BioShock08.06.2007, Benjamin Schmädig
BioShock

Vorschau:

Ein Ausflug in die Annalen und in die Kultecke der Computerspiele: Es war 1994, als System Shock erschien und im Handumdrehen Kultstatus erreichte. Als ein mit Implantaten verbesserter Mensch musste man sich damals gegen genetische Experimente und eine unheimliche Computerintelligenz wehren. Doch als EA nach der Fortsetzung die Lizenz einsackte, die Entwickler aber unabhängig blieben, stellte sich die Frage: Wie geht es mit dem gruseligen Science Fiction-Trip weiter? Die Antwort: BioShock (ab 4,38€ bei kaufen).

Der finstere Turm

Mein Blick fällt auf ein Foto meiner Eltern. Die Erinnerung, was sie in mir gesehen haben - das ist alles, was mir bleibt. Etwas Besonderes sollte aus mir werden... Plötzlich wird mir schwarz vor Augen. Mit einem ächzenden Bariton wehrt sich das Flugzeug gegen den Absturz.

Um mich herum verschwimmt die Dunkelheit. Über mir wütet ein lautloses Flammenmeer auf der Oberfläche des Ozeans. Als ich zwischen den Wrackteilen endlich nach Luft schnappe, erhellen brennende Trümmer die unheimliche Stille der Nacht. "DF 0301" - der Schriftzug auf dem hinteren Teil des Flugzeugs versinkt langsam im Wasser.

Ein schwarzer Felsen. Inmitten des Meeres? Und ein Turm, der in die Wolken ragt? Mir bleibt keine Zeit. Ich schwimme auf die Insel zu. Eine Treppe, die direkt aus dem Stein geschlagen 

Auf nach Rapture: Eine Fahrstuhl-Kapsel bringt euch auf den Boden des Ozeans.
wurde, führt zu einer riesigen Tür. Dahinter glotzt gähnende Finsternis auf mich herab. Was habe ich schon zu verlieren? Die Tür kracht ins Schloss.

Sekunden später flackern Neonröhren klimpernd auf. "No Gods, No Kings. Just Man." weist mir ein Schild den Weg nach unten. Ich bin in Rapture. In dem selbst gewählten Exil eines Idealisten. Rapture. Ein Denkmal des freien Willens. Ein Wille, der Dogmen verabscheut. Dogmen, die verhindern, dass Menschen jene, die sie in ihrem kreativen Wahnsinn ritzen, selbst tragen müssen&

Das Paradies auf Erden?

Ich war erstaunt, wie unmittelbar Irrational Games an das Thema des geistigen Vaters von BioShock anknüpft: Schon in System Shock 2 (und natürlich in dessen Vorgänger) ging es um die Macht und die Gefahr, welche von den Menschen ausgeht, sobald sie ihren Drang nach Perfektion ungehindert ausleben können. Andrew Ryan heißt der Industrielle, welcher zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs eine Stadt auf dem Boden des Ozeans errichtete, um vor den Ideologien des Kapitalismus und Kommunismus zu fliehen. "In welchem Land finden Menschen wie ich ihren Platz?", zitiert ihn eine Tafel am Eingang von Rapture. Unter seinen Anhängern war eine geniale Wissenschaftlerin: Tenenbaum floh aus Nazideutschland, um ihre Experimente ohne die Richtlinien eines größeren Systems fortzuführen. Mit der Freiheit in Rapture schuf sie eine Symbiose zwischen Adam und Eva.

Nein, mit der christlichen Botschaft hat Tenenbaums Forschung nicht viel gemein. Tatsächlich ist Adam das Produkt eines Parasiten, der menschliche Stammzellen bildet und somit Wunden heilen kann. Die Wissenschaftlerin fand einen Weg, solche Adam-Zellen künstlich herzustellen und mit Hilfe von Plasmiden genetisch zu verändern. Eva ist hingegen das Serum, welches die Verbindung von Adam und Plasmiden erlaubt. Die Tür zu bewusst hervor gerufenen Mutationen war offen - auch wenn Adam schnell zerfällt und sowohl psychische als auch physische Störungen zurück lässt.

                 

Ein Atlas als Hilfe

Vor dem Dunkel hinter der Fahrstuhl-Kapsel, die mich tief in die Stadt gebracht hat, schlurft ein aggressiv grunzender Kerl. Aber er kommt nicht weit. Auf einmal stürzt eine Frauengestalt aus dem Schatten und erledigt den Mann. Dann wendet sie sich dem Fahrstuhl zu. Sie versucht scheinbar erfolglos, mich durch die kleine Glasscheibe zu erkennen. Sekunden später wütet sie mit den Eisenhaken an ihren Händen kreischend auf dem Dach der Kapsel, bevor mich eine Stimme aus dem altmodischen Lautsprecher anspricht. Atlas nennt sich der Mann, der mich nach draußen schickt. Er erklärt mir, warum Rapture existiert und was mich hier erwartet. Die Lady mit den Eisenhaken ist verschwunden, doch es wimmelt hier vor wütenden Mutanten. Zurückgelassen in dem Irrenhaus, das einst ihre Erlösung sein wollte. Wenn ich Atlas helfe, seine Familie zu retten, zeigt er mir den Weg nach draußen. Welche Wahl bleibt mir schon...

