Deus Ex: Human Revolution22.08.2011, Benjamin Schmädig
Deus Ex: Human Revolution

Im Test:

Als ich Adam Jensen zum ersten Mal zusah, schlich er wie ein Raubtier zwischen den eng gestellten Kisten eines großen Lagerplatzes. Im Hintergrund reckte sich die Skyline eines gigantischen Shanghai bis in die Wolken - eine Stadt, die über einer Stadt gebaut wurde. Ein grandioser Anblick; ich musste diese Stadt kennenlernen! Welche Geschichte erzählt sie? Was erlebt Adam Jensen, der eiskalter Mörder und barmherziger Killer sein kann, vor dieser Kulisse? Ich hatte mich auf einen packenden Thriller gefreut...

Der farbikneue Held

"Human Revolution", also "menschliche Revolution", nennt Eidos den dritten Teil der Cyberpunk-Trilogie - auch wenn diese Episode ein halbes Jahrhundert vor dem ersten Deus Ex spielt. Sie erfindet eine Welt gerade mal 16 Jahre in unserer Zukunft. 2027 hat die Entwicklung künstlicher Gliedmaßen einen gewaltigen Sprung gemacht: Nahezu jedes Körperteil kann, zwar als Prothese erkennbar, aber in Form und Funktion originalgetreu ersetzt werden. Für die einen ist es ein wichtiger Schritt auf der Evolutionsleiter, denn selbstverständlich genießen die Besitzer künstlicher Körperteile je nach Bauart vor allem körperliche Vorteile - man denke an einen mächtigen Soldaten. Für andere sind die Prothesen genau deshalb eine Abkehr von der Menschlichkeit. Es braucht nicht viel, damit aus Reibung Feuer entsteht: Menschen mit künstlichen Körperteilen werden ausgegrenzt, aus Demonstrationen werden gewalttätige Aufeinandertreffen. Das ist die Welt, in der Adam Jensen beinahe sein Leben verliert - nur um durch Prothesen von Gliedmaßen und inneren Organen gerettet zu werden. Ist es das wert?

Adam hadert mit seinem neuen Aussehen: fabrikneues Schwarz, wo Arme und Beine waren. Eine Brille, die er nie absetzen wird. Aber da ist auch der Wille, die Drahtzieher des Zwischenfalls zu fassen, der ihn beinahe das Leben kostete - der Überfall, bei dem seine Freundin ums Leben kam. Adam arbeitete damals wie heute für Sarfi Industries, einem der führenden Unternehmen auf dem Gebiet der Biomechanik und sein Boss David Sarif scheint mehr zu wissen, als er zugibt. Doch genau wie der Überfall sind das nur Teile eines großen Puzzles, hinter dem viel mehr steckt als schnöde Industriespionage oder plumper Datenklau. Als  Sarifs Sicherheitschef und als Betroffener steht Adam also plötzlich im Zentrum der gefährlichen Revolution.

Ja, ich kann!

Jetzt liegt es an mir, wie Adam mit der Situation umgehen soll. Denn wie seine Vorgänger ist Deus Ex ein geradliniges Actionspiel, bei dem es auf den cleveren Einsatz zahlreicher Fertigkeiten ankommt, die zum großen Teil durch künstliche Prothesen erst möglich sind. Für welchen Zweck ich die Fähigkeiten einsetze, bleibt mir überlassen: Marschiere ich mit Waffengewalt durch den Haupteingang oder hacke ich das Türschloss zum Dachgeschoss, um mich von hinten einzuschleichen? Umgehe ich die Wachen einfach oder schalte ich sie lautlos aus? Töte ich sie dabei oder schlage ich sie nur bewusstlos? Das Besondere an Deus Ex, das Human Revolution so hervorragend wiederbelebt, ist die große Entscheidungsfreiheit. Helfe ich einer Person aus der Patsche oder kann ich es nicht verantworten, ihr eine Waffe in die Hand zu drücken? Immer wieder stellt mich das Spiel vor die Wahl und zeigt kleine Konsequenzen.

