Turning Point: Fall of Liberty21.03.2008, Paul Kautz
Turning Point: Fall of Liberty

Im Test:

Was-wäre-wenn-Szenarien sind immer ein großer Spaß: Was wäre, wenn Deutschland 2006 noch diese eine Minute der Verlängerung durchgehalten hätte? Was wäre, wenn Shigeru Miyamoto sich dazu entschlossen hätte, statt Spieldesigner Lokomotivführer zu werden? Und vor allem: Was wäre, wenn Entwickler, die es eigentlich besser wissen und können, endlich mal aufhören würden, schlechte Shooter zu entwickeln?

Der Führerbunker am Broadway

Was wäre, wenn die Nazis über die Allianz triumphiert hätten? Dieses schauderliche Szenario bildet die Grundlage für Turning Point: Im Jahre 1931 wurde der spätere britische Premierminister und Kriegsheld Winston Churchill in der New Yorker 5th Avenue von einem Taxi angefahren. In der Realität hat er überlebt (und musste künftig einen Gehstock als Laufhilfe benutzen), doch in der Welt von Turning Point wurde er durch diesen Unfall getötet. Durch diesen Vorfall gab es keine Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede, zogen die britischen, amerikanischen und französischen Streitkräfte nie gemeinsam gegen

Das hat man davon, wenn man in New York über eine Straße geht: Die Nazis kommen!
Hitler in den Krieg, fand die Invasion der Normandie nie statt. Und so zieht Hitlers Streitmacht, mittlerweile in einer technologisch und strategisch überlegenen Stellung, im Jahre 1953 in einer Blitzaktion gegen Amerika - genau gesagt gegen New York. Es scheint nur noch eine Frage der Zeit, bis das Hakenkreuz vom Weißen Haus herab wedelt...

In diesem Crimson Skies-ähnlichen Alternativuniversum übernehmt ihr nicht etwa die Rolle eines gestählten US-Marines, sondern die von Dan Carson - einem Bauarbeiter, der sich gerade auf dem Gerüst eines Hochhauses in New York tummelt, als um ihn herum das Kriegschaos ausbricht. Bevor alles kollabiert und er heftig und nachhaltig mit dem Boden Kontakt aufnimmt, klettert er lieber schnell nach unten. Auf dem Weg da hin, dem gut integrierten Tutorial, das ihr auch schon als Demo spielen durftet, bringt euch Entwickler Spark Unlimited die Besonderheiten der Steuerung näher: Ihr könnt an Geländemauern herumklettern, vorsichtig über enge Balken balancieren und unaufmerksame Gegner im Nahkampf erledigen. Einer davon landet praktischerweise mit seinem Fallschirm direkt vor eurer Nase, woraufhin ihr ihn ein bisschen würgen, ihm die MP abnehmen und schließlich mit einem unfreundlichen Tritt in Richtung Muttererde befördern könnt. Diese Art von »Umgebungsinteraktion« ist zwar prinzipiell prima gemeint, wird aber viel zu selten sinnvoll genutzt: Hin und wieder dürft ihr den Kopf eines Feindes in einem Fernseher versenken oder im Klo runterspülen, aber sonst herrschen die Varianten »Sofort töten« oder »als menschlicher Schutzschild benutzen« vor.

Meine Zeitmaschine funktioniert!

Das Motto »Gut gedacht, schlecht ausgeführt« zieht sich ohnehin wie ein roter Faden durch den gesamten Programmcode. Das geht schon mit der Story los, die gnadenlos verschenkt wird: Sie wird kaum weitererzählt, es gibt keinerlei Charakterentwicklung. Genau genommen erfährt man über seinen Protagonisten nur drei Dinge: Er heißt Dan Carson, er arbeitet auf dem Bau und er will aus NY raus. Oh, und er kann Menschen mit nur einem Schlag töten. Und Sprengsätze legen. Und stationäre MGs bedienen. Genau wie Scharfschützengewehre und Raketenwerfer. Atombomben entschärfen hat er auch mal irgendwo gelernt. Teufelskerl! Und trotzdem wird er von den anwesenden Soldaten als »Zivilist« belächelt. Ts!

