Secret World Legends14.09.2012, Benjamin Schmädig
Secret World Legends

Im Test:

Kurze und lange Pieptöne, ein grafischer Equalizer – was soll ich dieser Videobotschaft denn entnehmen? Ich kenne nur drei Buchstaben des Morsealphabets und weiß nicht, wo ich den Code entschlüsseln kann. Was mir bleibt, ist Google und ein ziemlich verzweifelter Versuch: Lang-kurz-kurz kurz-lang-kurz... mit viel Zeit und Nerven übertrage ich die Tonfolge in eine Online-Übersetzung. Dann stehen irgendwann „Drop Location“ und eine sechsstellige Zahl auf meinem Zettel – und hossa: Die Koordinaten der Umgebungskarte werden ebenfalls mit sechs Ziffern angegeben. Wenn das jetzt tatsächlich funktioniert...

Es funktioniert!

Faszinierend: An der entschlüsselten Position finde ich tatsächlich, wonach ich gesucht habe – so eng ist die virtuelle Welt ganz selten mit der Wirklichkeit des Spielers verknüpft. Und es ist längst nicht der einzige Aha-Moment, bei dem ich wusste: Dieses Spiel kann etwas, das Online-Rollenspiele sonst nicht können. Es ist zwar so herkömmlich, dass es MMO-Abstinenzler, die dem Genre aus Prinzip fernbleiben, nicht umstimmen wird. Es ist mit seinen spielerischen und erzählerischen Rätseln aber mehr Rollenspiel als die Wegpunkt-Schnitzeljagd eines World of WarCraft, The Old Republic oder Guild Wars 2. Und es will mit einer von Klassen und Levelaufstiegen unabhängigen Charakterentwicklung Akzente setzen. Entsteht in The Secret World ein neues Spielgefühl?

Die Welt muss ich natürlich auch hier retten, denn mystische Kreaturen tauchen plötzlich auf dem Planeten auf. Dieser ist allerdings kein Ort der Fantasie, sondern die Erde des 21. Jahrhunderts. Und auch die geheimnisvolle Bedrohung ist keine neue: Illuminaten, Templer und Drachen zeigen sich jedenfalls wenig beeindruckt – immerhin stehen die heimlichen Aktivitäten und Vorhersagen der sagenumwobenen Organisationen im Zentrum der Geschichte. Wie praktisch, dass ich nach der Charaktererstellung plötzlich Superkräfte entwickle, weshalb mich die gewählte Organisation fix rekrutiert. Die zentralen, jederzeit für alle erreichbaren Sammelpunkte der Illuminaten (New York), Templer (London) und Drachen (Seoul) unterscheiden sich zwar, anschließend erleben Rekruten aller Parteien aber dieselbe Geschichte.

"Dann muss man sie eben ein zweites Mal töten"

Sie führt zunächst ins nordamerikanische Maine, in das kleine und höchst reale Städtchen Kingsmouth, in dem sich eine surreale Gefahr breit macht: Ich soll Kingsmouth nicht von den Zombies befreien – ich soll aber der Ursache ihrer Wiederauferstehung auf den Grund

Die Einwohner der kleinen Ortschaft Kingsmouth verbarrikadieren sich an wenigen Zufluchtsorten.
Die Einwohner der kleinen Ortschaft Kingsmouth verbarrikadieren sich an wenigen Zufluchtsorten.
gehen. Ohne weitere Stationen zu verraten: Meine Reise führt mich zwar um die halbe Welt, ausgesprochen weitläufig ist sie aber nicht. Das liegt vor allem daran, dass The Secret World ein anderes Tempo anschlägt als herkömmliche Online-Rollenspiele: Auch hier gibt es Missionen vom Schlag "Töte fünf hiervon", "Sammele drei davon" – die meisten Aufgaben drehen sich aber um kleine Geschichten. Abgesehen davon erledige ich höchstens sechs Aufgaben gleichzeitig, anstatt eine gesichtslose To-do-Liste auszurollen.

