System Shock27.03.2013, Benjamin Schmädig

Special: Sentient Hyper-Optimized Data Access Network

Ich sehe meine Mutter heute noch: "System Shock (ab 18,99€ bei GP_logo_black_rgb kaufen)", schienen ihre zusammengezogenen Augenbrauen zu sagen, "das klingt aber ganz schön martialisch!" Zum Glück konnte ich sie beruhigen: "Neee, das heißt nur so was wie Systemausfall." Im Grunde stimmt es ja: Was im zweiten Teil von Ken Levine fortgesetzt wurde und woraus er später den Ego-Shooter BioShock kreierte, das war ursprünglich kein Actionspiel. Es war die Schöpfung eines Cyberpunk-Thrillers, der bis heute seinesgleichen sucht! Und es war die Geburt einer Legende.

"New Atlanta, Sector 11, Building 71G. 7 April, 2072, 11:13 PM."

Eine weibliche Stimme lässt mechanisch Revue passieren, wie ein namenloser "Hacker" beim Eindringen in Dateien des TriOptimum-Konzern erwischt wird – ich habe vermutlich keinen Introfilm dieser Spielewelt häufiger angeschaut. Dabei hat mich gar nicht die Vorgeschichte des Computergenies gefesselt, das zur "Strafe" das Sicherheitssystem einer von TriOptimum gebauten Raumstation knacken soll. Zwar hatte ich schon damals ein Faible für schicke CGI-Aufnahmen, allerdings war ich vor allem von der Musik fasziniert. Der langsame Aufbau, das rollende Schlagzeug, die verträumte Elektronik: Mein Telefon klingelt heute noch mit dem Glanzstück des Cyberpunk-Soundtracks!

TriOptimum hat eine Raumstation gebaut: Im Orbit um Saturn werden auf der Citadel getauften Einrichtung gentechnische und pharmakologische Untersuchungen durchgeführt sowie mit Robotertechnik experimentiert. Und natürlich geht das gründlich in die Hose – noch selbstverständlicher während der sechs Monate, die der

Die ersten Gänge der großen Raumstation mit ihren ikonischen blauen Leuchtkörpern.
Hacker nach der Implantation einer hochmodernen neuralen Schnittstelle im Tiefschlaf auf Citadel verbringt. Als er aufwacht, gibt es zwei Arten Besatzungsmitglieder: Die einen trotten als Mutanten (Hallo, BioShock!) oder Cyborgs durch die Gänge, die anderen stapeln sich auf Leichenbergen.

Sentient Hyper-Optimized Data Access Network

Und es gibt die legendäre künstliche Intelligenz, die mit gefühlskaltem Zynismus die Kontrolle übernommen hat: SHODAN.

SHODAN ist ebenso berechnend wie unbarmherzig. Sie ist allgegenwärtig und scheinbar übermächtig. Und sie spricht mit einer vornehmlich weiblichen Stimme. Kurz: SHODAN ist eine verdammt coole Drecksau! Nicht umsonst taucht die Dame immer wieder unter den beliebtesten Antagonisten auf – nicht zuletzt, weil Ken Levine sie im zweiten System Shock noch bissiger und durchtriebener gemacht hat.

Kleine Geschichte...

Für das erste System Shock zeichnete allerdings Doug Church verantwortlich, den Levine als einen heimlichen Helden unter den Spielemachern bezeichnet und dessen Fähigkeiten er gar mit Steven Spielberg vergleicht. Church hatte unter Produzent Warren Spector bereits an beiden Ultima-Underworld-Teilen gearbeitet – die ersten Rollenspiele mit Rundumblick in "echten" 3D-Höhlen. Danach dürstete es Church und Spector allerdings nach einem Tapetenwechsel; sie verwarfen ein Spielkonzept in der Gegenwart und entschieden sich für die Zukunft – für Citadel.

... großes Spiel

Eine Raumstation voll grunzender Mutanten und seltsam brummender Cyborgs: Für mich war System Shock damals der Horror. Zu allem Überfluss befahl mir meine jugendliche Spielerehre damals noch, den Schwierigkeitsgrad auf Anschlag zu drehen. Selbst Schuld, der Herr Schmädig! In System Shock, da durfte er deshalb nämlich den Anspruch der Kämpfe, des Missionsumfangs, der Minispiele und des Cyberspace unabhängig voneinander auf Stufe vier stellen – "clever"!