Gen-Pfusch?

In System Shock 2 war es eine Dr. Polito, die sich als Führer durch das vom Kurs gekommene Raumschiff Von Braun anbot; in BioShock ist es Atlas. Ob er sich als das herausstellt, was er vorgibt zu sein, bleibt abzuwarten - 2K Games hat uns nur die ersten beiden Abschnitte gezeigt. Der rote Faden wird dort nur ausgelegt. Wie er verläuft, muss sich erst noch zeigen. Das gilt auch für das Spiel, denn die ersten Schritte in Rapture sollen euch in die umfangreiche Welt nur einführen. Erst danach erhaltet ihr laut den Entwicklern volle Handlungsfreiheit, könnt euch nach Belieben durch die Stadt bewegen und müsst keinem vorgegebenen Weg folgen. Genau wie in dem geistigen Vorgänger könnt ihr den Schauplatz so erkunden, wie es euch passt: 

Unter dem Motto des freien Willens fanden abscheuliche Experimente statt...
Folgt ihr mit einem steifen Finger am Abzug dem Richtungspfeil zum nächsten Ziel oder schaut ihr euch vorher nach Munition um? Wenn ihr mehr darüber wissen wollt, wie aus Rapture ein Jagdrevier für Mutanten wurde, solltet ihr in Schreibtischen und Schubfächern nach Tonbändern suchen. Diese Aufnahmen der ehemaligen Bewohner sind kleine Farbkleckse, mit denen ihr Strich für Strich ein Bild von den grausigen Ereignissen zeichnet. Vielleicht liegt euch auch daran, Ampullen mit Eva zu sammeln, damit ihr eure genetischen Modifikationen nutzen könnt.

Genetische Modifikationen? Klingt umständlich - ist es aber nicht. Es sind Waffen, mit denen ihr elektrische Ladungen austeilt, Gegner in Brand steckt oder Gegenstände per Telekinese aufhebt und beim Loslassen der Taste abschießt. Wer System Shock 2 liebte, der wird sich in BioShock wie zu Hause fühlen - auch wenn der umfangreiche, aber umständliche Rucksack wegfällt, die Waffen zu Beginn nicht aufgerüstet werden können und auf Rapture auch nicht zerbrechen. Irrational Games spricht diesmal nicht nur Enthusiasten mit Zeit zum Einarbeiten an, sondern kommt auch Spielern entgegen, die keine System Shock-Mantras vor ihrer güldenen Warren Spector-Statue beten.

Es gibt nicht nur die geradlinige Einführung und die übersichtliche Handhabung; euch kommen beim Erkunden von Rapture auch mehr zufällig auftauchende Mutanten in die Quere als auf der Von Braun. Dabei gerät BioShock allerdings ins Schlingern, denn die häufigen Kämpfe vernebeln das Gefühl der bedrückenden Einsamkeit. Genau darauf legen die Entwickler laut eigener Aussage aber wert.... Weil die Gegner zufällig auftauchen und sich meist ähneln, war ich auch schnell gesättigt: Der x-te Mutant ist eben nur Mutant w+1. Er ist kein ekliges Experiment mehr, das mir an den Kragen will. Er ist Kanonenfutter. Weil Ken Levine von Irrational Games betont hatte, dass die Mutanten unabhängig vom Spieler ihr Tageswerk verrichten und so als eigenständige Personen auftreten, war ich deshalb enttäuscht. Nur zwei Charaktere treten vor den Statisten ins Rampenlicht.

           

Jules Vernes Rapture

Mein Weg führt mich durch einen von Glas umgebenen Gang. Um mich herum schimmert das blau-grüne Wasser. Ich sehe etliche Gebäude, die vom Meeresboden in den Ozean ragen. "20.000 Meilen unter dem Meer" schießt mir durch den Kopf - Jules Verne hätte es nicht besser zeichnen können. Auch die Automaten, an denen ich Heilmittel kaufe oder meine genetisch veränderten Fähigkeiten erweitern kann, erinnern an seine Erzählungen aus dem vorletzten Jahrhundert.

Um mich herum stöhnen und jammern die armseligen Mutanten. Immer wieder will mir einer von ihnen an den Kragen. Sie schreien auf, wenn sie mich sehen, werfen simple Granaten oder laufen mit Eisenstangen auf mich zu. Nur zwei von ihnen lassen mich in Ruhe passieren: ein mächtiger Mann in einem Taucheranzug und seine Helferin, Litte Sister. Sie weist ihm den Weg, redet mit ihm und entdeckt einen der Toten. Als sie bei ihm ist, rammt sie eine riesige Spritze in den leblosen Körper und zieht ihm das Blut aus den Adern. Sie recycelt Adam, das Lebenselixir in Rapture.

