Fahrenheit24.07.2005, Mathias Oertel
Fahrenheit

Vorschau:

Auch wenn Adventure derzeit eine kleine Renaissance feiern, halten eigentlich alle an alten Spielprinzipien fest. Doch das von Quantic Dreams (Omikron - The Nomad Soul) entwickelte Fahrenheit (ab 1,84€ bei kaufen) möchte das alt hergebrachte Gameplay mit einigen neuen Ideen revolutionieren. Warum das ehrgeizige Vorhaben gelingen könnte, verrät die Vorschau.

Eine normale Nacht in New York…

Ich knie über der Leiche eines Unbekannten. Wieso habe ich ein Messer in der Hand? Verdammt! Das Letzte, an was ich mich erinnere ist, dass ich in dem kleinen idyllischen Diner in einer Seitenstraße in New York City auf die Toilette gegangen bin…

Habe ich den Mann getötet? Oh mein Gott! Meine Hände sind voller Blut! Ich muss hier raus! Nein. Draußen sitzt ein Cop. Ich muss meine Spuren verwischen. Also gut: Die Leiche kann ich auf einem der Klos absetzen und die Tür schließen. Mit dem Wischmop kann ich den Boden von Blutspuren reinigen. O.K. Und jetzt raus. Stopp! Meine Hände sind voller Blut. Nur die Ruhe bewahren. Hände waschen – ahh, jetzt geht es mir besser.

Nicht nur die Splitscreen-Technik sorgt für Filmatmosphäre!
Und jetzt ohne Aufsehen zu erregen das Lokal verlassen – oder sollte ich mich lieber stellen? Nein, das kommt nicht in Frage – keiner würde mir meine Geschichte abnehmen.

So… Nur noch ein paar Schritte zur Tür.

"Entschuldigung" – die Bedienung.

Sie weiß, was passiert ist. Soll ich rauslaufen? Nein, ich warte, was sie von mir will.

"Sie haben vergessen, zu bezahlen."

Noch mal Glück gehabt. Ich lege das Geld auf meinen Tisch und gehe raus. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass der Cop aufsteht und in Richtung der Waschräume geht. Ich habe nicht mehr viel Zeit. Bald wird die gesamte New Yorker Polizei nach mir suchen…

Entscheidungsfreiheit

Bereits diese erste Szene macht deutlich, was die Entwickler bei der Konzeption im Kopf hatten: Weg von herkömmlichem Point&Click (selbst, wenn es in einer 3D-Umgebung spielt), hin zu einem Erlebnis, das nur auf eure Entscheidungen baut und sich dementsprechend entwickelt.

Denn alle Aktionen, die im ersten Absatz geschildert wurden, werden von euch initiiert. Über kontextsensitive Icons seht ihr, mit welchen Gegenständen, Personen usw. ihr interagieren könnt. Ob ihr dies macht, bleibt euch überlassen.

So könntet ihr z.B. die Leiche einfach liegen lassen und voller Panik fliehen. Ob ihr damit durch kommt, ist eine andere Frage, aber einen Versuch könnte es auf jeden Fall wert sein.

Vorsicht: Wenn die Depression zu groß wird, kommt es evtl. zum Selbstmord.
Dieses Prinzip zieht sich durch alle etwa 40 Kapitel, aus denen die spannende und in manchen Punkten an "Das Schweigen der Lämmer" erinnernde Geschichte um Ritualmorde besteht.

Dabei hat es das Team geschafft, eine Art lineares und dennoch freies Erzählsystem aufzubauen. Das bedeutet, dass Anfang und Ende jedes Kapitels im Wesentlichen vorgegeben sind. Doch da ihr innerhalb jedes einzelnen Abschnitts zahlreiche Entscheidungsmöglichkeiten habt, ist der Weg erstaunlich offen und wirkt sich auf die späteren Kapitel aus.

In einem anderen Erzählabschnitt redet ihr z.B. mit eurem Bruder (ein Priester) über den Mord. Endet dieses Multiple-Choice-Gespräch in einem Streit, taucht euer Bruder für den Rest des Spieles nicht mehr auf, so dass sich die ganze Geschichte anders entwickelt.

Aber da es kein "Richtig" oder "Falsch" im engeren Sinne gibt, könnt ihr unbesorgt weiter machen, müsst euch aber auf neue Ereignisse einstellen, die möglicherweise nicht passieren würden, wenn ihr euch nicht mit ihm überworfen hättet.

