Unravel11.02.2016, Mathias Oertel
Unravel

Im Test: Das emotionale Wollknäuel

Es war eine der großen Überraschungen der letzten E3: Electronic Arts präsentierte auf seiner Pressekonferenz Unravel (ab 19,98€ bei kaufen), ein Projekt des unabhängigen schwedischen Studios Coldwood Interactive. Das Spiel schien so ganz untypisch für die Kalifornier: Es setzte auf ein kleines Budget sowie leise Töne - und man zeigte mit dem animierten roten Wollmännchen Yarny eine sehr sympathische Hauptfigur. Jetzt ist Unravel erhältlich und muss im Test zeigen, ob das "kleine" Spiel für großen Aufruhr sorgen kann.

Der rote Faden

Unravel ist eines dieser Spiele, die man einfach mag - oder auch nicht. Es gibt keine Sprachausgabe. Es lässt sich mitunter viel Zeit, um die kryptische Geschichte über die Landschaft, die stimmungsvolle Musik oder die subtilen Animationen der roten Hauptfigur Yarny zu erzählen, einem Männchen, das aus Strickwolle besteht. Seine Suche nach Erinnerungen, die man nach Abschluss eines Abschnitts in einem Fotoalbum anschauen kann und die sich sprichwörtlich als roter Faden durch zehn Abschnitte erstreckt, ist gespickt mit Rätseln und Gefahren, die durch den fotorealistischen Ansatz des Artdesigns nur noch bedrohlicher erscheinen. Wenn Yarny durch tiefen, fantastisch aussehenden, in der skandinavischen Sonne glitzernden Schnee stapft und versucht, sich mit seinen kleinen Wollarmen warm zu halten, möchte man ihn am liebsten aus dem Bildschirm herausnehmen und vor einen wärmenden Ofen setzen.

Das kleine Wollknäuel Yarny begibt sich auf ein großes Abenteuer und muss dabei auch Fische zähmen.
Man startet allerdings jeweils in einem altmodisch eingerichteten Haus, klettert dort über die Möbel und nutzt die Fähigkeiten Yarnys, seine Wolle als Lasso auszuwerfen oder sich irgendwo anzuhängen und sich hochzuziehen, um die verschiedenen eingerahmten Bilder zu erreichen, die als Einstieg zu den Abschnitten dienen. Am Ende jedes bewältigten Levels kehrt man in das Wohnzimmer zurück, wo auf einem Tisch das Erinnerungsalbum liegt, das nach und nach gefüllt wird. Wieso man allerdings immer wieder hier startet und erneut durch bereits bekannte und vor allem besuchte Zimmer stapft, bis man zum nächsten noch nicht besuchten Bild gelangt, will sich mir partout nicht erschließen. Andererseits wird die ohnehin nicht üppige Spielzeit, jeder Abschnitt dauert mit etwaigen Neustarts an den fair gesetzten Kontrollpunkten etwa zwischen 15 und 30 Minuten, durch die zusätzlichen Wege nur unwesentlich gestreckt.

Durch dick und dünn

Die Suche nach Erinnerungen ist mitunter idyllisch, kann aber auch gefährlich werden.
Wieso Yarny die mühsame Reise auf sich nimmt, in der er nicht nur Wälder oder Hafengebiete, sondern auch Atommülldeponien, Schrottplätze und ähnliche gefährliche Areale durchquert, die allesamt von nordskandinavischen Landstrichen inspiriert sind, lässt Spielraum für Interpretation. Ich z.B. fühlte mich vor allem in der Anfangsphase an die Introsequenz aus Pixar's "Oben" erinnert. Und je nachdem, wie und als was man Yarny wahrnimmt, ändert sich auch die Sicht auf das emotionale Finale. Doch was sich nicht ändern dürfte, ist die Fürsorge, die man Yarny auf seiner Reise zukommen lassen möchte. Das lebendig gewordene Wollknäuel (wieso eigentlich?) mit den spitzen Ohren schüttelt sich, wenn es nass geworden ist oder um den Schnee von den Ohren zu wirbeln. Er stemmt sich gegen Wind und Wetter, rutscht mit kleinen, überzeugend realistisch wirkenden Animationen über kleine Eisflächen und ist erstaunlich leidensfähig. Er muss sich mit wild gewordenen Krabben auseinandersetzen, sich angreifender Raben erwehren oder vor unterirdisch lebenden Nagern fliehen, die seine Wolle vermutlich als Nestmaterial nutzen wollen.

Und ganz nebenbei muss er mit Steinschlägen fertig werden, versuchen, in einem Gewitter zu überleben, einen Schneesturm bewältigen, sich heftigen Wellengangs erwehren, Stromschlägen entkommen und vielem mehr. Über die zehn Abschnitte hinweg hat man gut zu tun, um Yarny am Leben zu halten. Und man muss die clever konstruierten Umgebungsrätsel bewältigen, die dafür sorgen, dass sich Tore öffnen, Maschinen starten oder man weggeworfene Dosen als Trittleiter verwendet, um sich zum nächsten Kontrollpunkt zu retten. Das Besondere: Yarny lässt stets einen roten Faden zurück. Der wiederum rollt sich von seinem Körper ab. Und das bedeutet, dass Yarny nur begrenzt Wolle zur Verfügung hat, bevor er abgemagert und halbdurchsichtig nicht mehr weiter kann und zurück muss, um seinen "Körper" wieder zu stopfen. Auffüllen kann er seine Wolle nur an einem der Kontrollpunkte - an den jeweils letzten kann man übrigens jederzeit komfortabel zurückkehren, wenn man sich verfranst haben sollte.

