Im Test: 1000 Jahre später
Ein anderes Zeitalter
Es war eine kluge Entscheidung, Rollenspieler zwar in dieselbe Fantasywelt, aber in ein anderes Zeitalter zu entführen. Das lässt sowohl erzählerisch als auch inhaltlich viel Raum für frische Impulse. Gleichzeitig kann man grundlegende Konzepte wie etwa den Begriff "Source" als eine Quelle der Magie oder "Void" als eine Art dämonische Parallewelt weiter nutzen, um die eigene mythologische Tradition fortzuführen. Kenner des Vorgängers werden übrigens einige Bücher mit Anekdoten sowie genug Bezüge aus der alten Epoche finden. Aber das Abenteuer beginnt 1000 Jahre nach den Ereignissen aus Divinity: Original Sin. Und man muss die Geschichte der Welt nicht kennen, um sich in ihr zurechtzufinden. Immer noch beten Menschen, Elfen, Echsen, Zwerge, Orks & Co zu ihrem jeweils eigenen Gott. Aber das Reich von Rivellon steht vor einem Wendepunkt.
Polyvalente Charaktere
Auch wenn der Name "Sourcerer" einen Zauberer vermuten lässt, kann man im Rahmen der vielfältigen Charaktererstellung aus acht Rassen sowie ihre untoten Varianten und vierzehn "Klassen" wählen - darunter Hexer, Magier, Gestaltwandler, Kleriker,
Als eher konservativer Rollenspieler stehe ich dieser Freiheit meist skeptisch gegenüber, weil sie zu einer Beliebigkeit mit unrealistischen Nebenwirkungen führen kann, die mit den eigentlichen Werten nichts zu tun hat - zumal hier sogar die Ausrüstung arkane Fähigkeiten verleiht: Wenn ein "Krieger" einen Helm aufsetzt, der ihm Nekromantie plus eins verleiht, kann er eben auch mit seinem spärlichen IQ einen Untoten beschwören; zieht er die Handschuhe des Diebes an, kann er sich auch ohne großes Geschick am Taschendiebstahl versuchen. Das sorgt quasi für polyvalente Helden und man managt zumindest das Inventar seiner vierköpfige Gruppe wesentlich zeitintensiver als in Rollenspielen mit fester Klasse, weil man über das geschickte Tauschen von Ausrüstung ständig hier oder da etwas mehr Effizienz sowie andere Zauber herausholen kann.
Das klingt aber kritischer als es ist, denn innerhalb der Charakterentwicklung gibt es genug Raum. Gleich zu Beginn kann man sich für exklusive Hintergründe wie etwa "Soldat" oder "Adliger" entscheiden, die ganz eigene Gesprächszweige öffnen - dem einen fällt in späteren Dialogen z.B. die Bewaffnung auf, der andere enttarnt Schauspieler. Dazu gibt es weiterhin sinnvolle Spezialisierungen über Werte, denn der Waffenschaden skaliert z.B. bei Schwertern mit der Stärke oder bei Dolchen mit der Finesse, der Zauberschaden mit der Intelligenz oder der erhöhten Punktzahl in der betreffenden Magieschule - sie sind also nicht überflüssig. Hinzu kommen spezielle Talente für Einhandwaffen, doppelte Klingen oder Fernkampf, besondere rhetorische Fähigkeiten wie die Überzeugungskraft oder kollektive Talente, wie die Führung, die sich auf Widerstände sowie Ausweichwerte in der Gruppe auswirken. Nach einem Aufstieg kann man also genug markante Zeichen setzen, so dass klare Unterschiede erkennbar sind. Und keine Bange, was das "Verskillen" betrifft: Es gibt früh genug einen Punkt in diesem etwa 80-stündigen Biest von Spiel, an dem man alles wieder neu verteilen kann.
Rote Prinzen und untote Gestaltwandler
Ganz wichtig ist das eigentliche Salz in der Charakterauswahl: Es gibt sechs vorgefertigte Helden mit eigenen, zum Teil sehr interessanten Biografien und hervorragenden englischen Sprechern, die ihnen markante Persönlichkeit einhauchen. Ich kann nur empfehlen mit einer dieser Figuren wie dem exzentrischen Roten Prinzen, der zickigen Zauberdiva mit Dämon im Kopf oder dem desillusionierten Rächer Ifan zu starten, denn sie bieten nicht nur persönliche Questreihen und Hintergründe, sondern sie werden aufgrund ihrer Ecken und Kanten richtig lebendig. Und sie geben exklusive Antworten in Dialogen, die ihren Charakter nochmal unterstreichen. Wenn man dann in einer vierköpfigen Gruppe unterwegs ist, was für die komplette Kampagne auch kooperativ online mit Freunden möglich ist, kann man vor Gesprächen die Hauptperson wechseln. Denn je nach Rasse oder Status reagieren die Bewohner meist recht unterschiedlich.