Ich habe nicht nur im Großen, sondern in praktisch jeder Situation, verschiedene Optionen: Ich kann Überwachungskameras ausschalten oder an ihnen vorbei schleichen. Ich kann fast jeden großen Raum aus mindestens zwei Richtungen betreten. Ich kann ein Türschloss knacken oder eine Notiz mit dem Code suchen. Ich kann in einer brenzligen Lage mit Waffengewalt aus der Deckung heraus schießen, mich lautlos davonschleichen, unsichtbar an alarmierten Wachen vorbei laufen, mich ein Stockwerk tiefer stürzen oder die Gegner durch mein Aufsehen in eine Mine locken. Ich kann durch einen Lüftungsschacht fliehen, um sie von einer anderen Position aus unter Beschuss zu nehmen. Ich kann ihre Kampfroboter deaktivieren oder sie auf ihre Besitzer hetzen. Ja, ich kann Wachen sogar zum Ziel ihres eigenen Geschützturms machen und den Geschützturm anschließend vor mir her tragen.

Der Preis der Vielfalt

Vom Inszenieren spezieller Höhepunkte abgesehen, schreibt das Spiel nie vor, was als Nächstes passieren wird - und es tut so unheimlich gut, diese Offenheit zu genießen! Es ist die Summe der spielerischen Elemente, die diese Science-Fiction so faszinierend macht. Kein Rollenspiel, kein Actionspiel, keine Open World und keine Stealth-Action verbindet die Vielzahl der Handlungsmöglichkeiten so eng mit der Spielmechanik. Die Charakterentwicklung im Rollenspiel ist umfangreicher, die Action eines modernen Shooters ist packender, die Spielwiese in offenen Welten bedeutend größer und beim Schleichen hat man sowohl in Metal Gear Solid 4 als auch im alten Thief 3 mehr Möglichkeiten. Aber wehe, man versucht in Gears of War, ungesehen die Stellung zu wechseln! Wehe dem, der in The Witcher 2 lautlos fliehen will!

Und trotzdem merkt man es: In den Details kann Deus Ex mit keinem dieser Spiele mithalten. Denn wo es bei Gears of War oder Killzone 3 richtig kracht, wenn man sich knallharte Stellungskämpfe aus der Deckung heraus liefert, pufft es hier nur befriedigend.

Weder im Bereich der Action noch der Stealth-Action kann Human Revolution vollends überzeugen. Seine Stärke ist die enge Verknüpfung aller Elemente.
Weder im Bereich der Action noch der Stealth-Action kann Human Revolution vollends überzeugen. Seine Stärke ist die enge Verknüpfung aller Elemente.
Wo man in umfangreichen Rollenspielen mit neuen Fähigkeiten den Handlungsspielraum erweitert, erleichtern hier viele Fertigkeiten nur das, was man ohnehin beherrschen sollte. Und wo man die Wachen in Metal Gear Solid gezielt anlocken darf, kann sich Adam weder räuspern noch kann er "anklopfen".

Scheuklappen

Es sind aber nicht nur Kleinigkeiten wie der fehlende Knall im Feuergefecht, die ich dem Spiel verzeihen kann. Es gibt auch ärgerliche Schnitzer, die das Erlebnis immer wieder trüben. So sehr das Schleichen und die taktische Cleverness nämlich im Vordergrund stehen, so sehr fallen die Schwächen im Verhalten der Gegner ins Gewicht. Ich habe mich etwa ohne Tarnung neben eine am Computer arbeitende Wache gesetzt und den Rechner direkt nebenan gehackt - ohne auch nur Aufmerksamkeit zu erregen.

Das dritte Deus Ex verwendet das in der Stealth-Action groß gewordene System, bei dem Patrouillierende nichts erkennen, das sich mindestens im rechten Winkel zu ihrer Blickrichtung befindet. Das ist verständlich, weil manches Vorbeischleichen sonst unüberschaubar knifflig wäre. Das muss man im Jahr 2011 aber besser verstecken! Schon allein deshalb, weil der neue Blick über Adams Schulter einen besseren Überblick gewährt, wenn er per Knopfdruck in Deckung geht. Stattdessen stehen unglaubwürdig viele Mauern und Vorsprünge im rechten Winkel zueinander. Alpha Protocol war zuletzt zwar ähnlich aufgebaut, mich erinnerte Human Revolution aber an das in Ehren, aber eben auch ergraute Metal Gear Solid 2. Statt der ständigen spannenden Ungewissheit, ob sich Adam sicher versteckt, dominiert deshalb ein vom Timing bestimmtes Arcade-Schleichen.

Und das funktioniert sogar richtig gut, denn die Patrouillen laufen ausgeklügelte Routen und drehen sich während des Laufens immer wieder um - so ist immer Vorsicht angesagt. Spätestens, wenn Adam gesehen oder gehört wurde oder gar Alarm ausgelöst hat, muss er auf der Hut sein: Dann rückt eine ungewisse Anzahl an Wachen dorthin vor, wo er zuletzt wahrgenommen wurde, manche suchen lange nach ihm und einige ändern gar ihre Position oder kehren erst spät auf ihren Posten zurück.

