Inside29.06.2016, Mathias Oertel

Im Test: Ein unvergleichliches Erlebnis

Mit Limbo haben die Dänen von Playdead 2010 einen Überraschungshit gelandet und die Xbox 360 als Indie-Plattform populär gemacht. Und ihr zweites Projekt hat spätestens dann Wellen geschlagen, als Microsofts ID@Xbox-Chef Chris Charla auf der E3-Pressekonferenz davon sprach, dass Inside eines der besten Spiele sei, die er bislang gespielt habe. Kann das düstere Abenteuer die Erwartungen erfüllen? Der Test gibt die Antwort.

Harter Tobak

Ich befasse mich seit über 30 Jahren intensiv mit Spielen und schreibe seit über 15 Jahren über interaktive Erlebnisse, Erfahrungen und Eindrücke. Doch noch nie hatte ich so viele Schwierigkeiten mit einem Test wie mit Inside. Nicht, weil der Titel technisch oder mechanisch Probleme hätte – ganz im Gegenteil. Der Nachfolger zu Limbo setzt prinzipiell genau dort an, wo das düstere Märchen aufgehört hat. Sprich: Alles beginnt weitgehend harmlos. Ein Junge stürzt in einem dunklen Wald einen Abhang hinunter, bevor man die Kontrolle über ihn übernimmt. Man bewegt ihn durch die meist seitwärts, aber in manchen Momenten auch in alle Richtungen scrollenden Abschnitte. Mit einer Taste kann man springen, mit einer anderen kontextsensitive Aktionen starten und z.B. Schalter bedienen, Türen öffnen oder versuchen, andere Hindernisse aus dem Weg zu räumen.

Mit den hauptsächlich in Grautönen gehaltenen Szenerien wird die Basis für ein gleichermaßen packendes wie deprimierendes Abenteuer gelegt.
Doch wo Limbo sich zwar als düster und hinsichtlich des Ablebens der Hauptfigur visuell extrem gnadenlos gezeigt hat, aber letztlich auch immer das Hoffnungsvolle eines Märchens mit gutem Ende ausstrahlte, führt mich Inside schnell auf eine verstörende Odyssee. Eine düstere bis bedrückende Reise, bei der kurz aufblitzende Hoffnungsschimmer schnell durch die nächste Entdeckung oder das nächste Rätsel nicht nur gedämpft, sondern mitunter komplett ausgelöscht werden. Ein deprimierendes Spiel, gegen das Einblicke in die Abgründe der menschlichen Seele wie The Cat Lady beinahe wie ein Clown auf einem Kindergeburtstag wirken. Das Abenteuer dieses anonymen Jungen ist ein knallharter Kampf ums Überleben, wobei die Beweggründe und das Umfeld lange unklar bleiben. Was feststeht ist nur, dass eine Entdeckung durch die mysteriösen Erwachsenen oder ihre Hunde, Kameras usw. fatale Folgen hat. Schon bei den ersten Fehlversuchen muss ich schwer schlucken. Ein Erwachsener hält dem Jungen einfach den Mund zu, bis er nach langer Qual in sich zusammensackt. Ein Hund stürzt sich auf ihn und reißt ihm die Kehle auf. Später kommen Druckwellen hinzu, die ihn zerfetzen. Oder übernatürliche Wesen, die unter Wasser atmen können und sein Mini-U-Boot ähnlich wie die Kapsel von Michael Biehn im Finale von James Camerons The Abyss implodieren lassen.

