Neugier als Triebfeder
Ich kann es einfach nicht lassen. Die Neugier ist stärker. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, im zweiten Akt erst einmal beim schwedischen Detektiv zu bleiben, der offenbar zufällig in den Mordfall gestolpert ist. Beim zweiten oder dritten Anlauf bleibt schließlich noch genügend Zeit, durchs Haus zu laufen, Dokumente zu untersuchen und Nebenschauplätze zu finden. Doch wenn im Raum nebenan ein spitzes Kreischen ertönt oder im Augenwinkel ein Schatten die Treppe hinauf huscht, muss ich der Sache einfach nachgehen! Und tatsächlich, der Ausflug hat sich gelohnt. Die berühmte Schauspielerin Sarah Bernhard setzt sich an ihren Schminktisch und – tut etwas, was ich hier natürlich noch nicht verrate, was aber eine hochinteressante Verbindung zum Hauptverdächtigen offenbart. Ich fühle mich dabei zwar fast wie ein Voyeur, aber der Ausflug hat sich gelohnt. Als ich wieder die Treppe hinunter stürme, braut sich im Foyer neues Konfliktpotenzial zusammen, dessen Ursprung ich ungerne verpassen würde, also spule ich die Szene einfach ein, zwei Minuten zurück.
Zu Beginn weiß Detektiv Gustaf Gustav noch nicht, was ihn und die schluchzende Flora White im Herrenhaus erwartet.
Hier hat man schließlich alle Zeit der Welt. In Echtzeit dauern die Geschehnisse leider nur eine mickrige Stunde - doch in dieser passiert gleichzeitig derart viel in Nebenzimmern und hinter Geheimtüren, dass ich rund drei höchst unterhaltsame Stunden in der Geschichte verbracht habe, bis ich die wichtigsten Geheimnisse entdeckt hatte. Von denen gibt es eine Menge, denn zu Beginn des ersten Kapitels beobachte ich die Ankunft des aus der Presse bekannten schwedischen Detektivs mit dem einprägsamen Namen Gustaf Gustav, der in einer stürmischen Nacht auf Nikola Teslas Insel ankommt. Pfeifender Wind, Blitze und die bizarren Apparaturen des Wissenschaftlers schaffen von Anfang an die passende Ausgangslage für einen gemütlichen Krimiabend mit dem VR-Headset. Als der Detektiv eine schluchzende Frau vorm Haus auffindet, wird deutlich, dass die Lippenanimationen nicht unbedingt die Stärke des VR-Titels sind. Davon abgesehen vermitteln die Grafik und die toll eingebundenen Motion-Capture-Schauspieler aber ein immersives Mittendrin-Gefühl. Auch auf langsameren Grafikkarten wie einer GeForce GTX 970 bleibt es dafür sauber und flüssig genug, wenn man die Einstellungen auf die mittlere Option herunterregelt.
Weder Film noch Spiel?
Ähnlich wie in
Her Story handelt es sich nicht um kein klassisches interaktives Spiel – schließlich durchstreift man die Welt quasi als unsichtbarer Zuschauer, der lediglich beobachten, zuhören und wichtige Gegenstände aus der Nähe betrachten kann, also spielt man auf gewisse Art mit Fakten und Positionen im Haus. Passend dazu gibt es im Theatersaal, der als Hauptmenü dient, eine Liste mit entdeckten Geheimnissen. Als Gustav und die niedergeschlagene Frau das Haus betreten, liegt der Gastgeber bereits ermordet hinter der Eingangstür. Die Tat geschah offenbar erst wenige Minuten vorher. Der blinde Butler hat den Mord nicht einmal mitbekommen und auch der Großteil der Gäste streitet natürlich ab, damit in Verbindung zu stehen. Verdächtige gibt es zur Genüge: Teslas von Komplexen geplagter Rivale Thomas Edison, ein zwielichtiger Triebtäter und auch eher ruhige Naturen wie der Sohn eines Eisenbahnmagnaten agieren in gewissen Momenten reichlich nervös. Sie alle haben eine vage formulierte Einladung des Erfinders erhalten: Der Besuch soll ihnen die Chance bieten, ihre schlimmsten Übeltaten wiedergutzumachen.