Du kommst hier nicht vorbei!

Ärgerlich ist aber, dass sie manche Störfaktoren gar nicht bemerken. Auf dem Boden liegt eine Waffe, wo zuvor noch ein Kamerad stand? Interessiert nicht. Offene Hochsicherheitstüren, die zuvor verschlossen waren? Nehmen sie kommentarlos zur Kenntnis. Dabei reagieren sie sofort, wenn sie das Öffnen einer Tür in ihrer Nähe hören. Sie laufen umgehend auf tote Kameraden zu und wecken bewusstlose auf. Freundlich Gesinnte erkennen sogar den Unterschied, ob Adam den Code eines Sicherheitsschlosses eingibt oder ob er das Terminal hackt und reagieren entsprechend gelassen oder indem sie Alarm schlagen.

Die deutlichsten Schwächen zeigen Gegner aber bei vollem Alarm, denn falls sie Adam nicht sehen, stürmen sie mitunter blindlings auf seine letzte ihnen bekannte Position zu. In engen Gängen lassen sich einfache Soldaten deshalb schön der Reihe nach ausschalten. Jedenfalls so lange, wie sie nicht eine unsichtbare Grenze erreichen, die sie partout nicht überschreiten. Innerhalb eines Stockwerks sind solche Grenzen zum Glück selten -

Auch starke Roboter machen Jensen zu schaffen. Dieser hier schaut sogar über Kisten hinweg.
Auch starke Roboter machen Jensen zu schaffen - ab dieser Größe schinden sie jedenfalls Eindruck.

Treppen nutzen die Feinde allerdings fast nie. Auch Leitern erklimmen sie nicht, in Lüftungsschächte kriechen sie ebenso wenig.

Die Verzückung der Wahl

Immerhin: Gegen schwer bewaffnete Wachen hilft meist nur der Rückzug, denn Adam ist weder widerstandsfähig genug noch kann er genug Munition schleppen, um einen  direkten Schlagabtausch zu überstehen. Einmal, zweimal kann das funktionieren. Energie und Munition sind allerdings so knapp, dass der taktische Stellungskampf auf Dauer der einzig sinnvolle Weg ist. Und Stellungskampf bedeutet für Adam Jensen: unbemerkte Positionswechsel, schnelle Wirkungstreffer und von vorn. Nicht zuletzt zwingen ihn die Gegner mit Granaten geschickt aus seiner Position heraus, manche können sich zu allem Überfluss gar ebenfalls unsichtbar machen. Das Wechseln der Deckung per Knopfdruck unterstützt zwar den etwas simplen Arcade-Gedanken und sorgt mit einigen unglücklichen Kameraperspektiven dafür, dass Adam relativ starr in Deckung "klebt". Im Gegenzug fördert es aber das taktische Versteckspiel, das diese Action auszeichnet.

Man wird schon deshalb zum Rückzug gezwungen, weil Adam zwar eine Nahkampfattacke beherrscht, mit der er bis zu zwei Gegner gleichzeitig ausknocken oder brutal niederstrecken kann. Allerdings kostet ihn jeder Angriff Energie und die ist verdammt rar! Konsumiert Adam mehrere Energieriegel, kann er eine besonders knifflige Angelegenheit natürlich "per Hand" regeln. Das bleibt aber die Ausnahme. Einen herkömmlichen Hieb oder Stich führt er hingegen nicht aus, was in der Phase des Eingewöhnens ungemein tollpatschig wirkt: Da steht der Superagent also und ist nicht einmal zu einer Ohrfeige imstande... Dabei ist die Einschränkung spielerisch durchaus sinnvoll, da man so nicht wie der letzte Sam Fisher eine Gruppe Gegner einfach im Handumdrehen los wird. Auch das lange Nachladen der Elektroschock-Waffe macht sie für den schnellen Massen-KO ungeeignet. Adam sollte schon deshalb sparsam mit Energie umgehen, weil er für sämtliche aktiven Fähigkeiten damit "bezahlen" muss. Und nur der letzte Abschnitt seiner Energieleiste lädt sich wieder auf, wenn er einmal verbraucht wurde.