Ich habe z.B. untersucht, welches Geheimnis hinter den fahrerlosen schwarzen Lieferwagen steckt. Dafür musste ich das Passwort für einen Laptop aufspüren und anschließend eine Maschine umprogrammieren. Wie? Auch das war eine kleine Kopfnuss. Ich habe außerdem Spuren verfolgt, mit zittriger Hand skizzierte Notizen entschlüsselt, bin mit einer Taschenlampe durch stockfinstere Dunkelheit oder lautlos an Wachen vorbei geschlichen. Und immer wieder habe ich im eingebauten Webbrowser Antworten recherchiert. Natürlich muss ich dabei etliche Gegner besiegen – der Kampf ist auch in The Secret World das zentrale Element. Es gibt allerdings viele Momente, in denen das Online-Abenteuer wie ein aufregender Gruseltrip wirkt. Diese Augenblicke sind seine große Stärke!

Herr Kant und Frau Farbe

Die unheimlichen Kulissen unterstreichen die gelungene Atmosphäre: Einer der stimmungsvollsten Orte ist ein stillgelegter Jahrmarkt, durch den ein Sicht verzerrendes Flirren zieht. Ein großes Riesenrad ragt in den dreckigen Nebel, im fernen Hintergrund rotiert der Scheinwerfer eines Leuchtturms. The Secret World verlangt einen

Der stillgelegte Jahrmarkt ist einer der stimmungsvollsten Schauplätze.
Der stillgelegte Jahrmarkt gehört zu den stimmungsvollsten Schauplätzen.
leistungsfähigen PC, zeigt aber trotzdem grobe Ecken – durch den geschickten Einsatz von düsterem Licht und anderen Effekten wiren die einzigartigen Schauplätze dennoch sehr greifbar. Nur wirken ausgerechnet die Figuren seltsam starr und die übermäßig farbenfrohe Gestaltung ihrer Kleider empfinde ich als modisches Delikt. Viele Jacken, Hosen, Mäntel und Accessoires werden übrigens für reales Geld verkauft.

Ungemütlich leblos wirken die Charaktere auch in den Filmszenen, die jede halbwegs wichtige Mission einleiten: Die Szenen sind gut gesprochen – allerdings nur von den nicht am Spiel beteiligten Figuren. Meine eigenen Charaktere glotzen leider völlig sprach- und ausdruckslos in Richtung ihrer Gesprächspartner. Nein, in diesen Momenten kann ich mich partout nicht mit den Holzpuppen identifizieren. Bedauerlich auch, dass sich die Welt nicht weiterentwickelt. Das Spiel legt großen Wert auf seine Geschichte – trotzdem kann ich fast jede Mission beliebig oft wiederholen und was immer ich auch bewirke: Sämtliche Kleinigkeiten sind vor, während und nach einer Mission dieselben. Warum wagt The Secret World nicht den entscheidenden Schritt in Richtung einer glaubwürdigen Erzählung und zeigt jedem Spieler die dauerhaften Ergebnisse seiner Handlungen?

Wohin des Wegs?

Ungeschickt, dass sich einige Ereignisse kleinerer Plots zudem mit denen der großen Geschichte überlappen können – das bringt die logische Handlungsfolge mitunter durcheinander. Abgesehen davon war mir nicht immer klar, ob ich gerade ein Rätsel lösen muss oder ob die Aufgabenstellung zu vage formuliert ist. Manche Beschreibung bleibt einfach zu oberflächlich und sagt sinngemäß: "Löse diesen Fall!", anstatt die Herausforderung genau zu definieren. Heißt "Folge dieser Person!", dass ich einer Figur hinterher laufen soll, die eben erst meinen Standort verlassen hat? Klingt plausibel! Oder ist ein Bild der Hinweis auf den Standort der gesuchten Person? Soll ich gar den Fußspuren

Wie man kämpft, ist jederzeit offen: Man darf jederzeit die Waffe und damit verbundene Fähigkeiten wechseln.
Wie man kämpft, ist jederzeit offen: Man darf jederzeit die Waffe und damit verbundene Fähigkeiten wechseln.
folgen, die ich auf dem Boden entdecke? The Secret World muss sich außerdem den Vorwurf gefallen lassen, dass es mich zu oft einfach von einem Wegpunkt zum nächsten schickt, ohne dass ich das Ziel selbst ausmachen darf. Das rätselhafte Abenteuern ist deutlich packender als in ähnlichen Spielen – alles in allem fühlt sich The Secret World aber noch immer zu wohl in dem vertrauten MMO-Konzept.

Ich bin, was ich sein will!

