I Am Alive07.02.2012, Jörg Luibl
I Am Alive

Vorschau:

Es sollte bereits vor drei Jahren erscheinen, vom französischen Studio Darkworks (Cold Fear, Alone in the Dark: The New Nightmare) entwickelt werden und den Überlebenskampf in Chicago inszenieren. Aber dann kam alles anders: Ubisoft hat das Studio, die Stadt sowie die Systeme gewechselt. Jetzt erscheint I Am Live nicht zum Vollpreis, sondern für knapp 15 Euro ausschließlich digital. Ein verspätetes Billig-Abenteuer aus Shanghai?

Vom Opfer zum Täter

Das kleine Mädchen hockt verängstigt hinter einem Zaun. Drei Typen versperren ihr den Weg ins Freie. Ich denke gar nicht erst darüber nach, dass einer von ihnen eine Pistole trägt und klettere über die Absperrung. Sofort dreht sich das Trio um, sie taxieren mich wie Raubtiere. Ich warte, sie kommen langsam näher. Ich könnte meine Waffe ziehen, aber ich habe keine Munition – dumm gelaufen. Also setze ich alles auf eine Karte, lasse sie in dem Glauben, komplett unbewaffnet zu sein. Und plötzlich wittern sie Hilflosigkeit, pirschen heran…

Einer von ihnen kommt etwas zügiger auf mich zu, seine Pistole gezückt. In einem 08/15-Shooter hätte ich gar keine Möglichkeit für einen taktischen Bluff. Aber dieses Abenteuer geht kreativer an Konflikte heran, inszeniert sie authentischer: Hier muss ich z.B. warten,bis mir der Feind die Knarre fast an die Schläfe setzt. Das sorgt für eine situative Spannung, die den meisten Actionspielen abgeht. Ich halte kurz den Atem an, dann blinkt der Knopf für den Reaktionstest und ich schlage mit der bisher versteckten Machete zu – der Mann bricht röchelnd zusammen.

Auge um Auge

Dieser Überraschungseffekt sorgt für den ersten Toten und bringt mir einen Schuss Munition, der scheinbar wie von Geisterhand direkt in mein Magazin wandert – was weniger authentisch wirkt. Jetzt ziehe ich meine geladene Pistole und visiere die beiden anderen Typen an. Auch hier reagieren die Feinde sehr gut auf mein Verhalten: Je nachdem, auf wen ich den Lauf der Pistole richte, weicht nur einer dieser Schläger zurück. Stecke ich meine Waffe ein, kommen beide zügig auf mich zu. Aber diesmal habe ich einen Schuss frei, der den ersten sofort nieder streckt.

Aber noch ist ein Feind übrig, der jetzt sichtlich nervös auf meine Waffe blickt. Zwar ist sie leer, aber davon ahnt er nichts. Also kann ich ihn in Schach halten und weil er alleine ist, wird aus dem Opfer in Unterzahl, das in Notwehr und zum Schutz des Mädchens handelte,

Licht im Dunkeln: Stellenweise kommt Horrorflair auf.
Licht im Dunkeln: Stellenweise kommt Horrorflair auf. Schade, dass es kaum interessante Gegenstände gibt und eher Arcade-Items wie Retrys und Medi-Packs.
plötzlich ein Täter. Ich kann in dieser Situation nicht verhandeln oder den Mann wegjagen. Ich kann ihm nur Befehle wie „Bleib stehen!“ oder „Zurück!“ geben, mehrmals hintereinander, um ihn irgendwann auf den Knien hockend auszuknocken oder mit einem Tritt in einen Abgrund zu befördern.

Die Straße ruft

Die Gnadenlosigkeit passt sehr gut zu einer apokalyptischen Welt, in der jeder ums Überleben kämpft und in der die Entwickler auch die Menschlichkeit des Spielers auf die Probe stellen wollen. Eine Katastrophe hat die Erde heimgesucht, ihre Städte versinken seit einem Jahr in Staub, Gewalt und Dreck – die Atmosphäre erinnert umgehend an „Die Straße“ von Cormac McCarthy. Das Abenteuer des einsamen Helden spielt in der fiktiven US-Metropole Haventon. Er sucht zwischen Schutt und Zerstörung verzweifelt nach seiner Familie, eine Frau und eine Tochter. Ob sie sich in Sicherheit flüchten konnten? Ob sie irgendwo leben? Kann die Story überzeugen? Diese Fragen treiben mich an.

Dass das eigene Gewissen auf die Probe gestellt werden soll, hört sich theoretisch gut an – sehr gut sogar. Was wäre da an Dialogen und Konflikten möglich! Und im Vorfeld des Spiels haben die Entwickler angekündigt, sowohl den Verlust der Menschlichkeit als auch des Verstands zu thematisieren. Aber in der Praxis der ersten Stunden wirken die Begegnungen mit Opfern der Katastrophe zu oberflächlich. Man kann sich zum einen nicht mit ihnen unterhalten, obwohl man allen Grund dazu hätte. Und zum anderen ging es bisher nur darum, ob man ihnen eines der seltenen Heilpakete gibt oder nicht.