Zahltag

Richtig gut gefällt mir die Art und Weise, mit der ich für clevere Aktionen belohnt werde. Denn obwohl der Kampf immer eine Möglichkeit ist - im Vordergrund steht das unbemerkte Schleichen: 500 Erfahrungspunkte werden etwa gutgeschrieben, wenn man ein wichtiges Ziel erreicht, ohne dabei gesehen zu werden. 250 Punkte gibt es immerhin dafür, dass niemand Alarm auslöst. Kleine Bonuspunkte gibt es auch, wenn ich eine Wache bewusstlos schlage, anstatt sie zu töten. Und selbst mordlustige Spieler erhalten Extrapunkte, wenn sie einen Gegner per Kopfschuss ausschalten - nur die Hälfte gibt es, wenn die Wachen zuvor Alarm auslösen konnten. Wer sich also geschickt durch eine feindliche Festung kämpft, wird durchaus belohnt. Mir erscheint es allerdings gerecht, dass friedfertige Naturen stärker gewürdigt werden. Nicht zuletzt müssen sie mit viel Übersicht durch Räume voller Wachen schleichen, die brachiale Gemüter längst beseitigt hätten.

Dabei erhält man die ganz dicken Erfahrungspunkte selbstverständlich nur nach abgeschlossenen Aufträgen oder Teilaufgaben. Im zweiten Anlauf bin ich schnellen Schrittes durch das Jahr 2027 gerauscht und hatte trotzdem genug Geld und Erfahrungspunkte, um Adam neue Fähigkeiten zu verpassen. Tatsächlich kann man Fähigkeiten mit starken Einschränkungen gegen Bezahlung erwerben. Hauptsächlich benötigt man die Währung aber zum Einkauf bei Waffenhändlern. Geduldige Forscher finden die Ausrüstung natürlich auf ihren Streifzügen durch die Umgebung; der Besuch beim Händler verkürzt Ungeduldigen jedoch die Wege.

Die Besonderheiten der PC-Version

Naturgemäß sehen die Details am PC nicht nur schärfer aus - die Ränder der Schatten sind ebenfalls besser definiert und DirectX 11 fügt der Grafik Tessellation hinzu.

Die Menüleiste am unteren Bildrand erinnert zudem an die des ersten Deus Ex' und wer will, darf Zahlencodes über das Ziffernfeld der Tastatur eingeben.

Besitzer eines Microsoft-Pads können hingegen während des Spiel zwischen Pad- und Tastur/Maus-Steuerung wechseln.

Nicht zuletzt werden mit Eyefinity mehrere Bildschirme unterstützt. Auch das Spielen in stereoskopischem 3D ist möglich.

Dort erhält Adam auch Erweiterungen wie größere Munitionskammern, höhere Schadenswirkung, verkürzte Ladezeiten oder einen Laserpointer - jede Waffe ermöglicht ganz bestimmte Upgrades. Bei Bedarf kauft er außerdem Minenschablonen sowie Granaten und baut daraus die benötigten Minen selbst zusammen. Schließlich gibt es Splitter-, Blend- und Gasgranaten, um Wachen fernzuhalten. Sprengkörper mit Elektroschocks machen hingegen Robotern den Garaus und setzen Menschen mit Prothesen, einschließlich Jensen, gehörig zu. Seine Fähigkeiten kann er dann eine kurze Zeit nicht einsetzen, sein System muss neu starten - ein ebenso ärgerlicher wie ziemlich cooler Effekt!

Ich will da nicht hin!

Trotzdem wollte ich mich irgendwann vor diesen Granaten schützen. Ich habe mich zwar das ganze Spiel über keiner Wache gezeigt und musste deshalb nur in Bosskämpfen Granaten ausweichen, es werden aber auch manche Wege von elektrisch aufgeladenem Wasser versperrt. Natürlich hätte ich wie zu Beginn zwei Kisten immer wieder so umstellen können, dass ich von der einen auf die andere und irgendwann über das Wasser hinweg komme. Aber ich wollte solche Situationen einfach eleganter lösen. Und genau dafür ist ein Großteil der Fähigkeiten da: Sie erleichtern Adam den gewählten Weg. Als Hardcore-Hacker war etwa recht schnell kein Schloss mehr vor mir sicher. Später konnte ich mannshohe Kisten auf Wachen schmeißen, gefahrlos aus großen Höhen springen und durch schwache Mauern brechen. Ich hätte auch die Widerstandsfähigkeit gegen Gas verstärken oder die Bewegung des Fadenkreuzes eindämmen können. Großartig: Die Charakterentwicklung ist jederzeit offen und nur von meinen Vorlieben abhängig!

