kammer leeren kann.
Dazu kommt: Ich habe mittlerweile nicht nur Stunden, sondern virtuelle Wochen an Schauplätzen wie Shoreline und Customs verbracht, was – auch durch Corona bedingt – mehr virtuelle frische Luft ist, als ich im ganzen letzten Jahr geatmet habe. Ich kenne die Wälder von Woods mittlerweile besser als den Weg zum Discounter um die Ecke. Und auch wenn ich mich immer noch regelmäßig in der furchtbar unübersichtlichen ULTRA Shopping-Mall von Interchange verirre und meine Discord-Teammates mit unmöglichen Nachfragen, nichtssagenden Calls und völlig falscher Positionierung in den Wahnsinn treibe, weiß ich hier eher wie ich zu „OLI“ oder „Trend“ finde als zum Kurzwaren-Fachgeschäft im Einkaufszentrum ein paar Straßen weiter (in dem ich mich übrigens mindestens genauso oft verlaufe wie im Spiel. Diese Mistdinger sehen einfach überall gleich aus.)
Um ehrlich mit euch zu sein: Ich habe 2021 privat noch kein einziges Spiel angefasst, das dieses Jahr erschienen ist. Der Grund: Das immer noch in der Beta befindliche Tarkov wurde Ende Dezember gewiped. Und jeder weiß, dass die ersten Wochen und Monate nach einem Wipe die wertvollsten im Spiel sind. Wenn noch nicht jeder mit High-End-Waffen und Level-5 Armor Einsteiger plattwalzt. Wenn eine Dosenmilch und ein Magazin voll guter Munition noch High-Level-Loot sind und man sich über jeden Fortschritt in den ersten Tasks bei den Händlern freut – denn ein echtes Endgame gibt es in Tarkov eben (noch) nicht, sodass jeder Neustart auch die Magie der erneuten Progression mit sich bringt.
Zudem lernt man unweigerlich dazu. Nach mehreren Wipes kennt man die Anfangs-Tasks im Schlaf. Debut, Checking, Delivery From The Past, Golden Swag, Shootout-Picknick, Operation Aquarius – die Suche nach Jägers Brief, die ersten Schritte in Dorms. Sie sind wie alte Freunde, die alle halbe Jahre auftauchen und mit denen man kurz in alten Zeiten schwelgt, bevor sie bis zum nächsten Wipe verschwinden. Aber warum zum Henker kann mich ein Spiel dermaßen fesseln und wieso können all die Insurgencies, Squads und Armas dieser Welt nicht mit diesem einen Spiel mithalten – obwohl sie im Detail einige Dinge wirklich deutlich besser machen, als das in einigen Bereichen vor allem durch die Unity-Engine limitierte Tarkov.
Es ist vermutlich das Gefühl, dass man hier wirklich etwas riskiert. Das hier jeder Kampf und jeder Treffer zählt. Denn wenn ich mit schwerem Körperpanzer, aufgemotzter M4A1 und mehreren hundert Schuss teurer Munition über Shoreline schlendere, reicht ein einzelnes Schrot-Pellet eines mutigen Scavs (die KI-Kämpfer, die die Karten von Tarkov bevölkern) oder eine einzelne Pistolenkugel eines Rat-Runners um mir die Lichter auszupusten und mich mit dem längst zum Meme gewordenen Hinweis „Head, Eyes“, der auf die tödliche Trefferzone verweist, zurück ins Menü schickt. Und dann ist der Kram weg – liegengeblieben im Kampf, vermutlich geplündert von meinem Killer oder einem vorbeistreifenden Spieler-Scav.
Klar, es gibt Papa Prapor mit seiner Abzock-Versicherung und natürlich bekommt man hier auch tatsächlich einiges zurück. Dennoch ist alles Loot, alles bis zu diesem Moment Erreichte inklusive einem Großteil der wertvollen Erfahrungspunkte einfach weg. Auch nach 45 Minuten, auch kurz vor einem der versteckten Map-Ausgänge. Dadurch bin ich bei Tarkov so angespannt wie bei keinem anderen Spiel. Jedes Flankenmanöver treibt meinen Puls in die Höhe, jedes durchgegebene Ziel sorgt für einen kleinen Schreckmoment. Und es ist vermutlich dieser Adrenalinrausch, dieser kurze Moment in dem man nur noch seinen eigenen Herzschlag wahrnimmt, kurz bevor man ein Ziel niederstreckt (oder gnadenlos vom überlegenen Feind im Dauerfeuer zersägt wird), der mich an dieses Spiel fesselt. Das schafft weder Doom noch Counter-Strike. Und schon gar kein Singleplayer-Storyspiel oder HUD-überladenes, in einer Exeltabelle erdachtes Loot-Shoot-MTA-Gedöns ohne die bereits erwähnte Seele.
Dazu kommt: Auch wenn Tarkov sich aufgrund seiner teils viel zu arcadigen Bewegung mit fürchterlicher Sprung-Mechanik in einigen Momenten immer noch wie (ein schlechtes) Call of Duty anfühlt, funktionieren aufgrund der grundlegenden Spielanlage sogar Echtwelt-Taktiken. Die Momente in denen das eigene Squad Feuerüberlegenheit herstellen kann, in denen Niederhalten und Flankieren eine valide Taktik ist oder einfach nur mehrere Sniper sich gegenseitig Ziele aufklären und sie gemeinsam bekämpfen sind die besten in Tarkov – obwohl das Teamspiel eigentlich nicht belohnt wird und dank gnadenlosem Friendly Fire, keinem Spielinternen VoIP und fehlender Freund-Markierungen sogar erheblich schwerer ist als bei vergleichbaren Spielen.
Worauf ich eigentlich hinaus will: Für mich ist Escape From Tarkov "
Dieses eine Spiel". Selbst nach 20 Jahren Videospiel-Erfahrung wurde ich vom rauen Charme dieses Hardcore-Shooters kalt erwischt. Und sogar nach einigen Monaten Abstinenz Ende 2020 wurde ich wieder gnadenlos ins dystopische Tarkov hineingezogen, als der Wipe überraschend das Schlachtfeld ebnete. Und was soll ich sagen: Auch wenn die Server zicken und der Desync nervt, das Bewegungssystem zu rudimentär daherkommt, Nikita zuviel im Detail herumdoktert ohne die Vision weiterzutreiben und es immer noch viel zu viele Cheater gibt – Escape From Tarkov ist derzeit mein Lieblingsspiel. Und das Spiel, das ich am meisten hasse und welches mich am meisten frustriert. Und nach über 20 Jahren mit Videospielen hätte ich diese Emotionen einfach nicht mehr erwartet. Schön, dass es Tarkov gibt.
Eike Cramer Video-Redakteur