Im Nahkampf könnt ihr Gegner mit einem Schlag ausschalten - sehr praktisch, allerdings funktioniert die Erkennung nicht zuverlässig.
Das nächste Opfer ist die Technik: Der modernen Unreal Engine zum Trotz dachten sich die Entwickler wohl, dass sie einfach da weitermachen können, wo sie vor gut drei Jahren mit Call of Duty: Finest Hour aufgehört haben. Resultat: Turning Point sieht aus, als käme es drei Jahre zu spät. Die teilweise scheußlich niedrig aufgelösten Texturen werden gerade auf der 360 immer wieder erst sehr spät geladen, so dass man immer wieder sekundenlang vor einem verwaschenen Haufen Grau steht, der sich ein Hereinploppen später als Hauswand entpuppt. Das Leveldesign ist sehr simpel, die 3D-Konstrukte gerade, eckig, detailarm - mit etwas gutem Willen könnte man das Spiel auf das Niveau von Call of Duty 2  stellen, aber Call of Duty 2 hat nie so geruckelt. Aus irgendeinem Grund hielten es die Entwickler auch für eine super Idee, dass bei jedem Erklettern einer Leiter, bei jedem Erklimmen einer Kiste, bei jedem Hangeln an einem Rohr die Kamera aus der Ego-Perspektive in eine Schulteransicht wechselt. Prinzipiell okay, auch wenn man dadurch beim Hangeln Zeuge der zuckeligen Animationen wird. Aber wenn man an mehreren Leitern hintereinander herumklettern muss, und die Ansicht wie ein besoffener Kameramann rein- und rauszoomt, hat man schnell die Schnauze voll von diesem glorreichen Einfall.         

Arme PC-Rebellen

Weiter geht's in der Abteilung »Genius am Werk«: Frei Speichern dürft ihr natürlich nicht, euer Fortkommen ist auf Gedeih und Verderb dem Checkpunkt-System ausgeliefert. Welches euch mit Speicherpunkten konfrontiert, die teilweise mehr als 20 Minuten auseinander liegen - okay, da ist man von God of War und Konsorten Schlimmeres gewohnt, was die Sache aber nicht besser macht.

Einige Abschnitte sind sehr gut gelungen - die meisten anderen belanglose Stangenware.
Besondere Aufmerksamkeit wollen wir noch der PC-Fassung widmen, die offensichtlich in aller Eile und mit entsprechend heißer Nadel gestrickt wurde: Dass die Entwickler mir empfehlen, das 360-Pad zum Spielen zu verwenden, ist zwar gut gemeint, aber auf dem PC habe ich Tastatur und Maus, und das ist auch gut so! Und trotzdem werden an allen Ecken und Enden die 360-Buttons neben den PC-Tasten zur Bedienung eingeblendet. Die Steuerungskonfiguration vertieft diesen Abgrund nochmals: Ich darf keinerlei Optionen ändern, stattdessen warten vier vorgefertigte Layouts - für das 360-Pad! In meiner Verzweiflung wende ich mich den Grafikoptionen zu: Panik! Drei Auflösungen zur Wahl, maximal 1024x768, keinerlei Detailverstellung möglich, nur drei ominöse »Systemleistung«-Einstellungen. Dass die Menüs nur per Tastatur und nicht per Maus bedienbar sind, ist da nur konsequent. Genau wie bei der 360- und der PS3-Fassung gibt es auch hier keine englische Sprachausgabe, euch bleiben nur Deutsch und Französisch. Hakenkreuze und sonstige Nazi-Symbole gibt's logischerweise nicht mehr, Blut auch nicht - aber das glänzt auch schon in der Originalfassung durch Abwesenheit. Ansonsten nehmen sich die Versionen technisch untereinander nichts: Die PC-Fassung lädt mysteriöserweise länger als die Konsolenversionen, dafür muss auch auf der PS3 kräftig installiert werden - 2,5 bewegte Gigabyte lassen euch genug Zeit, im Handbuch zu schmökern.

Ohrenschmeichler ahoi!