Eine reife Regie
Die Regie wirkt insgesamt deutlich reifer und vielschichtiger, man könnte fast "epischer" sagen. Das liegt nicht in erster Linie an der geschickt integrierten Stimme des Erzählers, der immer wieder einzelne Situationen (74.000 Zeilen komplett vertont!) wie ein Spielleiter
Damit nähert sich die Dramaturgie jener von Pillars of Eternity an, ohne dass dabei der Humor außer Acht gelassen wird. Im Gegenteil: Er zwinkert einem immer wieder in den köstlichen Dialogen zu, außerdem gibt es abseits der Gefährten viele skurrile Charaktere mit kleinen und großen Ticks. Zwar ist auch das Alberne immer noch da, und vor allem die Zwerge versinken meist ganz tief im bärbeißigen Klischeekeller. Nur schmunzelt man diesmal mit der angenehm bösen Ahnung im Nacken, dass sich da wirklich etwas Bedrohliches über der Welt zusammenbraut. Oder gar in einem selbst? Gleich zu Beginn flüstert eine mysteriöse Stimme: "I have plans for you, child. Rise." Ach so: Zum Start meines Abenteuers gab es noch keine Übersetzung, aber die wurde mit den ersten Patches nachgeliefert - ihr könnt also komplett auf Deutsch loslegen.
Gerade diese verwirrenden Momente sowie die vielen Graustufen innerhalb der Story, die eben nicht
Die zweischneidige Defensive
Die rundenbasierten Gefechte verlangen das genaue Analysieren der Situation im Gelände sowie die Betrachtung der defensiven Statistiken der Feinde. Denn ähnlich wie in The Banner Saga muss man zunächst die in zwei Bereiche getrennte Verteidigung durchbrechen, um Schaden anzurichten - vorher prallt quasi alles ab, selbst die mächtige Klinge eines Zweihänders oder ein sengender Feuerball. Auch viele verletzende Effekte wie etwa das Bluten, Vergiften und Brennen oder Statusänderungen wie Schlaf, Raserei oder Verwandlungen treten erst dann ein, wenn man die entsprechende Verteidigung komplett aufgerieben hat. Es braucht also deutlich mehr Planung als im Vorgänger, um mächtige Nebenwirkungen auszulösen - was einfaches Hack & Slay verhindert.
Taktisches Kampfsystem mit vielen Kombos
Trotzdem entsteht eine angenehme taktische Grübelei, in der vor allem physikalische Kettenreaktionen im Vordergrund stehen. Ich bin zwar eher ein Freund der "Low Fantasy" und der authentischen Kampfsysteme mit Trefferzonen à la The Age of Decadence, wo eher der Nahkampf mit Klingen & Co im Vordergrund steht. Aber was die Larian Studios hier an arkaner Vielfalt
Man kann ein Feuer mit Regen löschen, sich hinter dem Qualm vor Distanzattacken schützen oder Feinde hinein locken und diesen dann per Elektrostrahl zur Killerwolke aufladen - damit alle was davon haben. Gerade diese Verknüpfungen lassen viel Raum für Experimente. Hinzu kommen viele coole Aktionen, die keiner Kombo bedürfen: Ich kann Blut regnen, meinen Schild von Feind zu Feind springen oder nach einem Luftsprung noch Pfeile auf meine Feinde jagen lassen. Außerdem ist da das ganz wichtige Teleportieren von Freund und Feind: So kann ich z.B. schwer verletzte Gefährten aus einem Handgemenge oder einem Säuremeer retten oder wenig verletzte Gegner zu mir in die Mitte holen, wo sie flankiert werden und mehr Schaden nehmen. Auch die Telekinese ist im Kampf einsetzbar, um weit entfernte Fässer mal eben in das kleine Feuer zu befördern, damit es richtig entfacht wird. Aber die Vielfalt hat auch ihren Preis, denn manchmal ist das einfach zu viel Spielplatz: Reichlich unrealistisch wird es etwa, wenn man in aller Seelenruhe ganze explosive Fässerburgen direkt um einen Feind herum bauen kann, ohne dass er darauf reagiert und sich wundert - startet man dann den Kampf, reicht natürlich ein Feuerpfeil für ein Flammenmeer...
