Shenmue 212.12.2001, Jens Bischoff
Shenmue 2

Im Test:

Worauf amerikanische Dreamcast-Besitzer vergebens gewartet haben, ist hierzulande endlich erhältlich: Die Fortsetzung von Yu Suzukis Meisterwerk Shenmue. Wie bereits der erste Teil verkörpert auch Shenmue II einen Meilenstein der Videospielgeschichte mit einzigartiger Präsentation. Kaum ein anderes Konsolenspiel bietet eine derart perfekt simulierte Spielwelt, die einen mit ihrer Detailverliebtheit vom Anfang bis zum Ende ins Staunen versetzt. In unserem Mega-Test schauen wir Ryo Hazuki auf seinem Rachefeldzug durch Hong Kong aber nicht nur fasziniert, sondern auch kritisch über die Schultern - das Ergebnis findet Ihr hier...

Nahtlose Fortsetzung

Wir erinnern uns: Nachdem Ryos Vater im ersten Teil von Lan Di getötet wurde und sein Mörder mit einem mysteriösen Spiegel verschwand, nahm Ryo die Verfolgung auf. Diese führte ihn durch sein Heimatdorf Yokosuka und die umliegenden Orte, bis die Spur in Japan endete und nach Hong Kong weiterführte. Hier, am 23. Februar 1987, knüpft die Handlung des zweiten Teils nahtlos an. Wer den Vorgänger jedoch verpasst hat, findet auf der vierten GD-ROM einen Filmrückblick auf die wichtigsten Ereignisse aus Teil 1, wodurch die spannende Story auch für Neueinsteiger nachvollziehbar wird.

Dennoch werden diejenigen, die den ersten Teil durchgespielt haben, manche Zusammenhänge besser verstehen, gewisse Anspielungen eher deuten und tiefer in die Story abtauchen können. Zudem dürfen alle, die noch einen Spielstand vom Ende des Vorgängers auf ihrer VMU schlummern haben, ihre Daten wie Geld, Sammelobjekte und Kampffertigkeiten ins neue Spiel übertragen. Doch keine Angst, auch ohne passenden Spielstand geht Ihr nicht mit leeren Händen an den Start.

Böse Überraschung

Anders als im Vorgänger, beginnt Ihr Euer Abenteuer in Shenmue II völlig auf Euch allein gestellt. Kein Zuhause, wo ihr wohnen könnt, kein Taschengeld, das Euch über Wasser hält und keine Freunde, die Euch weiterhelfen. So muss sich Ryo zuerst einmal nach einer Bleibe umsehen, sich schon bald mit Geldproblemen herumschlagen und herausfinden, wem er trauen kann und wem nicht.

Zu allem Ärger wird Ryo sogar kurz nach Spielbeginn all seines Hab und Guts beraubt. Bis auf das Bargeld bekommt Ihr zwar später alles wieder zurück, doch um nicht völlig zahlungsunfähig zu sein, müsst Ihr wohl oder übel einen Teil Eures Besitzes im Pfandhaus verpfänden oder einen Teilzeitjob annehmen, um Euch wenigstens ein Hotelzimmer leisten zu können.

Später darf man seine Geldbörse auch beim Glücksspiel oder Wettkampf aufbessern - dazu muss man sich aber erst einmal den Einsatz leisten können. