Virginia28.09.2016, Benjamin Schmädig

Im Test: Ein Albtraum für David Lynch

Wie ein im Zeitraffer entwickeltes Foto baut sich das wunderschöne Hauptmenü auf: eine Landkarte der verschlafenen Kleinstadt Kingdom. Ein ruhiger Synthesizer klingt nach einem Film von David Lynch – ja, das war tatsächlich mein erster Gedanke, ohne dass ich mich vor dem Test über Virginia (ab 8,99€ bei GP_logo_black_rgb kaufen) informiert hatte. Dabei trägt das geheimnisvolle Abenteuer in der Tat markante Wesenszüge eines von Mysterien geprägten Thrillers. Besser hätte es kaum beginnen können; Virginia hatte mich sofort gepackt! Bis das scheinbar schöne Spiel seine hässliche Seite hervor kehrte.

Film-Spiel-Kunst

Eine Handtasche, ein Lippenstift, ein Spiegel: Auf Knopfdruck schminkt sich Anne Tarver, mein Alter Ego, bevor sie das Bad verlässt, einen grauen Gang voller verschlossener Türen entlang geht und sich ans Ende einer Schlange stellt. Männer in Anzügen stehen vor ihr. Schieben die sich einen Platz weiter, klicke ich auch Anne einen Schritt nach vorn – und erfahre nach einigen Metern, dass sie gerade unter dem Applaus eines gefüllten Theaters ihren Ausweis als frisch gebackene FBI-Agentin abholt. Wenig später wird sie ihren ersten Auftrag erhalten, zwei um genau zu sein, denn sie soll nicht nur das Verschwinden eines Jungen untersuchen, sondern auch die ihr zugeteilte Partnerin heimlich unter die Lupe nehmen.

Plötzlich ist der Saal leer. Ein Tonband klingt wie ein Atemgerät. Dann ist Anne Zuhause, sieht sich selbst in ihrem eigenen Bett liegen – ihr Wecker reißt sie schließlich aus dem, das ein Traum sein muss. Wie einen Film untermalt die vom City of Prague Philharmonic Orchestra eingespielte Musik den Einstieg: Der von Lyndon Holland geschriebene

Die Geschichte wird aus den Augen der frisch gebackenen FBI-Agentin Anne Tarver erzählt: Sie soll ein vermisstes Kind findenund heimlich Informationen über ihre Partnerin einholen.
Soundtrack weckt Emotionen, schwingt sich im Stil von Carter Burwells Fargo noch vor den ersten Spielszenen zu einem ebenso großen wie unheilvollen Crescendo auf, wenn die Namen der Beteiligten über weiten Feldern und neben vereinzelten Häusern stehen.

Ein toller Einstieg! Auch spielerisch, denn fließende Schnitte kennen Videospieler in dieser Form noch nicht. Vom Traum in die Wirklichkeit, zurück und zu der Frage, wie real das Erlebte ist, wurde ich im interaktiven Medium so jedenfalls noch nicht getrieben.

Zwischen engen Wänden

Doch dann vergessen Jonathan Burroughs und Terry Kenny, die Virginia hauptverantwortlich entworfen haben, den Spieler und vergraben das interaktive Handeln unter einer filmischen Inszenierung, die im Verlauf der Geschichte zwar nicht an Schwung verliert, die spielerisch aber extrem ermüdend ist.

Denn es ist meist dasselbe: Ganz wenige Schritte darf man laufen, dann übernimmt auf Knopfdruck wieder die Kameraautomatik – bis zu den nächsten wenigen Schritten. Es gibt zwar Areale, in denen man sich frei bewegen darf. Dort findet man allerdings keinen einzigen Gegenstand, den man seiner selbst Willen aufheben oder gar in Ruhe betrachten könnte. FBI-Agentin Tarver knackt kein einziges Puzzle, befragt keinen einzigen Verdächtigen.

Zugegeben: Fehlende Unterhaltungen sind dem kompletten Verzicht auf Sprache geschuldet, also durchaus verständlich. Tatsächlich ist es bemerkenswert, wie Burroughs und Kenny ohne Dialoge inszenieren. Genauso sträflich vernachlässigen sie jedoch ihre Spieler, behandeln sie wie Werkzeuge, die ohne Übertreibung nur dazu dienen, die Filmrolle weiter zu kurbeln. Sie sprechen ihnen das Recht ab, eine interaktive Welt auf eigene Faust kennenzulernen. In vielen Szenen kann man nicht einmal bestimmen, wann es weiter geht. Als Beifahrererin bleibt Anne nach dem Einparken etwa mehrere Male einfach im Auto sitzen. Dort darf sie sich umgucken, bis der nächste Schnitt erfolgt, aber weder die Tür öffnen noch das Fenster oder auf sonstige Art Einfluss nehmen. Nicht interaktive

Das Hauptmenü vermittelt den Eindruck einer lebendigen, interaktiven Stadt. Nichts davon trifft zu.
Kulissen und Figuren erzählen in Virginia die Handlung – das machen alleine die Regisseure, deren Präsenz viel zu offensichtlich alle Einstellungen prägt.

