Vorschau:
Brutaler Alltag
„Dieses Schwein hat meine Frau vergewaltigt! Und ich weiß, wo er sich gerade aufhält. Den greife ich mir und mach ihn fertig!“. Gespräche wie diese schnappt man schon mal auf, wenn man sich willkürlich in die Mobiltelefone von Passanten hackt. Und Aiden Pearce kennt alle Tricks, um die moderne Technologie für seine Zwecke zu nutzen. Der Unbekannte marschiert los. Zielstrebig. Entschlossen. Und zu allem bereit. Hat er da etwa eine Waffe in seiner Jackentasche? Aiden heftet sich an die Fersen des aufgebrachten Ehemanns, hält aber immer einen gewissen Sicherheitsabstand, um nicht aufzufallen. Ein Schriftzug mit dem Worten „Criminal Activity“ leuchtet auf dem Bildschirm auf. Aha, hat der Mann den Peiniger seiner Frau entdeckt? Ist es der Typ, der dort an der Ecke steht? Ja, bestimmt: Mit jedem Schritt, den der Ehemann auf die Person zugeht, steigt die Wahrscheinlichkeit eines Verbrechens, die durch entsprechende Anzeigen unter dem potenziellen Täter und seinem Opfer sogar visualisiert wird. Was soll Aiden jetzt tun? Soll er eingreifen und das Verbrechen verhindern? Oder wäre es besser, wenn er ihn einfach gewähren und den möglichen Vergewaltiger durchsieben lassen würde? Das wäre doch eine gerechte Rache. Oder etwa nicht?!
Ein großer Abenteuerspielplatz
Entsprechend konzentrierte sich die Live-Präsentation einzig auf den großen Abenteuerspielplatz anstatt Einblicke in die Hauptmissionen zu gewähren. Zu entdecken und zu tun gibt es viel: Da man sich in die Telefone jedes Passanten, jede Verkehrsampel und jede Überwachungskamera hacken kann, ergeben sich zusammen mit den potenziellen Verbrechen („Criminal Activity“) zahlreiche potenzielle Situationen und Ereignisse, denen man abseits der Story nachgehen kann.
Virtuelles Leben
Aber Achtung: Aktionen wie diese tragen dazu bei, wie Aiden in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Zwar gibt es kein klassisches Gut/Böse-Moralsystem, doch definiert sich der Ruf des Spielers oft durch seine Taten. Wer z.B. bei einer Verfolgungsjagd durch die Stadt oder einer Schießerei viele Unschuldige tötet, wird als Verbrecher wahrgenommen und nicht als Held. Entsprechend kann es in diesem Fall oft passieren, dass man in den Nachrichten als gesuchter Täter auftaucht, von einem Barkeeper erkannt wird und kurz darauf schon wieder vor den Gesetzeshütern fliehen muss. Jede Aktion hat sowohl positive als auch negative Auswirkungen, doch wird dem Spieler nicht der Spiegel vorgehalten, was er „richtig“ oder „falsch“ gemacht hat. Man soll selbst entscheiden, welchen Weg man einschlägt, aber muss dann auch mit den möglichen Konsequenzen leben.
Vorsicht Spanner
Im Zentrum der Macht
Doch erst jetzt kann Aiden sein Hacker-Potenzial voll ausschöpfen: An allen Ecken blinken Objekte, die er jetzt mit seinem Mobiltelefon manipulieren kann – sei es die Ampelanlage, ein Zug oder eine Kamera, mit der er sich einen Überblick verschaffen oder sogar Personen verfolgen kann. Ein Knopfdruck genügt und schon löst man an der nächsten Kreuzung eine Massenkarambolage aus, klinkt sich in einen SMS-Chat ein oder knackt elektronische Türschlösser. Während eines Schusswechsels hat sich sogar die Fernsteuerung eines Gabelstaplers als nützlich erwiesen, der kurzerhand als mobile Deckung herhalten musste. Bisher wirkt es so, als würde das Hacken ähnlich einfach funktionieren wie bei Syndicate. Damit könnte es allerdings auch ähnlich schnell an Reiz verlieren... Wenn ich alles und jedem mit einem simplen Knopfdruck hacken kann, wird das Prinzip irgendwann nicht nur redundant, sondern in gewisser Weise auch belanglos. Ich kann nur hoffen, dass sich die Entwickler noch mehr Variationen einfallen lassen, damit man nicht vorschnell die Lust verliert.
Need for Speed für Arme?