Wenn man einem Wolf ein Steak vor die Schnauze legt, dann frisst er es eben...
Wer gut aufpasst, kann schon zu Beginn subtile Hinweise auf den Hintergrund der Mordtat aufschnappen – und auch später ist es beeindruckend, wie gut es Tequila Works gelungen ist, die Handlungsfäden miteinander zu verknüpfen. Nach und nach entfaltet sich die Geschichte als Gesamtbild, bei dem man immer mehr über die Akteure erfährt. Oft habe ich einfach kurz pausiert und die im Haus verstreute Dokumente unter die Lupe genommen, welche ebenfalls interessante Informationen über den Protagonisten enthüllen. Schön auch, wie immer wieder das Ego der sehr unterschiedlichen Charaktere aufeinanderprallt - z.B. wenn Edison meint, lautstark seinen Legenden-Status verteidigen zu müssen, an den er insgeheim nicht wirklich zu glauben scheint. Um die Aufmerksamkeit des „Spielers“ auf sich zu ziehen, artikulieren sich die Schauspieler oft absichtlich einen Deut theatralischer als in einem Spielfilm – was nicht nur seinen Zweck erfüllt, sondern auch gut zur Theaterstimmung und der Akustik im weitläufigen Herrenhaus passt.
Professionelle Umsetzung
Ein Lob verdient hat sich in dem Zusammenhang auch die gelungene deutsche Vertonung, welche die Dramatik und subtilere Momente meist professionell herüberbringt. Nur manchmal durchbrechen längere Ruhepausen die Illusion – z.B., wenn sich eine Figur nach einer dramatischen Auseinandersetzung minutenlang stoisch und fast regungslos ans Kaminfeuer setzt. Manchmal wirken solche Denkpausen sogar glaubwürdig, z.B. wenn sich der emotional erschöpfte Gustav zu einer Denkpause auf den Boden des Foyers kauert, doch manchmal ziehen sich solche „Auszeiten“ zu sehr in die Länge. Die Geschichte und ihre Wendungen haben mich zwar nicht ganz so stark gefesselt wie im Kinofilm The Prestige von Christopher Nolan, doch auch hier wirkt die Auflösung gelungen. Zudem ist es unheimlich faszinierend, all die weiteren Zusammenhänge zwischen den Handlungsfäden aufzudecken, während man durchs Haus läuft und immer wieder vor- und zurückspult. Oder man überprüft auf der Übersichtskarte im Hauptmenü die Laufwege der Figuren, die sich mit Hilfe einer beweglichen Zeitskala nachvollziehen lassen.
Diese zwei Gäste haben mehr gemeinsam, als ihnen lieb ist.
Statt einer realgetreuen Bewegung des Spielers wird lediglich eine Teleportation angeboten, welche aber ähnlich gut funktioniert wie die restlichen Kommandos auf den Touch-Controllern von Oculus Rift. An die Touch-Flächen der Vive-Controller wurde die Steuerung leider etwas schlechter angepasst, so dass es sich vor allem zu Beginn fummeliger anfühlt, sich durch das Anwesen zu beamen. In beiden Fällen ist es aber auch auf Dauer nicht allzu anstrengend, sich durch die Geschichte zu bewegen. Man steht oder sitzt lediglich in der Mitte der Tracking-Zone, dreht sich in die gerade benötigte Blickrichtung und bewegt die Arme ein wenig, um sich zu teleportieren oder einen Gegenstand wie die Mordwaffe oder Schriftstücke zu inspizieren. Wer möchte, kann den Raum auch um sich herum rotieren, was mit sanften Schwarzblenden abläuft. Hier muss also niemand Angst vor Übelkeit haben. Für PSVR gibt es übrigens ebenfalls eine Umsetzung, die wir mangels Testmuster aber nicht unter die Lupe genommen haben.