Oder was ist mit dem Kind, das in den zugefrorenen See einbricht? Rettet ihr den Jungen, auch wenn der Cop aus dem Diner gerade Patrouille läuft? Oder nehmt ihr ein Sinken eurer geistigen Konstitution in Kauf und werdet leicht depressiv, weil ihr zu feige wart, euch in Gefahr zu bringen?

     

Spielerische Persönlichkeitsspaltung

Denn abgesehen von den Entscheidungen gibt es noch ein paar andere Dinge zu beachten, z.B. den angesprochenen Geisteszustand. Denn wir ihr in ein depressives Loch fallt, kann es dazu führen, dass ihr Selbstmord begeht.

 

In vielen Situationen wird der Spieler aktiv in das Geschehen einbezogen.
Mit einer weiteren Idee kommt perspektivische Abwechslung hinzu: Denn ihr steuert nicht nur den vermeintlichen Mörder, sondern auch z.B. das Polizisten-Duo, das den Mord aufklären soll. Das mag sich vielleicht merkwürdig anhören, doch das Team hat es geschafft, die Hintergrund-Storys der weiteren Figuren unglaublich harmonisch einzubauen. Und das Déjà-vu-Erlebnis, das sich einstellt, wenn man mit den Cops den Tatort besucht, um Spuren aufzunehmen, ist unbeschreiblich.

Mittendrin statt nur dabei

Einen weiteren Reiz gewinnt Fahrenheit durch die aktive Einbindung des Spielers in die Handlungen der Figuren. Nehmen wir das Beispiel "Aufwischen der Blutlache": Habt ihr den Mop aufgenommen, müsst ihr die Wischbewegungen selbst durchführen. Oder wenn ihr im Park den Jungen rettet, könnt ihr die Anstrengung sehr gut nachvollziehen, da ihr wie wild die Schultertasten bedienen müsst. Gleiches gilt für Türen öffnen usw.

In Multiple Choice-Situationen steht ihr ebenfalls unter Druck. Zwar drängt euch hier nur eine schnell ablaufende Zeitleiste, doch wenn ihr es nicht schafft, in diesem Zeitfenster eine Entscheidung zu treffen, sinkt euer Geisteszustand…

Mit kleinen Quicktime-Reactions werdet ihr zusätzlich ins Geschehen gesaugt, so dass Fahrenheit wirklich alles mitbringt, um das Genre spielerisch in neue Bahnen zu lenken.

In Fahrenheit steuert ihr einen ganzen Haufen an Figuren, darunter auch die Cops, die den Fall aufklären müssen!
Technisch sauber

Mit einer sauberen und umfangreichen (teilweise lippensynchronen) Sprachausgabe sowie Kompositionen aus der Feder von Filmmusikschreiber Angelo Badalamenti (Twin Peaks, Cabin Fever, Dark Water) wird eine dichte Atmosphäre geschaffen, die filmreif ist.

Und auch wenn die Texturen im Detail nicht ganz den Leistungsstand der gegenwärtigen Konsolen-Generation repräsentieren, sorgt der Grafikstil ebenfalls für Film-Stimmung.

Dies wird auch dadurch unterstützt, dass ähnlich wie in "24" zusätzliche Fenster aufgemacht werden, in denen plötzlich eine Parallelhandlung gezeigt wird, die umgehend für Spannung sorgt.

  

Ausblick

Auch wenn die Entwickler den Begriff "Interaktiver Film" auf Grund der negativen Beispiele in der Vergangenheit nicht hören wollen, scheint Fahrenheit doch genau das zu sein – allerdings auf einem vollkommen neuen Niveau: spannend, clever inszeniert und atmosphärisch extrem dicht konnten die etwas mehr als zehn Prozent, die wir bislang angespielt haben, durchweg ans Pad fesseln. Dass Fahrenheit gleichzeitig nahezu alle klassischen Adventure-Elemente zu Grabe trägt und stattdessen den Schwerpunkt auf Entscheidungen, Quick-Time-Reactions und einer von euren Aktionen abhängigen Storyline innerhalb der einzelnen Kapitel legt, sorgt zusätzlich für gewaltige Motivation. Innovativ, technisch überzeugend und immer für eine Überraschung gut: So müssen Adventures der Zukunft aussehen! Wenn Fahrenheit in der finalen Version ähnlich stark punkten kann, dürfte dem Award nichts mehr im Wege stehen.

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