Defizite im Gelände
Ein weiterer Nachteil dieser Fülle: Das manchmal unvermeidliche Chaos, wenn die eigene Gruppe plötzlich im selbst ausgelösten Flächbrand getroffen wird, weil man die Ausmaße einer Kettenreaktion nicht abschätzen kann. Daher ist die Positionierung vor und während des Kampfes enorm wichtig; dafür kann man die Gruppe komfortabel über Formationen staffeln oder noch besser: sie ganz trennen, so dass man sie einzeln postiert. Vor allem im Schleichmodus kann man dann sehr gut die Sichtkegel erkennen und vielleicht unentdeckt an einen Ort oder hinter den Feind kommen, um ihn hinterhältig zu attackieren. Sehr schön ist, dass das während des Gefechts nicht so einfach ist, weil man beim Umrunden automatisch vom Gegner getroffen werden kann.
Schade ist, dass die optionale taktische Perspektive aus der Draufsicht nur so wenig vom Gelände zeigt; da vermisst man einen weiteren Zoom, so dass man mit der frei dreh- und zoombaren Kamera der normalen Ansicht besser bedient ist. Ärgerlich sind einige fehlerhafte bzw. zu penible Berechnungen der Sichtlinien und Reichweiten, so dass man einen wenige Meter entfernten Feind einfach nicht anvisieren kann, nur weil er etwas niedriger steht; gleichzeitig wird man im Nahkampf auf einem Podest getroffen, obwohl der Feind unten steht und durch das Holz schlagen müsste. Überhaupt gibt es trotz visueller Hindernisse manchmal keine Kollisionsabfrage, was auch bei Zaubern aus der Distanz negativ auffällt. Allerdings darf man nicht vergessen, dass Divinity hier mit so vielen Elementen spielt, die man sonst nicht in Rollenspielen dieser Art findet, dass man die taktische Fülle trotz der Defizite unterm Strich nur loben kann. Aber der Anspruch hängt stark mit der gewählten Schwierigkeit zusammen.
Die Wahl der Schwierigkeit
Obwohl ich sonst jedes Rollenspiel grundsätzlich eine Stufe über "normal" spiele: Selbst Kenner des Vorgängers sollten lieber auf "Classic" loslegen. Zum einen kann man die höhere und sehr anspruchsvolle Stufe "Tactician" später nicht mehr wechseln. Schon in den ersten Gefechten gegen vermeintlich einfache Monster muss man
"Tactician" ist schaffbar, aber nicht ausgewogen genug, denn es kann gerade in den wichtigen Kämpfen frustrierende Sackgassen geben, weil vor allem die defensiven Statistiken der Feinde extrem hoch sind. Ein Beispiel: Um den wichtigen finalen Kampf in Fort Joy zu bestehen, muss man eine hoch spezialisierte Entourage besiegen, die Distanzen und Magie, Unsichtbarkeit und Teleports sowie hinterhältige Attacken einsetzt. Hier teilen alle Feinde im Vergleich zu "Classic" nicht nur 50 Prozent mehr Schaden bei besserer Präzision aus, sondern haben auch 50 Prozent mehr physikalische sowie arkane Rüstung, dazu noch aktivierte Auren mit zahlreichen Boni sowie Granaten. Ich habe auf "Tactician" dutzende Versuche und einiges an Glück benötigt, um diese Stelle endlich zu bewältigen. Hier können schonmal Frust und Sackgassengefühl aufkommen, weil es im Gegensatz zu weiten Teilen dieses sonst angenehm offenen Abenteuers keine alternativen Lösungen gibt. So, genug über den Kampf gequatscht, denn Divinity hat noch mehr zu bieten.
Erkundungsreize und Geheimnisse
Eine Stärke dieses Rollenspiels ist die Erkundung im Gelände. Es macht einfach Spaß, die Kamera zu drehen und manchmal genauer hinein zu zoomen. Nicht nur weil die Kulisse so ansehnlich ist, und dabei übrigens selbst mit höchsten Detailstufen kaum Performance frisst, sondern weil es so viele Kleinigkeiten und Geheimnisse zu entdecken gibt. Das fängt schon in der Landschaft an: Man kann verborgene Pfade in versteckte Bereiche finden und wenn man nur nah genug an diese Schlingpflanzen heran geht, entpuppen sie sich vielleicht als Leiter in die Höhe. Manchmal lohnt es sich auch, einer Ratte zu folgen, um alternative Routen zu erkennen. Manchmal trifft man auf Anzeichen für vergrabene Schätze, die man mit einer Schaufel oder als Echse mit seinen Klauen ausbuddeln kann.