Gnadenlose Betroffenheit

Freund oder Feind? In jedem Fall lauert hier Gefahr.
War Limbo schon gnadenlos, kommt hier eine Schonungslosigkeit hinzu, die jeden Bildschirmtod zu einem schmerzhaften Scheitern macht. Ich habe Mitleid mit dem Jungen, dessen Schicksal und Beweggründe für mich bis zum Ende unklar bleiben. Ich weiß nur, ich muss ihn irgendwie schützen, mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln. Doch wenn mir Inside in einer mit ihren willenlosen grauen gebrochenen menschlichen „Hüllen“ gefüllten Dystopie, die an die Zeichentricksequenzen aus Pink Floyd’s „The Wall“ erinnert, selbst die kurzzeitig aufkommende Hoffnung, alles würde zu einem guten Ende führen, immer wieder unter den Füßen wegzieht, stürze ich in ein emotionales Loch. Inside schafft es beinahe mühelos, mich mit einem grenzgenialen Zusammenspiel aus Bild und Ton in diese bedrückende Welt zu ziehen. Und hier habe ich nur zwei Möglichkeiten: Entweder ich helfe dem Jungen, komme was will. Oder aber ich freunde mich mit der Kernaussage an, die in meinen Augen „Nur der Tod bringt Erlösung“ lautet. Wie dem auch sei: Inside ist das erste Spiel, bei dem ich mich zwingen muss, eine Pause zu machen. Nicht, weil  die Inhalte oder die Technik schlecht ist oder ich ob des Schwierigkeitsgrades frustriert die Segel streiche. Sondern weil ich das Gefühl habe, dass ich den Jungen länger und effektiver schützen kann, wenn ich mal ein paar Minuten nichts mache. Und weil mir die Atmosphäre gewaltig aufs Gemüt schlägt und ich mich stattdessen mit positiven Gedanken beschäftigen muss, bevor ich einen erneuten Abstecher in die depressive Dystopie von Inside unternehmen kann. Ich bewundere und hasse Playdead gleichermaßen, dass sie mich mit einfachen Mitteln in derartige Gefühlshöhen und  –Tiefen stürzen.

Dabei sind die grundsätzlichen Mechaniken überschaubar. Die Rätsel sind bis auf wenige Ausnahmen sehr intuitiv und nahtlos in die Umgebung integriert, aber manchmal zu leicht. Das Klettern ist unkompliziert. Es gibt keine Sprintoption, mit der man kurzzeitig den Verfolgern ein Schnippchen schlagen kann. Und doch wird beinahe jede Szene zu einem Erlebnis, das mitunter bizarre Formen annehmen kann – wie z.B. in der Anfangsphase: Nachdem der Junge ein Schwein von einer Art Parasit befreite, der das Tier gesteuert hat, kann man auf dem Vieh zu einem Seil reiten und von dem Rücken des Schweins danach greifen. Nur hatte ich den Denkfehler gemacht, dass es sich um ein Tau handelte, an dem der Junge evtl. zu einer weiteren Position hätte schwingen können. Denn tatsächlich handelte es sich um eine Art "Denkkappe", die sich der Junge über den Kopf stülpte und an der er nun hing. Mit dem Ergebnis, dass sich seine Bewegungen auf eine Horde willenloser "Hüllen" übertrug, so dass er mit Ihnen nun Schalter oder Türen betätigen konnte, die vorher unerreichbar waren.

Ein kleines Meisterwerk?

Die Rätsel sind zwar manchmal zu leicht, aber durchweg harmonisch in die Spielwelt eingebunden.
Doch Playdead macht nicht den Fehler, den Spieler mit einem Stakkato aus Verfolgungssequenzen und Umgebungsrätseln zuzuschütten. Das Spieltempo wird stets wunderbar variiert. Auf eine teils Nerven zerfetzende und im Negativfall herzzerreißende Verfolgungsjagd oder Schleichsequenz folgt Ruhe. Ein Rätsel wird abgelöst von einer neuen Szenerie, in der man die entstehende Atmosphäre wie in einem Wandersimulator (die ich eigentlich nur mit negativen Assoziationen verbinde) aufsaugt. Auf aufkeimende Hoffnung, nachdem man geflohen und damit der Freiheit einen Schritt näher gekommen ist, folgt bereits die nächste aussichtlose Bedrohung, die nur eines zu schreien scheint: "Gib auf! Du kannst nicht entkommen!" Auch wenn Inside komplett auf Sprache oder Texte verzichtet, entwickelt sich im Kopf auch dank der sparsam, aber sehr effektiv eingesetzten Musik schnell eine Geschichte und ein Gespür für diese das Leben verachtende Welt voller Gefahren. Dass dabei viele Fragen offen bleiben, die Interpretationsspielraum lassen und daher für jeden zu einer anderen Erfahrung führen, ist gleichermaßen bemerkenswert wie verstörend. Wieso werden Menschen am Anfang wie zur Zeit des Holocaust wie Tiere in einen LKW verfrachtet und abtransportiert? Wieso können sich die grauen, nur noch durch den aufrechten Gang an Menschen erinnernde Hüllen auch noch bewegen, wenn sie mehrere Meter auf den Boden aufprallen oder Arme und Beine verlieren? Wieso ist die Hauptfigur das einzige Kind weit und breit? Dass sich Inside standhaft weigert, auch nur ansatzweise Antworten preiszugeben, rechne ich Playdead hoch an.