Es gefällt mir weniger gut, dass mir so viele Fähigkeiten lediglich das Leben vereinfachen. Neue Möglichkeiten öffnen sich nach einem Stufenaufstieg kaum. Hier und da bleibt mal ein Weg versperrt, weil Adam stark gesicherte Schlösser noch nicht knacken oder nicht aus großer Höhe fallen kann. Solche Momente heben die Stärken und Schwächen eines Charakters wunderbar hervor - leider gibt es zu wenige davon! Es ist ein zweischneidiges Schwert: Natürlich ist es hervorragend, dass es zu jedem Weg, zu jeder Lösung mindestens eine Alternative gibt.

So viele Wege: Jeden wichtigen großen Raum erreicht man über mindestens zwei Eingänge.
So viele Wege: Jeden wichtigen großen Raum erreicht man über mindestens zwei Eingänge.
Ob Adam Kisten stapelt, durch einen Lüftungsschacht kriecht, ein Türschloss hackt, den Code auf einem Tablet findet oder durch die Kanalisation schleicht: Irgendwie kommt er schon hin. Und es ist toll, dass die Art und Weise allein mir überlassen bleibt. Gelegentlich beschlich mich aber das Gefühl, dass die vielen Möglichkeiten zu beliebig platziert wurden. Manchmal fehlt das Erfolgserlebnis, wenn ich weiß, dass ich sowieso irgendwie angekommen wäre. Es ist keine Kritik an der Vielfalt - es ist eine Bitte um das richtige Maß: Zeigt mir meine Schwächen auf! Damit mir anderswo meine Stärken umso bewusster werden.

Ich habe trotzdem jeden Moment genossen, in dem ich mit Adam schneller laufen oder höher springen konnte. Ungeschlagen ist für mich der Sprung von einem Dach, bei dessen Aufkommen Adam sämtliche Wachen in unmittelbarer Nähe zu Boden wirft. Der wird nämlich genau wie die brachialen KO-Schläge in einer kurzen Sequenz inszeniert, für die das Bild kurz zu einer Außenperspektive umblendet. Nach dem Sprung wird Adam zwar entdeckt - versuchen musste ich es trotzdem. Immerhin darf man jederzeit bis zu 20 Spielstände festhalten. Nur die langen Ladezeiten von etwa einer halben Minute sind ein kleines Ärgernis beim Zurücksetzen. Ich habe außerdem unheimlich viel Zeit damit verbracht, die in ihrer Anzahl überschaubaren, inhaltlich aber durchdachten Gefallen zu erledigen, die ich abseits des Verschwörungsplots annehmen durfte.

Die Welle der Verschwörungen

Denn obwohl Adam im Grunde einen Auftrag nach dem nächsten für David Sarif erledigt, hat er zwischendurch oft Zeit zum Luftholen. So kann er sich ähnlich wie Alex in Deus Ex: Invisible War frei in Städten wie Detroit oder Shanghai bewegen. Tatsächlich habe ich mehr als 20 Stunden in jeder der Städte zugebracht, weil es so unheimlich viel zu entdecken gibt! An den Gesprächen der Einwohner untereinander konnte ich mich z.B. nicht satt hören. Alleine die Tatsache, dass viele Menschen in Shanghai lange Gespräche auf Chinesisch halten, verdeutlicht die Mühe, die sich Eidos mit der Ausstattung der Kulisse gegeben hat. Überall liegen Zeitungen mit interessanten Meldungen, Bücher erklären die drei zentralen Standpunkte in Bezug auf die künstlichen Körperteile,

Über die Informationen auf Tablets, in Büchern, Zeitungen, Fernsehsendungen oder Emails lernt man die umfangreiche Zukunftsvision kennen.
Über Tablets, Bücher, Zeitungen, Fernsehsendungen oder Emails lernt man die umfangreiche Zukunftsvision kennen.
andere beschreiben medizinische Hintergründe. Unzählige persönliche und geschäftliche Emails geben Einblicke in Privat- und Geschäftsleben. Und dann legt Eidos noch ganz unaufdringlich das erzählerische Fundament für das, was ein gewisser JC Denton in 25 Jahren erleben wird...