Rätselflair à la Portal
Es gibt z.B. ein Labyrinth, das einige Schätze sowie in seiner Mitte einen verfluchten Historiker zeigt, der vor Höllenqualen
Zwar gibt es auch mal Zielmarker sowie eine Karte, manchmal sogar etwas zu früh für meinen Geschmack, aber bei weitem
Apropos Quests: Das ist eine weitere Stärke dieses Abenteuers, denn man kann fast alle kleinen und großen Aufgaben auf mehrere Arten lösen. Das fängt bei primitiven Problemen an: Eine verschlossene Tür? Man braucht natürlich einen Dietrich! Oder man brennt sie nieder oder schlägt sie ein, wobei so manche Waffe zerbrechen kann. Interessanter wird es innerhalb Quests: Nicht nur die Flucht aus dem Lager ist auf viele Arten möglich, auch später kann man so manche heikle Situation ohne Kampf subtil meistern - selbst einen Drachen kann man befreien, wenn man sich einer bösen Hexe ungesehen nähert und gute Diebstahlwerte hat. Hier lässt sich ein kniffliges Gefecht clever umgehen!
Diebstahl und Konsequenzen
Und wo wir beim Klauen sind: Man kann nicht einfach alles mitgehen lassen, Privatbesitz ist rot markiert und manche Tür oder Truhe verschlossen. Zwar wird das leider nicht in allen Bereichen konsequent gemacht und es ist mal wieder komplett unrealistisch, wenn man schon im Lager einfach so in einem Fass wertvolles Gold oder andere Beute findet. Aber die Bewohner reagieren mitunter angenehm authentisch in mehreren Stufen auf Diebstahl: Sobald man sichtbar in den Schleichmodus wechselt, wird man misstrauisch darauf angesprochen. Klaut man trotzdem erfolgreich, wundern sich die Bestohlenen über das Fehlen und
Sehr schön ist zudem, dass man einen speziellen Ruf wie "heroisch" bei seinen Gefährten erreicht, wenn man z.B. besonders edelmütig agiert: Man soll für einen Lageranführer eine verlorene Orange finden, in der sichDrogen befinden. Hat man den Dieb zur Herausgabe überredet und bringt die Beute zurück, verlangt der Auftraggeber, dass man ihn denunziert - wovon die eigenen Gefährten nichts halten, was sie auch betonen. Riskiert man es, ihm eine Absage zu erteilen, hat man einen harten Kampf gegen ihn und seine Schergen vor sich. Aber zuvor erreicht man den Status "Held" bei seinen Freunden. Auch sonst gibt es einiges an Partyinteraktion sowie Beziehungsmanagement: Man kann das Verhältnis zu einem Gefährten zwar zunächst nur anhand einer schnöden numerischen Zahl wie +25 erkennen, die je nach gewählten Antworten in Dialogen oder eben solchen Aktionen steigen oder fallen kann. Aber so ergeben sich irgendwann Romanzen, wenn man die richtigen Worte findet, oder Feindschaften - dafür gibt es einige Schlüsselszenen. Unterm Strich hätte ich mir aber weit mehr Partyinteraktion und Einmischungen in Dialogen gewünscht, gerade während der Erkundung, da waren Wasteland 2 und vor allem Pillars of Eternity lebendiger. Keine Lust auf Beziehungen und Gequatsche? Kein Problem: Ihr könnt das komplette Abenteuer auch als "einsamer Wolf" alleine meistern! Auch das ist lobenswert, denn in den letzten Jahren haben digitale Techtelmechtel durch alle Geschlechter einen etwas zu großen Stellenwert in Rollenspielen eingenommen.