Das gilt auch für die Kämpfe, in denen meine Finger wie üblich über die Zahlen der Tastatur tanzen. Gerade hier hatte ich mir mehr erhofft, denn ich halte das blöde Tastenhacken seit Jahren für überholt. Warum schreckt selbst ein innovatives Online-Rollenspiel vor einem System zurück, das mit nur zwei oder drei Angriffen aktive Duelle inszeniert, anstatt auf hektisches Schnelltippen zu setzen? Es hilft dem martialischen Trubel nicht, dass ich als Fernkämpfer ständig in Bewegung bleiben muss und besonderen Angriffen durch einen Hechtsprung ausweichen sollte. Für meinen Geschmack treffen Altmodisches und rasante Action hier sehr ungünstig aufeinander.

Trotzdem kämpfe ich gern gegen die mysteriösen Untoten; „Schuld“ ist das enge Zusammenspiel aktiver und passiver Fähigkeiten sowie die Möglichkeit, zwei Waffen gleichzeitig zu nutzen. Warum Letzteres so wichtig ist? Weil ich zu Beginn keine Klasse wählen musste, die meine vorhandenen und zukünftigen Fähigkeiten bestimmt. Vielmehr darf ich jederzeit eine beliebige Waffe aufnehmen und damit verbundene Fertigkeiten einsetzen – falls ich sie schon gelernt habe. Denn obwohl es keinen Stufenaufstieg gibt, erhalte ich für getötete Gegner und erledigte Missionen Erfahrungspunkte, die ich nach Lust und Laune in Fähigkeiten- und Kraftpunkte ummünzen darf. Damit erweitere ich

Leider fordertsich auch The Secret World herkömmliches Zahlentasten-Stakkato und bietet nur grundlegende PvP-Möglichkeiten.
Leider fordertsich auch The Secret World herkömmliches Zahlentasten-Stakkato.
zum einen meine Möglichkeiten beim Ausrüsten stärkerer Waffen und Gegenstände, während ich zum anderen mein Repertoire aktiver und passiver Aktionen aufstocke. So richtig trennen kann sich The Secret World also nicht vom Levelaufstieg – im Grunde ändern sich nur Bezeichnungen, ein Learning-by-doing hätte besser in das realitätsnahe Szenario gepasst. Dennoch ist es eine willkommene Abwechslung, dass Stärke und Fertigkeiten vom Umgang mit der Ausrüstung abhängen.

Der taktische Sisyphos

Ausgesprochen wichtig ist dabei das Zusammenlegen passender aktiver sowie passiver Fähigkeiten, von denen ich jeweils sieben aktivieren darf. Dazu tragen die Eigenheiten des Kampfsystems bei, bei dem sich jede Figur in bis zu vier Zuständen befinden kann: Sie kann dauerhaft Schaden verlieren, in ihrer Bewegung eingeschränkt sein, mehr Schaden einstecken sowie schlechter Schaden austeilen und sie kann handlungsunfähig sein. Und viele passive Fähigkeiten stärken einen Gegner gerade dann, wenn er sich in einem bestimmten Zustand befindet, während viele Angriffe bestimmte Zustände hervorrufen. Das Auslösen einiger Aktionen setzt außerdem entsprechende Angriffspunkte voraus, die durch andere Aktionen erst generiert werden. Keiner der Bausteine ist revolutionär – die Elemente greifen aber von Beginn an eng ineinander und fordern spätestens dann den Meistertüftler, wenn er die Fähigkeiten zweier Waffen zu mächtigen Kombinationen zusammenführt. Mich stört, dass ich als voll ausgebildeter Charakter zwar eine vorgefertigte Kombination von Fähigkeiten wählen, aber keine eigenen Decks erstellen darf. Das macht einen taktischen Wechsel zur Sisyphosarbeit.

Gerade in Gefechten gegen menschliche Gruppen könnte eine schnelle Neuausrichtung jenseits der vorgebauten Decks sinnvoll sein. Andererseits... PvP ist wirklich nicht die Stärke dieses Spiels. Obwohl die Geschichten von Templern, Drachen sowie Illuminati miteinander verwoben sind, treffen Mitglieder der drei Gruppen nur in kleinen Arealen aufeinander. Der Schwerpunkt liegt auf einer Art Gebietseroberung an separaten

Als Teil einer Gruppe macht das Abenteuer am meisten Spaß - der PvP beschränkt sich allerdings auf das Nötigste.
Als Teil einer Gruppe macht das Abenteuer am meisten Spaß - der PvP beschränkt sich allerdings nur auf das Nötigste.
Schauplätzen – kurzweilige Scharmützel, insgesamt aber nicht mehr als eine nette Zugabe. Immerhin wirkt es sich für alle Mitglieder einer Partei auf Werte wie den kritischen Schaden oder das schnellere Sammeln von Erfahrungspunkten aus, wenn die eigenen Drachen, Templer oder Illuminati eins der PvP-Gebiete beherrschen.