Ich will das Geschehen aus der Nähe betrachten und mache einen Schritt auf das Mädchen zu. Plötzlich grunzt ihr Beschützer warnend in meine Richtung. Ich darf der  Kleinen nicht zu nahe kommen. Doch meine

Big Daddy kommt ihr besser nicht zu nahe! Er wirkt zwar plump, wütet aber wie ein Stier durch Rapture.
Neugier ist größer - was ich beinahe mit dem Leben bezahle. Denn auf einmal wird aus dem behäbigen Taucheranzug ein rasender Stier. Das Untier wütet über den Boden, genau in meine Richtung. Zwei, drei Schüsse aus allen Waffen. Noch eine Salve - Big Daddy spürt nicht einmal einen Kratzer! Was mir das Leben rettet, ist eine meiner Mutationen. Ich werfe ein Serum auf den Angreifer - jetzt attackiert Big Daddy nicht mehr mich, sondern geht auf einen strolchenden Mitbewohner los. Viel Zeit bleibt mir nicht. Der arme Tor hat keine Chance, doch mir reicht die Ablenkung, um das Weite zu suchen.

Gut und Böse?

Wie ihr in Rapture voran kommt, liegt einzig und allein an euch. Und wer nur mit dem Gewehr im Anschlag durch die mysteriöse Stadt rennt, verschwendet die wenige Munition. Viel sinnvoller ist es z.B., automatische Maschinengewehre oder fliegende Überwachungs-Drohnen zu hacken, damit sie anschließend auf eure Gegner losgehen. Nur mit solchen Tricks lassen sich auch die mächtigen Big Daddys ausschalten. Das Hacken funktioniert dabei ähnlich wie im Klassiker Oil Imperium: Ihr müsst mit verschiedenen Bauteilen unter Zeitdruck einen Weg von A nach B bauen. So macht ihr euch die erwähnten Maschinen gefügig oder erhaltet Rabatt beim Kauf von Heilmitteln sowie Munition.

Und dann gibt es noch die schwierige Entscheidung zwischen dem nahe liegenden Egotrip und dem schwierigeren humanen Weg. Denn irgendwann liegt der Taucheranzug leblos vor euren Füßen. Big Daddy ist tot - aber Little Sister lebt. Sie trägt das Adam in sich, welches ihr so dringend benötigt, um eure passiven Fähigkeiten (Stärke, Hacken usw.) zu verbessern. Das Mädchen kriecht vor euch auf dem Boden, in eine Ecke gedrängt und winselt um Gnade. Entzieht ihr eurem Opfer das Adam und nehmt ihm damit kaltblütig das Leben? Oder gebt ihr euch mit einer kleinen Menge Adam zufrieden, lasst Litte Sister aber ziehen? Das sind Momente, in denen ihr selbst großes Kino inszeniert.

Aber wie viele davon gibt es? Wiederholt sich das Drama um Little Sister einfach wieder und wieder oder hat Irrational Games mehr solcher Szenen in petto? Ist die Handlungsfreiheit so groß, wie es die Entwickler versprechen oder hackt und schießt ihr euch im gleich bleibenden Rhythmus durch die frei begehbare Unterwasser-Stadt? Und erzählt BioShock die Geschichte von Rapture genau so packend wie System Shock 2 die Ereignisse auf der Van Braun wiedergab?

       

Ausblick

Ich setze mein ganzes Vertrauen in Irrational Games und glaube nicht, dass die Entwickler ausgerechnet bei dem geistigen Nachfolger ihres Vorzeige-Titels System Shock 2 von ihrem Kredo abweichen. Und das heißt immerhin: Außergewöhnliche Geschichten erzählen und ungewöhnliche Wege gehen. Oder vielmehr: gehen lassen. Eines erreicht BioShock jedenfalls mit Leichtigkeit: Die Welt, in der ihr als Mutant verloren scheint, ist grandios! Rapture ist ein einzigartiges Szenario, dessen ungemütliche, aber seltsam vertraute Umgebung mich schon vor einem Jahr fasziniert und bei meinem ersten eigenen Besuch schließlich nicht mehr losgelassen hat. Es ist aber auch ein Szenario, das sich an möglichst viele Besucher richten soll - und deshalb sehr geradlinig beginnt. Die Welt muss sich erst öffnen, damit das ganze Bild sichtbar wird. Die Handlungsfreiheit muss erst so groß werden, dass man sich wie ein Teil der beeindruckenden Kulisse fühlt. Soweit durfte ich noch nicht vordringen. Doch falls das Spiel seine Versprechen einlöst, die es in den ersten Stunden gibt, könnte das Abtauchen nach Rapture der Trip des Jahres werden.

Ersteindruck: sehr gut

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