Logikfehler und Inkonsequenzen
Bei allem Lob für die Vielfalt und Offenheit der Quests darf man die Logikfehler allerdings nicht vergessen, die selbst nach einigen Patches noch vorhanden sind: Obwohl ein gesuchter Elf im Kampf
Das ganz große Kino der politischen Folgen à la Tyranny oder The Age of Decadence, wo man bei der Rückkehr in bekannte Orte auch die dortigen Änderungen im lokalen Machtgefüge aufgrund der eigenen Taten beobachten konnte, fährt die Regie nicht auf. Aber trotzdem wirken sich die eigenen Taten spürbar bis hin zu tödlich auf die eigene Gruppe, die Story und ihre möglichen Enden aus - dieses Divinity kann angenehm gnadenlos sein. Und immerhin gibt es ansatzweise auch lokale Konsequenzen: Wenn man etwa aus dem Lager flieht und dann nochmal zurückkehren will, greifen einen die Magister sofort an. Trotzdem mangelt es manchmal an glaubwürdigen kollektiven Reaktionen von Gruppen: Wenn man etwa in Forty Joy alle Magister und ihre Schergen tötet, verhalten sich die Gefangenen als wäre nichts gewesen - niemand flüchtet durch offene Tore oder freut sich angesichts der möglichen Freiheit. Und schon viel früher scheint es sich nicht rumzusprechen, wenn man einzelne Wachposten oder auch wichtige Mitglieder des Ordens niedermacht. Teleportiert man sich raus und kehrt später wieder, bemerkt man keine Alarmierungen, was der Immersion letztlich schadet.
Strukturelle Stärken und Entwicklungen
Aber man darf die strukturellen Stärken sowie die gute Dramaturgie nicht vergessen. Die vermittelt einem nicht nur das Gefühl des Gejagten, sondern bietet neben teilweise spektakulären Showdowns, in denen plötzlich das Who-is-who aus Rivellon auf dem Schlachtfeld steht, auch immer wieder stimmungsvolle Ruhephasen. Die Taverne in Driftwood wird z.B. sehr lebendig inklusive Betrunkener, Barden & Co inszeniert. Und es ist klasse, dass manche Aktionen aus der Vergangenheit viel später belohnt werden: Wer einem untoten Ritter hilft, bekommt nicht nur eine direkte Belohnung, sondern kann irgendwann auf seine wichtige Hilfe hoffen - das gilt auch für einen Drachen.
Aber dann hat man noch lange nicht sein maximales Potenzial erreicht: Erst wenn man das Festland erreicht, erfährt man wiederum in Etappen, wie man seine Macht weiter vergrößern kann, so dass man selbst mit Geistern kommunizieren oder die Kräfte Verstorbener nutzen darf, was wiederum eine neue Ebene öffnet. Das Schöne ist: Auch darauf kann man pfeifen, man kann zumindest in den Dialogen versuchen, sich aus dem großen weltpolitischen Konflikt herauszuhalten. Gerade dieses offene Lavieren zwischen dem klassischen Helden und dem anarchistischen Verweigerer erhöht zusammen mit den daraus resultierenden unterschiedlichen Enden natürlich auch den Wiederspielwert.
Weniger ist mehr
Wo es die Larian Studios aber übertrieben haben: Die Flut an Ausrüstung und vor allem Klimbim! Mir hat das schon in Pillars of Eternity nicht gefallen, irgendwann wie ein wandelndes Kaufhaus rumzulaufen. Ich bin auch hinsichtlich der Beute ein Freund des reduzierten Designs, weil man dann besondere Dinge auch eher wertschätzen kann. Aber scheinbar müssen in allen Kickstarter-Kampagnen diese Crafting-, Aufrüst und Sammelbedürfnisse in XXL befriedigt werden, die zu einem bunten Wust an Kram führen, der mich wiederum so zum Mikromanagement verdonnert, dass man sich fast ein Lager mit Angestellten wünscht.
Ja, das Inventar kann man automatisch sortieren (sogar mit Filterfunktionen!) und natürlich darf man alles verkaufen, außerdem werden neue Waffen direkt mit der ausgerüsteten Variante verglichen. Ich weiß auch kleine Optionen wie etwa das Ausblenden eines Helmes zu schätzen, der einem visuell nicht zusagt. Aber Leute, das ist spätestens nach dreißig Stunden einfach zu viel.
Mir gefällt auch das Prinzip nicht, dass quasi jeder Bewohner ein Händler ist: Erstens ist es komisch, wenn von Magistern gefangene Ketzer in einem Lager so viele Zauberbücher dabei haben. Zweitens fällt es einem deutlich schwerer, spezielle Zauber oder besondere Ausrüstung anhand von Spezialisten wiederzufinden, weil einfach zu viele Leute etwas verkaufen - und nach jedem Levelaufstieg wird das Sortiment frisch angepasst, als würde man bei Amazon mit aktivierten Cookies shoppen! Genug gemeckert: An legendären und verfluchten Rüstungen im Set, aus denen plötzlich ein Dämon schlüpft, hatte ich ja auch meine Freude.