Die düster-dystopische Welt von Inside steckt voller Geheimnisse und offener Fragen.
Dass die Kulisse ihren Teil als Erzähler beiträgt, ist dem von Anfang bis Ende gelungenen Artdesign zu verdanken. Statt wie bei Limbo auf ein Schattenspiel mit klaren Schwarz-Weiß-Strukturen zu setzen, baut Inside auf die Zwischentöne. Dabei setzt man natürlich auch auf die Wirkung, die das Grau-in-Grau mit nur wenigen Lichtblicken und noch weniger Farbsprengseln wie dem roten Pulli des Jungen auf die Gemütsstimmung hat. Doch Licht-, Partikel- und sonstige Effekte sorgen zusammen mit den sorgsam modellierten Levelstrukturen stets für eine überzeugende Grundstimmung. Und darüber liegen die fantastischen und mit viel Liebe erstellten Animationen des Jungen. Egal ob er sich panisch umschaut, stolpert, abrollt, schwimmt, taucht, wartend versucht seine Puste wiederzubekommen, klettert, Schalter umlegt oder schleicht: Immer wieder entdeckt man lebensnahe kleine Bewegungen, die dafür sorgen, dass man ihn noch mehr ins Herz schließt, die den Beschützerdrang noch mehr verstärken. Einzig das etwas steife Treppensteigen wirkt angesichts der enorm hohen visuellen Qualität etwas unpassend, die nach fünf Jahren Entwicklungszeit ein intensives Plädoyer dafür ablegt, dass eine stimmige und kohärente Atmosphäre immer noch wichtiger ist als jegliches Polygonprotzen.

Fazit

Zu Teilen ist Inside das 2D-Gegenstück der mir eigentlich verhassten Wander-Simulatoren. Es gibt immer wieder Abschnitte, in denen die ohne Worte oder Texte auskommende Geschichte nur über die audiovisuelle Kulisse erzählt wird, die man in sich aufsaugt, während quasi nichts passiert. Doch obwohl ich mit Spielen wie The Vanishing of Ethan Carter oder Firewatch wenig anfangen kann, nimmt das Schicksal dieses Jungen sowohl meine Fantasie als auch meine Emotionen gefangen. Wieso ist er auf der Flucht? Was hat die Gesellschaft so kaputt gemacht? Dass Playdead dabei konsequenter als noch beim vergleichsweise freundlichen Märchen Limbo mit gnadenloser Schonungslosigkeit vorgeht und mich in eine dystopische Welt entführt, in der nur der Tod eine Erlösung zu sein scheint, ist für die meist auf Happy-Enden ausgelegte Spiele- oder Filmwelt ungewöhnlich. Und es hat bei mir zu Momenten geführt, in der mich das Leiden des Knirpses so runtergezogen hat, dass ich mich zwingen musste weiterzuspielen. Doch ich habe die immer wieder eingestreuten intelligenten sowie intuitiven, aber gelegentlich auch zu leichten Umgebungsrätsel auch deswegen gerne gelöst, weil die Hoffnung auf eine erfolgreiche Flucht immer mitspielt. Ist das düstere Abenteuer für mich eines der besten Spiele, die ich bislang gespielt habe, wie es bei Microsofts ID@Xbox-Director Chris Charla der Fall war? Es ist definitiv eines der prägendsten Spiele, die ich in den letzten Jahren erleben durfte. Ein Erlebnis, das ich nicht missen möchte. Weil es mich mit einfachen Mitteln auf eine emotionale Reise mitnimmt, die ich in dieser Intensität nur selten gespürt habe.

Pro

fantastisches Artdesign
sehr schicke Animationen
intensive bedrückende Atmosphäre
intelligent eingebundene Umgebungsrätsel
schonungslose Konsequenz
Bilder und Geschichte regen zum Nachdenken an

Kontra

manche Rätsel zu leicht

Wertung

XboxOne

Inside ist mehr als die Summe seiner Einzelteile. Der Limbo-Nachfolger erzählt mit einfachen Mitteln eine ebenso mitreißende wie deprimierende Geschichte und wird dadurch zu einem Erlebnis.

PC

Der Limbo-Nachfolger erzählt auch am PC eine ebenso mitreißende wie deprimierende Geschichte - ein einzigartiges Erlebnis!

0
Kommentare

Du musst mit einem 4Players-Account angemeldet sein, um an der Diskussion teilzunehmen.