Unglaublich motivierend ist die Art und Weise, mit der man Computer, Terminals oder Schlösser hackt, denn das Minispiel ist ein kniffliges Puzzle. Das wird spätestens dann haarig, wenn der Computer den Hacker bemerkt und versucht, dessen Position aufzuspüren. Beide Parteien nehmen dabei Knotenpunkte ein, was je nach Stärke des Schlosses eine Weile dauern kann. Teure Hilfsprogramme nehmen einen Knoten umgehend ein, andere halten den Countdown einige Sekunden auf. Traut man es sich zu, holt man an Bonusknoten Geld, Erfahrungspunkte oder Hilfsprogramme, bevor man den Computer endgültig knackt - ein ebenso gewagtes wie befriedigendes Unterfangen! Klasse auch, dass Adam während des Hackens noch den Kopf drehen kann, um nach Wachen Ausschau zu halten. Monitore wirken so wie echte Bildschirme, anstatt separate Spielfelder zu sein.

Stilvolles Stillleben

Zurück auf die Straße, wo es durchaus seltsam anmutet, dass fast alle Passanten stundenlang am Fleck stehen und Adam lediglich auf Knopfdruck ein paar Zeilen Text zuwerfen. Echte Unterhaltungen führt er nur mit Auftraggebern. Einbrüche werden selten geahndet und falls man Gewalt anwendet, wird Jensen von der Polizei gejagt - wurde der Alarm aufgehoben, erinnert sich aber kein Polizist mehr an sein Gesicht. Ärgerlich ist das besonders dann, wenn  einer der Polizisten sein ehemaliger Partner ist. Adam könnte ihn beliebig oft angreifen - solange er ihn nicht umbringt, wird er später stets ganz normal mit ihm reden. Ein modernes Rollenspiel ist Human Revolution nicht. Dazu fehlen wichtige Konsequenzen und eine glaubwürdige Welt. Als facettenreiches Stillleben, in dem selbst Kunstliebhaber immer wieder etwas entdecken, ist es allerdings das Musterbeispiel einer hervorragenden Kulisse.

Nicht zuletzt, weil es grandiose Ansichten zeigt! Leuchtende Reklametafeln, dunstige Straßenzüge, gedrungene Altbauten unter strahlenden Glastürmen: Wer Human Revolution spielt, ist im Paradies der Science-Fiction-Fantasien. Es ist nicht nur das Blade Runner in den Straßen, auch die Inneneinrichtung haben begnadete Architekten entworfen. Selbst wenn sie mit wenigen Strichen gezeichnet wurden, haben alle Räume eine markante Struktur.

Sowohl Innen- als auch Außenarchitektur entstammen den Pinseln erstklassiger Künstler.
Sowohl Innen- als auch Außenarchitektur beweisen, dass begabte Künstler wichtiger sind als gute Techniker.
Einfache Farben und Formen bestimmen das Bild - gelungene Pinselstriche, die zeigen, wie viel wichtiger gute Künstler im Vergleich zu aufwändiger Technik sind. Denn ein technisches Meisterwerk ist auch dieses Deus Ex nicht: ausgefranste Schatten fallen auf Konsole ebenso auf wie die grob geschnitzten Gesichter in vielen Dialogen auf allen Plattformen. In der deutschen Ausgabe stören außerdem falsche Betonungen und dass die gesprochenen Texte immer wieder nicht zu den Bewegungen der Lippen passen. Schade, dass die hervorragend besetzte Originalversion in der deutschen Konsolenversion nicht enthalten ist.

Besonders einmalige Auftraggeber fallen mit ihrer starren Mimik auf; stehen lassen sollte man sie trotzdem nicht! Immerhin sind die Aufgaben, die sie Adam auftragen, keine drögen Lieferdienste. Stattdessen bestehen fast alle dieser kleinen Gefallen aus erzählerisch interessanten Missionen, die nicht nach zwei Begegnungen mit dem Auftraggeber schon beendet sind. Manche erfordern moralische Entscheidungen, in einer erfährt Adam mehr über seine Vergangenheit. Ärgerlich sind gerade beim freien Erkunden die Ladezeiten, die man beim Betreten einiger Gebäude oder beim Wechsel zwischen den zwei chinesischen Stadtteilen überstehen muss. Dennoch habe ich mich selten besser aufgehoben gefühlt als in dieser düsteren Zukunft.