Eigene Kampagnen bauen
Schließlich zückt Divinity noch einen Joker für kreative Bastler, die nach den 80 Stunden Lust auf mehr und vor allem eigenes Rollenspiel haben. Im "Game Master Mode" kann man überraschend intuitiv sowie mit vielen spontanen Interaktionen eigene Kampagnen erstellen. Das hab ich schon vor fünfzehn Jahren gerne mit dem Aurora Toolset aus Neverwinter Nights gemacht,
Dafür sorgen u.a. die so genannten "Vignetten": Man kann eigene Texteinblendungen samt Multiple-Choice-Dialogen nutzen, um die Gruppe auch mal inhaltlich oder hinsichtlich ihrer Talente mit direkten Fertigkeitsproben samt Würfelflair zu kitzeln - theoretisch kann man das aufziehen wie in einem Abenteuer-Spielbuch. Und wie im echten Leben darf der Spielleiter bei Bedarf ein wenig schummeln. Natürlich ist das komplette Kampfsystem integriert, man kann die direkte Kontrolle über Orks, Trolle und Co übernehmen oder die Gefechte automatisch laufen lassen. Schön ist auch, dass man eigene Bilder importieren kann, so dass man das Flair seiner eigenen Pen&Paper-Runde zumindest in Ansätzen auch visuell übertragen kann. Wer Lust hat, kann seine selbst erstellten Abenteuer auch über Steam teilen. Mehr dazu in diesem Tutorial-Video.
Fazit
Der Vorgänger konnte mich anno 2014 gut unterhalten, aber nicht so fesseln wie ein Wasteland 2 oder ein Pillars of Eternity. Trotz toller Gefechte war mir vieles an dieser Fantasy zu albern, zu bunt und verspielt - mehr Experiment als Epos. Aber Divinity: Original Sin 2 ist ein ganz anderes Kaliber. Die Larian Studios präsentieren ihre Story mit den religiösen Konflikten deutlich reifer, es gibt interessantere Charaktere, grausige Abgründe und auch mal ernstere Töne, ohne dass sie dabei ihren Humor verloren hätten, der einem in köstlichen Dialogen immer wieder zuzwinkert. Hinzu kommen ein verbessertes taktisches Kampfsystem, mehr Rätsel und Erkundungsreize sowie eine Vielfalt an magischen Effekten und physikalischen Kettenreaktionen, dass man angesichts der Möglichkeiten einfach nur grinsend experimentiert. Es gibt allerdings einige Logikfehler in den Quests, die auch mit den Patches nicht behoben wurden. Außerdem reagiert die Spielwelt nicht immer realistisch und die lobenswerte Vielfalt hat manchmal ihren Preis: etwa im gefühlten Chaos, wenn Wachen nicht auf Tote reagieren, Feinde sich mit Fässern zubauen lassen oder auch in der etwas gleichförmigen Charakterentwicklung sowie dem überflüssigen Crafting und dem nicht enden wollenden Klimbim an Beute, Rezepten, Gegenständen - selbst Pommes sind dabei. Schließlich wirkt der höhere Schwierigkeitsgrad "Tactician" nicht wirklich ausgereift, so dass selbst für Veteranen ein Sackgassengefühl entstehen kann. Aber man muss die Belgier ausdrücklich für ihre vielen kleinen Ideen sowie den Service loben, denn die Kampagne kann man sowohl im Splitscreen als auch online mit vier Kumpels erleben - nicht zu vergessen der mächtige Editor für eigene Abenteuer, der viele Pen&Paper-Gruppen erfreuen wird. Unterm Strich ist das ein Epos auf höchstem Niveau, das vor allem Rollenspieler alter Schule über 80 Stunden sehr gut unterhalten wird. Innerhalb dieses Genres hat man mittlerweile eine Qualitätsdichte erreicht, die es allen kommenden Titeln wie Pillars 2, The New World, Wasteland 3 & Co sehr schwer macht.
Pro
Kontra
Wertung
PC
Offen, kreativ, episch: Divinity: Original Sin 2 ist ein sehr gutes Biest von einem Rollenspiel, das hinsichtlich der Kampftaktik, der Kettenreaktionen sowie des Rätselflairs überzeugt.
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