Okay, fassen wir mal zusammen: Technik Mist, Story Mist, Bedienung fragwürdig - und trotzdem seid ihr noch am Ball? Dann werfe ich euch einen Happen Fröhlichkeit hin: Die Musik ist wirklich fantastisch! Michael Giacchino ist wahrlich ein Meister der dramatisch-orchestralen Feder, der Soundtrack wummert kraftvoll aus den Boxen - er hat ja auch schon genug Medal of Honor-Erfahrung, von seinen Vertonungen von Hollywood-Filmen mal ganz zu schweigen. Und die deutsche Sprachausgabe ist auch nicht übel. Und das grundsätzliche,

Über weite Teile ist das Spiel zappenduster - sowohl in Sachen Beleuchtung als auch in Designfragen.
stark von der CoD-Serie inspirierte Spielprinzip mit seinen linearen Levels und dem Verzicht auf eine Energieanzeige ist ja ohnehin irgendwie unverwüstlich. Und falls das irgendwie ein Trost ist: Nach etwa fünf Stunden ist das Ganze vorbei, wobei es keinen Grund gibt, danach nochmals zum Spiel zu greifen - denn außer weiteren Schwierigkeitsstufen gibt es schlicht nichts, und den Multiplayermodus, der acht Spielern die Wahl zwischen Deathmatch und Team Deathmatch lässt, kehren wir mal unter den Teppich der Bedeutungslosigkeit.

Tja, bleiben nur noch die Bugs: Einmal blieb ein Soldat stehen und hieb mit seinem Kolben ausdauernd die vor ihm schwebende Luft zu Klump. Er bewegte sich nicht, und ließ sich nicht töten, egal wie viele Magazine meiner MP50 ich in ihn reindonnerte. Naja, es hatte auch etwas Positives: Durch diesen menschlichen Sandsack konnte ich meine Trefferquote derart hochjagen, dass ich am Ende des Levels das »Adlerauge«-Achievement kassierte. Die Nahkampf-Attacke lässt sich nicht immer auslösen, Schalter und Hebel lassen sich zum Teil nur mit millimetergenauer Positionierung des Fadenkreuzes bedienen. Was keine einfache Operation ist, denn die Steuerung ist verdammt träge, gerade das Rauf- und Runterkucken geht quälend langsam vonstatten. Das lässt sich zwar verstellen, aber a.) weder frei (man kann nur aus drei definierten Geschwindigkeiten wählen) und b.) nur in Verbindung mit der horizontalen Achse. Und nicht zuletzt bleiben die strunzdummen Gegner, die außer »nach vorne stürmen« nur noch »nicht länger als vier Sekunden in Deckung bleiben« kennen, gerne mal in der Umgebung hängen. Das ist aber nur fair, denn mir passierte das auch dauernd.    

Fazit

Als Turning Point letztes Jahr erstmals präsentiert wurde, sagte ich dem anwesenden Designer von Spark, dass ich die Grafik veraltet, aber die Grundidee super fände - die sollten sie ausbauen, dann könnte das Spiel gut werden. Haben sie nicht. Und das Spiel wurde nicht gut. Genau genommen wurde es nicht mal ansatzweise befriedigend, denn nach dem zumindest atmosphärisch intensiven ersten Level (der auch als Demo erhältlich ist) geht das Ganze völlig vor die Hunde: Lahme Technik gesellt sich zu einfallslosem Design und einem Haufen Bugs, umrahmt von einem zickigen Speichersystem und blöden Ideen wie dem Perspektive-wechsele-dich-Spielchen. Es gibt gerade mal eine Hand voll interessanter Momente, der überwiegende Teil des Spiels findet in den handelsüblichen Häuserschluchten und U-Bahn-Schächten statt, die sich in jedem unterdurchschnittlichen Shooter finden. Und dann noch die Geschichte, die gerade angesichts der wirklich cleveren Grundidee erschreckend belanglos vor sich her träufelt - ich könnte aufheulen, wenn ich mir durch den Kopf gehen lasse, was ein storystarker Entwickler wie Starbreeze aus der Geschichte hätte machen können! Turning Point macht bedauerlicherweise vieles falsch - beinharte Shooter-Sammler werden damit Freude haben, alle anderen können aus einem gigantischen Fundus viel besserer Spiele wählen.

Pro

interessante Grundidee
exzellenter Soundtrack

Kontra

veraltete Technik
nervend eingeschränkte Speicherfunktion
viele Bugs
kurze Einzelspielerkampagne
ideenloser Mehrspielermodus
kaum vorhandener Wiederspielwert
lieblose PC-Umsetzung

Wertung

360

PlayStation3

Nette Grundidee und toller Soundtrack - alles andere ist unterirdisch!

PC

Die PC-Umsetzung ist genauso belanglos wie die anderen - und leidet zusätzlich unter einer schludrigen Umsetzung.

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