Fremde Schönheit

Leider schöpft Eidos das Potential dieser großen Vision aber nicht ganz aus. Die geradlinige Handlung ist spannend, sie hat interessante Figuren - sie stößt jedoch nicht in Dimensionen vor, in denen sich das erste Deus Ex bewegte. Dazu ist der Verschwörungsplot letztlich zu überschaubar und dazu bekommt auch Adam Jensen nie das Gesicht, das ihm zusteht. Zu Beginn, als ich noch wählen konnte, ob Adam mit seinem Schicksal hadern oder sich über die Möglichkeiten seiner Prothesen freuen soll, als sich zum ersten Mal die Jalousien in Adams Wohnung öffneten und ein fahler Schimmer müde in das staubige Wohnzimmer kroch, als ich Adams zertrümmerten Spiegel sah - da versprach Human Revolution ein vielschichtiges Charakterspiel, bei dem ich die Fäden ziehen würde. Und als ich neugierig war, erlaubte mir ausgerechnet Pritchard, Adams bissige Stimme im Ohr, einen Einblick in Jensens Vergangenheit.

Doch dann ließ Eidos die Fäden fallen, inszenierte weiterhin die packende Dystopie, verlor Adam als Charakter aber aus den Augen. Und noch etwas: So ganz ist es nicht nur Eidos' Vision, die hier inszeniert wird. Denn in Human Revolution steckt ein zumindest auffälliges Stück Metal Gear Solid 4.

Déjà-vu.
Déjà-vu.
Eine Kopie kann man Deus Ex nicht vorwerfen. Dazu sind die Themen, Hintergründe und die Geschichte viel zu ausgewachsen. Versatzstücke erkennt man aber wieder - Stücke wie drei Begegnungen mit mächtigen Bossen, die erzählerisch ähnlich bedeutungslos sind wie die Beauties in Snakes letztem Ausflug.

Der wahre Showdown

Es ist nicht nur der erzählerische Hintergrund, es ist auch die Art der Herausforderung. Denn in beiden Fällen erweitern die Höhepunkte nicht den spielerischen Horizont. Es ist lobenswert, dass die Begegnungen nicht zu reinen Actionspektakeln verkommen! So konnte ich die Bosskämpfe mit ähnlicher List für mich entscheiden, mit der ich auch sonst Gefechte bestreiten würde. Zwar greift das Versteckspiel gegen mit ähnlichen Fähigkeiten ausgerüstete Widersacher weniger gut, das ist allerdings nur eine nachvollziehbare Konsequenz. Und immerhin: Im finalen Kampf konnte ich meine Liebe für das heimliche Schleichen wieder voll und ganz einbringen. In welchem Showdown hat es das zuletzt gegeben?

Die eigentlichen Höhepunkte, die spannendsten Augenblicke erlebte ich allerdings in ganz anderen Momenten - in speziell inszenierten Dialogszenen, bei denen sowohl Adam als auch sein Partner vom Spiel geführt werden, in denen ich aber mit jeweils drei verschiedenen Antworten das Gespräch so lenken muss, dass Adam die gesuchten Antworten erhält. Es geht nicht darum, die Frage des Gegenübers zu lesen und schon in den möglichen Antworten seine Reaktion abzulesen. Eidos schafft es vielmehr, dass man darauf hören muss, was der Andere sagt. Man muss einschätzen können, wer diese Person ist, aus welchen Motiven heraus sie handelt und daraus schlussfolgern, mit welcher Reaktion  man am ehesten sein Gemüt anspricht. Das System ist nicht neu. Es ist die bekannte Struktur, bei der jede der Antworten zu unterschiedlichen Gesprächsbäumen führt. Eidos hat allerdings so gute Dialoge geschrieben, dass die Unterhaltungen auf eine natürliche Weise unberechenbar und doch durchschaubar sind. Klasse!