Eigenbau

"Umständlich, aber gelungen" trifft auch auf das Herstellen eigener Ausrüstung zu, denn ähnlich wie in Minecraft lege ich Bauteile in einer bestimmten Form zusammen. Der Wert der Rohstoffe bestimmt dabei die Stärke der Waffe oder des Amuletts - Materialien gewinne ich entweder aus dem Zerlegen vorhandener Ausrüstung oder ich kaufe sie beim Krämer. Es is zwar unhandlich, eine Blaupause eigenhändig aufzumalen, weil ich sie im Spiel nicht vor mir habe - im Gegenzug ist der Eigenbau aber befriedigender als das lose Zufügen von Zutaten. Auch besondere Eigenschaften füge ich hinzu, indem ich Runen verbaue oder Glyphen in fertige Gegenstände einsetze.

Fazit

Wirft man einen Blick auf die trüben Verkaufszahlen, wird The Secret World für viele Spieler ein Geheimnis bleiben – völlig zu Unrecht! Denn sie verpassen ein spannendes, spielerisch offenes Rollenspiel, das sich wohltuend von anderen Online-Abenteuern absetzt. Ich genieße vor allem die offene Charakterentwicklung, bei der ich mir nicht die Zwangsjacke einer vorbestimmten Klasse überziehe sowie das ruhige Entdecken geheimnisvoller Gefahren und die direkte Verknüpfung der Spielewelt mit meiner Wirklichkeit in zahlreichen cleveren Rätseln. Ich genieße außerdem die taktischen Gefechte, in denen ich mit Finesse gegen starke Feinde kämpfen muss. Das Prinzip des gewöhnlichen Zahlenhämmerns tut der Taktik allerdings nicht gut und auch das Verteilen der Erfahrungspunkte unterscheidet sich nicht allzu sehr vom vertrauten Aufleveln. PvP ist nur ein wohlmeinendes Anhängsel und mitunter fehlt mir die erzählerische Führung eines erfahrenen Gamemasters: Zu oft schicken mich vage Beschreibungen beinahe zum Selbstzweck an einen Wegpunkt. Nicht immer ist The Secret World der ungewöhnliche Gruseltrip, der es sein will. Manchmal ist es nur ein gewöhnliches MMO und in diesem Bereich ist Guild Wars 2 mehr als eine Klasse besser. Viel mehr als Guild Wars reizt  dieses Abenteuer aber nicht nur meinen Sammeltrieb, sondern fesselt mich trotz seiner Ecken und Kanten vor allem mit dem Kopf.

Pro

Schauplätze abseits herkömmlicher Fantasy & Science Fiction
viele Filmszenen auch vor kleinen Aufträgen
erzählerisch interessante Missionen mit Rätseln, Schleichen u.v.m.
keine vorgegebenen Klassen, freie Entwicklung der Fähigkeiten
Kombinieren passiver und aktiver Fähigkeiten von je zwei Kampfstilen
relativ ruhiges Vorankommen
Herstellen eigener Ausrüstung wie auf einer Werkbank
taktisch anspruchsvolle Kämpfe
Charakterentwicklung über Fähigkeiten und Ausrüstung

Kontra

gewohnt statische Onlinewelt statt dynamisch dargestellter Erzählung
umständliche, teils unlogische Nutzerführung
eigener Charakter wirkt in Filmszenen wie starrer Beobachter
hektisches, überladenes und zu herkömmliches Kampfsystem
Haupt
und Nebenmissionen können sich erzählerisch überlappen
rudimentärer PvP um Kontrollpunkte in separaten Gebieten
kleine Programmfehler, aber auch Abstürze

Wertung

PC

Mystisches Abenteuermit abwechslungsreichen Missionen und einer offenen Charakterentwicklung, das sich noch zu sehr auf herkömmliche Mechanismen verlässt.

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