Immerhin wird versprochen, dass die insgesamt 65 Boliden mit einer halbwegs anspruchsvollen Fahrphysik ausgestattet werden sollen. Zwar wird man keine Simulation im Stil von GTR erwarten dürfen, doch will man bewusst auf ein reines Arcade-Modell verzichten. Die Vorzeichen stehen jedenfalls gut: Da die Racing-erprobten Leute von Reflections an Watch_Dogs mitarbeiten, wird man sich vermutlich auf gelungene Rasereien im Stil von Driver einstellen können. Ob auch Upgrades und individuelle Gestaltung der Fahrzeuge eine Rolle spielen werden, wird die Zukunft zeigen.
Bumm bumm!
Wie man seine Ziele erreicht, soll oft dem Spieler selbst überlassen werden: Agiert er unauffällig nach bester Stealth-Manier und schaltet seine Widersacher still im Nahkampf aus? Oder geht er den Rambo-Weg und lässt die Waffen sprechen? Greift er lieber zum Hightech-Schnickschnack, um Probleme möglichst stilvoll zu lösen? Gerade diese verschiedenen Ansatzmöglichkeiten könnten sehr interessant werden. Für Leute, die es gerne krachen lassen, wird sich auf jeden Fall die Fokus-Mechanik als nützlich erweisen – so nennen die Entwickler die klassische Zeitlupenfunktion. Mit ihr visiert man nicht nur die Köpfe der Gegner in aller Ruhe kann, sondern kann auch Hacks initiieren, was z.B. im Rahmen einer Verfolgungsjagd bei hohem Tempo nur schwer machbar wäre.
Handy-Spielereien
Hin und wieder kann man Passanten beobachten, die seltsam ihr Handy vor das Gesicht halten und sich merkwürdig durch die Menschenmenge bewegen. Was tun sie bloß da? Ganz einfach: Sie zocken! Und wenn sie das können, dann der Spieler selbstverständlich auch: Auf dem Handy wird es eine ganze Reihe von AR (Augmented Reality)-Spielen geben. Eines von ihnen funktioniert ähnlich wie Face Raiders auf dem 3DS. Hier müssen die Passanten allerdings von Alien-Glibber befreit werden – ein lustiges Spiel im Spiel mit Highscore-Liste und allem, was dazu gehört.
Sim City
Schon in den ersten Videos fielen die Bewegungen im Bild positiv auf: Aidens Mantel flattert im Wind, Blätter werden aufgewirbelt und Regen prasselt eindrucksvoll auf den Boden. Das alles ist laut Entwicklern nicht einfach nur geskriptet – nein, das alles wird genau simuliert, wie der Wind durch die Häuserschluchten bläst und Wellen im Wasser entstehen, wenn etwa ein Boot durch den Fluss rast oder ein Windstoß kommt. Und genau diese Simulation soll zusammen mit der lebensechten Bevölkerung dafür sorgen, dass die Immersion hier noch stärker ausfällt als in anderen Open-World-Spielen, in denen die Kulisse das reale Leben in einer Großstadt weniger glaubwürdig einfängt.
Ausblick
Es war vielleicht ein Fehler von Ubisoft, sich bei der Präsentation von Watch_Dogs einzig auf die Spielereien innerhalb der offenen Welt zu konzentrieren und die potenziell wesentlich interessanteren Story-Missionen komplett außen vor zu lassen. Nicht falsch verstehen: Trotz des massiven Tearings, unter dem die gezeigte Version noch litt, ist die lebendige Kulisse mit ihrer Wind- und Wassersimulation, den zahlreichen Passanten und Stadtverkehr mindestens so beeindruckend wie die zahlreichen Möglichkeiten, die sich durch das Hacking ergeben. Allerdings bin ich mir nicht sicher, wie lange ich Spaß daran haben werde, fremde Handys zu knacken, über Webcams Wohnungen auszuspionieren oder mir zähe Verfolgungsjagden mit den Cops zu liefern. Momentan wirkt Chicago auf mich wie ein großer Spielplatz, auf dem ich aber nicht unbedingt viel Zeit verbringen will. Das liegt zum einen daran, dass mir die Hacking-Mechanik etwas zu simpel erscheint und daher ähnlich wie in Syndicate schnell an Reiz verlieren könnte. Zum anderen bin ich skeptisch, ob die „Crime Activity“ genügend Variationen bietet, um mich bei der Stange zu halten oder lediglich Abwandlungen von Story-Missionen darstellen. Es wird entscheidend sein, ob Watch_Dogs abseits des technisch imposanten, aber inhaltlich leicht austauschbaren Abenteuerspielplatzes mit einer spannenden Geschichte, Dramaturgie und einem starken Missionsdesign überzeugen kann. Ich bin vorsichtig optimistisch, dass dies mit der kreativen Energie von fünf Entwicklungsstudios gelingt und am Ende mehr herauskommt als das, was man in Paris zu sehen bekam.
Eindruck: gut
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