Knoten, Lassos, Wollbrücken

Mit den wenigen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten Yarnys, seine Wolle zu verwenden, werden clevere Umgebungsrätsel konstruiert.
Und das kann durchaus häufiger vorkommen. Allerdings nicht, weil die Umgebungs-Rätsel derart komplex sind - es sei denn, man möchte die fünf meist gut gehüteten Geheimnisse jedes Abschnitts lüften. Für diesen Fall ist ein geschicktes Zusammenspiel aus Plattform-Fähigkeiten und Puzzle-Lösungen nötig. Die Standard-Rätsel, die sich auf das Vorwärtskommen Yarnys beschränken, sind überschaubar: Alles, womit man in Wollform interagieren kann, ist mit einem roten Faden bzw. leichten Schimmern versehen, sobald man in die Nähe kommt. So kann man z.B. die Wolle als Lasso auswerfen und sich danach am dadurch entstandenen Seil entweder hochziehen oder wie an einer Liane schwingen - natürlich gibt es Passagen, in denen man beinahe wie Spider-Man ohne Bodenberührung die Wildnis durchstreift. Um bestimmte Schalter zu ziehen, ist das Lasso ebenfalls das bevorzugte Mittel.

Man kann allerdings den Faden an einigen Punkten verknoten und sich dann z.B. abseilen -€“ auch das Befestigen an mobilen Gegenständen ist möglich. Eine weitere Option, die sich durch die Knoten

Die stimmungsvolle Kulisse ist jederzeit ansehnlich.
ergibt: Man kann "žSeilrampen"€œ bauen, über die man dann Gegenstände zieht bzw. schiebt, die es einem ermöglichen, höher gelegene Gebiete zu erreichen oder anderen Gefahren  aus dem Weg zu gehen. Diese Rampen oder Brücken kann man allerdings auch als Sprungrampen nutzen, die Yarny mitunter gefährlich hoch in die Luft katapultieren. Allerdings muss man aufpassen: Viele Knoten und Rampen bedeutet, dass man evtl. nicht mehr genug Wolle zur Verfügung hat, um den nächsten Kontrollpunkt zu erreichen. Das wiederum hat zur Folge, dass man entweder die Rücksetzfunktion nutzt, um einen erneuten, besser geplanten Versuch zu unternehmen. Oder aber man geht all seine Schritte zurück, löst die nicht mehr benötigten Knoten, Brücken und Rampen und hofft, dass man sich dabei nicht gleichzeitig den Weg zum Ziel weggenommen hat. Problematisch wird es in jenen Fällen, wenn man erst kurz vor dem Levelausgang feststellt, was eigentlich gefordert ist und man seine gesamte Puzzle-Strategie über den Haufen werfen muss. Diese Momente sind zwar innerhalb der zehn Abschnitte spärlich gesät, bergen aber dennoch Frustpotenzial. Doch dann schaue ich Yarny an, der verloren und frierend in der Landschaft steht und der Frust wird in geregelte Bahnen gelenkt.

Fazit

Wer auch immer bei Electronic Arts dafür verantwortlich war, diesen charnmanten Puzzle-Plattformer unter Vertrag zu nehmen, kann sich auf die Schulter klopfen. Mit seiner Ruhe, dem gemächlichen Erzähltempo, der Macht der Bilder und dem herrlich liebenswerten Yarny als leidensfähigem Protagonisten scheint dieses Indie-Projekt so gar nicht in das sonst so laute sowie auf Action fokussierte Portfolio des Branchenriesen zu passen. Hinzu kommt, dass Unravel mit seinen abwechslungsreichen Landschaften, den überzeugenden Animationen sowie realistisch wirkender Physik jederzeit einen visuell sehr sauberen und stimmungsvollen Eindruck hinterlässt. Auch mechanisch ist die Reduktion auf nur wenige Elemente, die aber dennoch zu anspruchsvollen Umgebungsrätseln verknüpft werden müssen, eine angenehme Abwechslung vom Plattformeinerlei und am ehesten mit A Boy and His Blob zu vergleichen. Mitunter ist der Weg zum Ziel zwar nicht mit Logik, sondern nur mit manchmal überstrapaziertem Trial-and-Error zu erreichen. Doch man will dem niedlichen Wollknäuel bei seiner emotionalen Reise in die Vergangenheit einfach helfen.

Pro

physikalische Rätsel und Plattform-Herausforderungen
ansehnliche Animationen
wunderschöne idyllische Kulisse mit vielen Details
faire Speicherpunkte
akkurate Kollisionsabfrage
stimmungsvolle Musikuntermalung
ruhige, emotionale Erzählung

Kontra

mitunter Trial-and-Error
gelegentlich Backtracking nötig
Musik reagiert nicht dynamisch

Wertung

PC

Kleines Spiel, große Emotionen: Yarnys abenteuerliche Suche nach Erinnerungen überrascht trotz leichter Frustmomente mit einem cleveren Rätseldesign und einer stimmungsvollen Kulisse.

PlayStation4

Auch wenn es kleine Frustmomente gibt, ist Unravel ein sympatischer Puzzle-Plattformer, der nicht nur mit seinen cleveren Rätseln, sondern auch einer emotionalen Geschichte punktet.

XboxOne

Unravel bietet eine stimmungsvolle Kulisse, eine ruhige sowie emotionale Geschichte, eine sympathische Hauptfigur und gelungene Umgebungsrätsel.

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