Zur größten Hürde wird dabei die Missionseinstellung, denn auf dem höchsten Schwierigkeitsgrad kommt ein Zeitlimit von sechs Stunden hinzu. Sechs Stunden für ein umfangreiches Abenteuer - das ist unheimlich intensiv, heute völlig undenkbar, fantastisch!

Pfeil links, rechts, links-unten, dann oben...

Minispiele sind kleine Knobelaufgaben, mit denen der Hacker Aufzüge in Bewegung setzt, Türen öffnet oder Brücken ausführt. Und ja, es gibt tatsächlich einen Cyberspace; keine abstrakte Texteingabe, sondern einen Raum. Einen virtuellen, selbstverständlich, bzw. mehrere zusammenhängende solcher Räume. Genauer gesagt sind es stilisierte Drahtgittermodelle, in denen Türöffner, Minen und Verteidigungssoftware schweben – und ich, also der Hacker, mittendurch.

Das war gar nicht so einfach. Eine moderne Shootersteuerung war damals nämlich ein utopischer Traum. Reale Dystopie war eine Maus, die man an die Seite oder in eine Ecke des Bildschirms bewegte. Dann drückte man eine Taste und "schon" drehte sich der Blick in die angezeigte Richtung. Gut, der Cyberspace ließt sich halbwegs bequem

Heute noch spielbar?

Ihr wollt Citadel mal wieder einen Besuch abstatten oder zum ersten mal einen Fuß auf die Station setzen? Unter dem Namen SYSTEMSHOCK-Portable bieten Fans eine erweiterte Version an, die dank DOSBox problemlos auf modernen Betriebsystemen läuft.

Aber nicht nur das! Der eigentliche Clou ist eine Neuerung, mit der man über einen Tastendruck jederzeit zwischen der klassischen Steuerung und dem modernen Umsehen durch einfache Mausbewegungen umschaltet - also ähnlich wie es in System Shock 2 funktioniert.

Zusätzlich lassen sich höhere Auflösungen nutzen, auch wenn es dabei zu Abstürzen kommen kann. Die Tasten dürfen zudem frei belegt werden und die Texte der Logbücher wurden den gesprochenen Texten angepasst. mithilfe der Tastatur durchqueren, im "realen" Leben war der Hacker allerdings ein ungelenker Held. Nerds, typisch!

Gute, alte Zeit!

Ein Vorteil der Steuerung: Ohne gedrückte Maustaste diente der Zeiger zum Bedienen des Menüs sowie neuraler Spezialfähigkeiten. Zehn davon gab es, darunter ein Kompass, ein Rückspiegel (saucool und -praktisch!), eine Art Hoverboard und ein Email-Leser. Denn auch das führte System Shock ein: Tagebuchaufnahmen sowie Logbucheinträge, in denen der Hacker nicht nur erfährt, was auf Citadel eigentlich geschehen ist. Er erhält auf diesem Weg auch wichtige Informationen. Ganz recht: Das Missionsziel wurde damals nicht per Menüeintrag und Richtungspfeil vorgekauft. Stattdessen sollte man aufmerksam verfolgen, was im Spiel geschah. Das ist es, wovon Leute reden, die von der guten, alten Zeit schwärmen!

Auch Zahlenkombinationen für verschlossene Türen fand man in solchen Aufzeichnungen und musste sie per Hand eintippen. Wer den Code vergaß, musste die entsprechende Email suchen (puh!) oder hatte ihn hoffentlich notiert. Immerhin diente eine Übersichtskarte als Orientierungshilfe, auf der man Notizen eintragen durfte.

4-5-1

Ach, übrigens: Warum wird in Spielen wie Thief, Deus Ex, Dishonored oder BioShock meist eine Tür mit der Kombination 451 oder einer ähnlich aussehenden Zahl geöffnet? Richtig: Es ist eine Verneigung vor dem großen System Shock, dessen allererste verschlossene Tür mit genau diesem Code ins Spiel führt. Ich habe jedes Mal SO ein Grinsen im Gesicht, wenn ich die Anspielung irgendwo entdecke.

