Harter Tobak
Ich befasse mich seit über 30 Jahren intensiv mit Spielen und schreibe seit über 15 Jahren über interaktive Erlebnisse, Erfahrungen und Eindrücke. Doch noch nie hatte ich so viele Schwierigkeiten mit einem Test wie mit Inside. Nicht, weil der Titel technisch oder mechanisch Probleme hätte – ganz im Gegenteil. Der Nachfolger zu Limbo setzt prinzipiell genau dort an, wo das düstere Märchen aufgehört hat. Sprich: Alles beginnt weitgehend harmlos. Ein Junge stürzt in einem dunklen Wald einen Abhang hinunter, bevor man die Kontrolle über ihn übernimmt. Man bewegt ihn durch die meist seitwärts, aber in manchen Momenten auch in alle Richtungen scrollenden Abschnitte. Mit einer Taste kann man springen, mit einer anderen kontextsensitive Aktionen starten und z.B. Schalter bedienen, Türen öffnen oder versuchen, andere Hindernisse aus dem Weg zu räumen.
Mit den hauptsächlich in Grautönen gehaltenen Szenerien wird die Basis für ein gleichermaßen packendes wie deprimierendes Abenteuer gelegt.
Doch wo Limbo sich zwar als düster und hinsichtlich des Ablebens der Hauptfigur visuell extrem gnadenlos gezeigt hat, aber letztlich auch immer das Hoffnungsvolle eines Märchens mit gutem Ende ausstrahlte, führt mich Inside schnell auf eine verstörende Odyssee. Eine düstere bis bedrückende Reise, bei der kurz aufblitzende Hoffnungsschimmer schnell durch die nächste Entdeckung oder das nächste Rätsel nicht nur gedämpft, sondern mitunter komplett ausgelöscht werden. Ein deprimierendes Spiel, gegen das Einblicke in die Abgründe der menschlichen Seele wie The Cat Lady beinahe wie ein Clown auf einem Kindergeburtstag wirken. Das Abenteuer dieses anonymen Jungen ist ein knallharter Kampf ums Überleben, wobei die Beweggründe und das Umfeld lange unklar bleiben. Was feststeht ist nur, dass eine Entdeckung durch die mysteriösen Erwachsenen oder ihre Hunde, Kameras usw. fatale Folgen hat. Schon bei den ersten Fehlversuchen muss ich schwer schlucken. Ein Erwachsener hält dem Jungen einfach den Mund zu, bis er nach langer Qual in sich zusammensackt. Ein Hund stürzt sich auf ihn und reißt ihm die Kehle auf. Später kommen Druckwellen hinzu, die ihn zerfetzen. Oder übernatürliche Wesen, die unter Wasser atmen können und sein Mini-U-Boot ähnlich wie die Kapsel von Michael Biehn im Finale von James Camerons The Abyss implodieren lassen.
Gnadenlose Betroffenheit
Freund oder Feind? In jedem Fall lauert hier Gefahr.
War Limbo schon gnadenlos, kommt hier eine Schonungslosigkeit hinzu, die jeden Bildschirmtod zu einem schmerzhaften Scheitern macht. Ich habe Mitleid mit dem Jungen, dessen Schicksal und Beweggründe für mich bis zum Ende unklar bleiben. Ich weiß nur, ich muss ihn irgendwie schützen, mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln. Doch wenn mir Inside in einer mit ihren willenlosen grauen gebrochenen menschlichen „Hüllen“ gefüllten Dystopie, die an die Zeichentricksequenzen aus Pink Floyd’s „The Wall“ erinnert, selbst die kurzzeitig aufkommende Hoffnung, alles würde zu einem guten Ende führen, immer wieder unter den Füßen wegzieht, stürze ich in ein emotionales Loch. Inside schafft es beinahe mühelos, mich mit einem grenzgenialen Zusammenspiel aus Bild und Ton in diese bedrückende Welt zu ziehen. Und hier habe ich nur zwei Möglichkeiten: Entweder ich helfe dem Jungen, komme was will. Oder aber ich freunde mich mit der Kernaussage an, die in meinen Augen „Nur der Tod bringt Erlösung“ lautet. Wie dem auch sei: Inside ist das erste Spiel, bei dem ich mich zwingen muss, eine Pause zu machen. Nicht, weil die Inhalte oder die Technik schlecht ist oder ich ob des Schwierigkeitsgrades frustriert die Segel streiche. Sondern weil ich das Gefühl habe, dass ich den Jungen länger und effektiver schützen kann, wenn ich mal ein paar Minuten nichts mache. Und weil mir die Atmosphäre gewaltig aufs Gemüt schlägt und ich mich stattdessen mit positiven Gedanken beschäftigen muss, bevor ich einen erneuten Abstecher in die depressive Dystopie von Inside unternehmen kann. Ich bewundere und hasse Playdead gleichermaßen, dass sie mich mit einfachen Mitteln in derartige Gefühlshöhen und –Tiefen stürzen.