Authentizität kontra Arcade

Beim Klettern muss man seine Ausdauer gut einteilen.
Beim Klettern muss man seine Ausdauer gut einteilen.
Als Belohnung winken dann weder wertvolle Hinweise noch nützliche Gegenstände oder wenigstens gehaltvolle Gespräche, sondern …mehr Spielversuche. Bis zu zwanzig Opfern soll ich im weiteren Laufe des Abenteuers begegnen. Für jede Hilfeleistung bekomme ich zum einen mehr „Retrys“ und zum anderen steigt damit meine finale Punktzahl. Diese Arcade-Elemente rauben dem Spiel etwas von seiner dramaturgischen Authentizität. Schon bei der Wahl der Schwierigkeit beeinflusst man nicht etwa die Gefahr in der Spielwelt, sondern lediglich die Ausschüttung der Retrys.

Trotzdem fesselt das Abenteuer, denn es inszeniert die Begegnungen mit Fremden und potenziellen Feinden erfrischend offen: Wo gewöhnliche Spiele nur den Angriff kennen, gibt es hier mehrere Stufen der Interaktion. Man kann auf hysterische Eremiten oder kaltblütige Killer treffen, auf nervöse Einzelgänger oder organisierte Gruppen. Manchmal reicht es aus, langsam aus dem Blickfeld eines Aggressors zu verschwinden oder sein Gebiet nicht zu betreten, um ohne Blutvergießen weiter zu kommen. Allerdings gewöhnt man sich irgendwann an die scheinbar offenen Situationen, denn man muss lediglich klaren Handlungsmustern folgen, um sie zu lösen. Ob man sich später auch mal vertun kann? Ob es unberechenbarer wird?

Ein Hauch von Silent Hill

Wie reagiert man auf den bewaffneten Fremden: Wegrennen? Waffe ziehen? Abwarten und bluffen?
Wie reagiert man auf den bewaffneten Fremden: Wegrennen? Waffe ziehen? Abwarten und bluffen?
Auf dem Weg durch die Stadt kann ich mich an einer dynamisch aktualisierten Karte orientieren, die im Stile von Silent Hill kürzlich entdeckte Sackgassen markiert. Überhaupt erinnert das einsame Stromern durch eine lebensfeindliche Düsternis an den Horrorklassiker. In den ersten Stunden kann ich mich zwar relativ frei bewegen, aber das Abenteuer findet nicht in einer offenen Welt statt – recht früh werden mir Grenzen auf- und lineare Ziele angezeigt. Ob sich das Spiel später noch öffnet? Trotzdem macht vor allem die akrobatische Erkundung mehr Spaß als etwa in Assassin’s Creed, obwohl sie weniger elegant und ähnlich direkt inszeniert wird. Aber hier kann man öfter tödlich stürzen. Hier sinkt die Ausdauer, wenn man zu lange an Wänden entlang kraxelt. Und hier muss man sich die Kraft taktisch gut einteilen.

Das Klettern ist auch deshalb spannend, weil es manchmal über Leben und Tod entscheidet: Wenn die Luftverschmutzung am Erdboden zu stark ist, muss man schnell in die Höhe kommen – ansonsten stirbt man hustend. Man muss optimale, aber meist offensichtliche Routen finden, kann weite, aber Kraft kostende Klettersprünge oder auf langen Touren auch Haken einsetzen. Letztere sorgen für einen blinkenden Ruhepunkt, an dem die eigene Ausdauer komplett regeneriert; ohne sie wäre das nur über Getränke möglich. Ansonsten kann ich geduckt gehen, sprinten oder eine Seitwärtsrolle einleiten, wenn ich an schrägen Abgründen hinunter schliddere und dabei geschickt abbremse – nur so erreiche ich vielleicht den rettenden Sims vor dem klaffenden Abgrund.

Ausblick

Warum hat Ubisoft so eine Angst vor diesem Spiel? Warum trauen sich die Franzosen nicht, dieses Abenteuer mit voller Kraft zu unterstützen? Die Atmosphäre erinnert an „Die Straße“ von Cormac McCarthy, das Figurenverhalten ist so lebendig wie in keinem anderen Actionspiel, das Klettern ist anspruchsvoller als beim Assassinen, der Kampf ums Überleben wird stilsicher inszeniert und es riecht sogar nach Silent Hill. Aber ich vermute nach ein paar Stunden, dass sich das Potenzial dieser apokalyptischen Odyssee nicht voll entfalten wird: Vieles wirkt zu geradlinig, zu oberflächlich, zu künstlich. Anstatt das wichtige Thema der Menschlichkeit weiter zu vertiefen, wird das billige Prinzip der Retrys und Highscore hofiert - damit sägt man auch an der Glaubwürdigkeit der Spielwelt. Trotz dieser Kritik an den faulen Arcade-Kompromissen muss ich die situative Spannung ausdrücklich loben. Wer also befürchtete, dass es nach all den Verschiebungen und der digitalen Distribution „billig“ wird, darf aufatmen. Wer allerdings die Hoffnung hegte, dass dieses Abenteuer ein großartiges wird, sollte wieder ausatmen, denn dazu fehlte es scheinbar an Mut und Mitteln. Oder kommt da noch mehr? Ich lass mich von der finalen Version gerne überraschen.

Ersteindruck: gut

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