Elektronikparadies

Und warum ist dieses System Shock so groß? Zum einen ist es die Art und Weise, mit der es mich mit Haut und Haaren zum Cyberpunk macht. Alleine die teils riesigen, teils klaustrophobisch engen Gänge der Raumstation, an deren Wänden geisterhafte Gesichter auf strahlenden Monitoren flimmern, wo Überwachungskameras jeden Schritt verfolgen - Citadel ist ein technokratisches Schlaraffenland!

Außerdem wechsle ich den Munitionstyp per Hand und darf bei Energiewaffen sogar einstellen, wie viel Strom ich mit einem Schuss verbraten will, manuelles Überladen inklusive. Dabei muss ich dringend meinen Energiehaushalt im Auge behalten – sowohl Waffen als auch neurale Funktionen kosten ja Strom! Heute würde man sagen: Eve bzw. Salze.

Hinzu kommen das (jeder Logik strotzende) Hacken im Cyberspace, neurale Fähigkeiten sowie medizinische Notfallstationen, die als Wiederbelebungspunkte genutzt werden. Im Gegensatz zu BioShocks Vitakammern muss man sie allerdings erst umprogrammieren, weil sie von SHODAN für die Cyborg-Umwandlung genutzt werden. Nicht zu vergessen denkwürdige

Der Mastermind

Warren Spector wird häufig für Spiele wie System Shock und Thief gelobt, war bei beiden allerdings "nur" als Produzent tätig. Zu System Shock stieß er während der laufenden Entwicklung, nachdem er als einer der wenigen dessen Potential erkannte. Seinen Einfluss auf Thief bezeichnet er selbst als "minimal".

Für das Spieldesign zeichnete sowohl bei Thief als auch bei System Shock Doug Church verantwortlich, der übrigens auch das erste Konzept für die damalige Serienerneuerung Tomb Raider: Legend erarbeitete. Zuletzt wirkte er in kleinerer Rolle an Valves Portal 2 mit. Bei Valve ist er außerdem an DotA 2 beteiligt und er wird mit Counter-Strike: Global Offensive in Verbindung gebracht.

Valves Spielkultur und die Fähigkeiten von Doug Church? Die Ergebnisse dieser Zusammenarbeit könnten Großes verheißen. Momente wie jener, in dem die Fahrstuhlmusik noch entspannt flötet, während ein Dutzend Mutanten direkt vor dem Ausgang wartet... Diesen köstlichen Augenblick habe ich erst gestern wieder beschreien dürfen.

Rapture, Columbia und Citadel

(& Von Braun und Rickenbacker)

Zum anderen ist System Shock vor allem in der Wirkung groß, die es bis heute hinterlassen hat - sowohl in den Erinnerungen der Spieler als auch in aktuellen Spielen. Zu den erwähnten Bausteinen kommen etwa das schrittweise Erschließen neuer Stockwerke hinzu, in die man jederzeit zurückkehren darf, oder wiederkehrende Mutanten, die genau das erschweren: Doug Church hatte vor fast 20 Jahren irgendwo zwischen Shooter und Rollenspiel ein kleines Genre etabliert, auf das sich Ken Levine bis heute erfolgreich stützt.

Ähnlich wie heute in Rapture oder Columbia gab es ja auch auf Citadel unheimlich viel zu entdecken (Logbücher, Waffenkammern, Geheimtüren). Spieltempo, Gegnerverteilung sowie die Häufigkeit, mit der ich Munition oder Stromanschlüsse finde, ließen dabei eine sehr glaubwürdige Raumstation entstehen - näher am Rollenspiel als BioShock, aber schon damals auf Kampf und Erkundung fixiert. Spielerisch trifft System Shock genau die richtige Balance zwischen actionreicher Spannung und Handlungsfreiheit.

[undelete]

Nicht nur deshalb lasse ich mir jederzeit einen Schaltkreis einpflanzen, um noch einmal mit SHODAN über das Parkett des Cyberspace zu tanzen. Ken, Doug, falls ihr das lest: Rapture und Columbia sind famose Schauplätze in einer großartigen spielerischen Tradition. Doch so langsam wird es Zeit für einen neuen Klingelton!

 
0
Kommentare

Du musst mit einem 4Players-Account angemeldet sein, um an der Diskussion teilzunehmen.

Es gibt noch keine Beiträge. Erstelle den ersten Beitrag und hole Dir einen 4Players Erfolg.