Fazit

Die Revolution findet nur in der Erzählung statt - spielerisch verhält sich die Restauration des Klassikers ausgesprochen konservativ. Noch immer jongliert Deus Ex gekonnt mit Rollenspiel, Action und dem Schleichen. Noch immer tut es das in einer größtenteils geradlinigen Missionsfolge, die an zentralen Standorten durch freies Erkunden und das Annehmen freiwilliger Aufgaben behutsam aufgebrochen wird. Seine großen Stärken sind - wie immer - die offenen Einsatzgebiete mit ihren zahlreichen Wegen, die vielen Handlungsmöglichkeiten sowie der Aufbau einer ungemein gut durchdachten Zukunftsvision, von der man sich beim Lesen von Emails, Büchern oder das Belauschen von Gesprächen ein eigenes Bild schaffen muss. Weil man sich jederzeit am Gegner vorbei schleichen, ihn KO schlagen oder zum Feuergefecht verleiten kann, funktioniert Deus Ex vor allem als Bühne für kreative Taktiker. Als reines Actionspiel zeigt es allerdings Schwächen in der Inszenierung, die Gegner verhalten sich altmodisch, sie machen Fehler und Adam lässt sich für einen modernen Actionhelden nicht immer schnell genug bewegen. Während man schleicht, übersehen die Wachen hingegen offensichtliche Veränderungen in ihrer Umgebung und beherrschen nur grundlegende Verhaltensmuster. Für ein Rollenspiel sind die Aktionsmöglichkeiten in den Städten schließlich, gerade im Umgang mit den starr am Fleck stehenden Passanten, sehr eingeschränkt. Die spannende Geschichte kitzelt nie das Prickeln des ganz großen Verschwörungs-Epos' heraus und begnügt sich irgendwann mit einem oberflächlichen Zugang zu ihren Charakteren. Im Detail kann man Human Revolution viel vorwerfen. In seiner Gesamtheit allerdings, beim Verbinden aller Elemente zu einem packenden, spielerisch freien Thriller, macht es verdammt viel richtig - ähnlich viel wie seine Vorgänger richtig machten. Mit dem kniffligen Hacken sowie den erzählerisch belanglosen, aber spannenden Bosskämpfen baut es die bekannte Formel sogar behutsam aus. Besser gelingt ihm das mit Verhören, die so gut geschrieben sind, dass man tatsächlich Menschenkenntnis braucht, um den Gesprächspartner richtig einzuschätzen und ihm so Informationen zu entlocken. Der erste Schritt, die Wiederherstellung eines Klassikers, ist trotz aller Schwächen gelungen! Hoffentlich gelingt es Eidos auch, die einzelnen Bausteine in einer Fortsetzung auszuarbeiten. Denn erst dann könnte ein Deus Ex wie sein Urvater heute noch etwas Neues schaffen. Das Wichtigste aber wollte ich mir aufheben, seit ich Human Revolution vor mehr als einem Jahr zum ersten Mal gesehen habe - und ich bin froh, dass der Eindruck damals nicht getäuscht hat. Das Wichtigste ist: Deus Ex ist zurück!

Pro

taktische Kämpfe mit zahlreichen Aktionsmöglichkeiten
wahlweise (fast) komplett gewaltfrei lösbar
etliche ersichtliche und versteckte Wege
jede Situation, ob Kampf oder Erkunden ist verschieden lösbar
Gegner suchen Deckung, rücken langsam vor...
spannende Bosskämpfe...
Wachen patrouillieren geschickt und reanimieren Bewusstlose...
offene Charakterentwicklung
clevere/geschickte Aktionen werden mit mehr Erfahrung belohnt
technologisch und philosophisch durchdachte Zukunftsvision
unbeschreiblich viel in Emails, Büchern usw. zu entdecken
klasse besetzte Schauspieler in englischer Version, aber...
ausgesprochen stimmungsvolle Musik
zahlreiche Anspielungen und Verbindungen zu früheren Deus Ex'
herausragende Innen- und Architektur, großartiger Zeichenstil
aktives Hacken als kniffliges Minispiel
spannende Verhöre setzen auf Erkennen von Verhaltensmustern
erzählerisch interessante, mehrstufige Nebenaufgaben
Schwierigkeitsgrad kann jederzeit geändert werden

Kontra

inhaltliches Potential der Geschichte wird nicht ausgeschöpft
Figuren bleiben für eine geradlinige Erzählung zu blass
finaler Abschnitt ist bis auf Endkampf spielerisch enttäuschend
Gegner bewegen sich nur innerhalb unsichtbarer Grenzen
... stürmen aber oft blindlings Adams Position
... gegen erzählerisch belanglose Gestalten
... übersehen aber Waffen, Diebstahl und Personen neben sich
im Kampf ist Adam vergleichsweise unbeweglich
bis auf Takedowns gegen Energie kein Nahkampfangriff
Städte wirken trotz Menschen relativ unbelebt
ursprünglich freundlich Gesinnte vergessen Gewalteinsatz schnell
... falsche Betonungen im Deutschen / oft nicht lippensynchron

Wertung

360

Im spielerischen Detail kann Deus Ex nicht immer überzeugen. Die spielerischen Freiheiten und das überzeugende Szenario zeigen aber: Deus Ex ist zurück!

PC

Im spielerischen Detail kann Deus Ex nicht immer überzeugen. Die spielerischen Freiheiten und das überzeugende Szenario zeigen aber: Deus Ex ist zurück!

PlayStation3

Im spielerischen Detail kann Deus Ex nicht immer überzeugen. Die spielerischen Freiheiten und das überzeugende Szenario zeigen aber: Deus Ex ist zurück!

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