Bedeutungsschwanger mit Zehnlingen

Klicken... laufen... klicken... laufen... Enttäuscht hatte ich mich irgendwann auf diesen Film eingelassen. Zumal die Geschichte trotz zu vieler offener Fragezeichen ein vielleicht nicht ganz nachvollziehbares, aber nach erleichternd kurzer Spielzeit immerhin angenehm nachdenkliches Ende findet.

Das dachte ich jedenfalls! Denn als das Spiel praktisch vorüber scheint, spielen Burroughs und Kenny plötzlich verrückt. Wie vom Teufel geritten springen sie auf einmal in der Zeit zurück, wieder vor, in eine alternative Wirklichkeit, einen Traum, ein Ritual, eine Metapher, eine Science-Fiction, eine Psychostudie und zurück, zurück, vor, zurück...

Was zuvor ungelöste Mysterien waren, geht ohne jede Not in einen wie wild gewordenen Wahn über, dass einem David Lynch Schwarz vor Augen würde. Wo der Regisseur von Lost Highway und Inland Empire nämlich meisterhaft Bilder und Kausalität voneinander entkoppelt, um pure Emotionen anzusprechen, verlieren die hiesigen Spielemacher komplett die Spur. Das abschließende Kapitel ihres Kleinstadt-Thrillers, die letzten vielleicht fünfzehn oder zwanzig Minuten, sind ein nicht enden wollendes, unsägliches Kauderwelsch, das weder Herz noch Kopf erreicht. In seiner Vehemenz ist das eigentlich bemerkenswert – inhaltlich allerdings völlig unbrauchbar.

Fazit

Spielt man Virgina ein zweites Mal, ist es durchaus interessant, alte Hinweise mit neuen Erkenntnissen zu verknüpfen: In der Tradition von Twin Peaks und im Ansatz ist Anne Tarvers Geschichte eine komplexe Erzählung mit interessanten Charakteren und Geheimnissen. Vor allem handwerklich überzeugt die Inszenierung von Jonathan Burroughs und Terry Kenny, weil sie filmische Schnitte so staffeln, dass Bild und Ton wie auf einer Leinwand ineinander über gehen. Sollten die Entwickler allerdings ein Konzept verfolgt haben, dessen Ergebnis nicht die komplette Verwirrung ihrer Spieler ist, dann ging die Idee in einer kunstvollen Überfrachtung fast vollständig unter! Zum einen beschränkt sich jede Interaktion auf stupides Weiterklicken knapper Spielszenen: Man rätselt und erkundet nicht und darf sich nur in seltenen Fällen frei bewegen – Virginia ist kein interaktives Erleben, sondern ein Film, der sich ständig selbst pausiert. Zum anderen endet der ohnehin schwer entzifferbare Plot in einem nicht nachvollziehbarem Stapel sinnbildlicher Konstrukte, die bedeutend mehr Fragen aufwerfen als sie beantworten. Spielerisch ist Virginia eine echte Schlaftablette, erzählerisch wirkt es wie eine Überdosis Wachmacher. Was bleibt ist die Erinnerung an eine schöne Landkarte im Hauptmenü.

Pro

stilvolles Artdesign prägt einprägsame und lebendige Figuren
filmische Schnitte
starker Soundtrack

Kontra

bruchstückhafte Geschichte funktioniert weder als emotionale noch kausale Erzählung
überfrachtetes Ende gerät völlig aus dem Ruder
überwiegend eigenständiger Ablauf mit zu kurzen interaktiven Unterbrechungen
keinerlei Entscheidungsfreiheit, Detektivarbeit oder andere spielerischen Inhalte
technische Schwächen, auch bei angeblich optimierten 30 Bildern pro Sekunde
Steuerung fehlt Präzision, unterschiedlich schnelles Fortbewegen und andere Feinheiten

Wertung

PlayStation4

Erzählerisch ambitionierte Geschichte, die den Entwicklern komplett entgleitet und als einschläferndes Knopfdruck-Kino langweilt.

PC

Erzählerisch ambitionierte Geschichte, die den Entwicklern komplett entgleitet und als einschläferndes Knopfdruck-Kino langweilt.

XboxOne

Erzählerisch ambitionierte Geschichte, die den Entwicklern komplett entgleitet und als einschläferndes Knopfdruck-Kino langweilt.

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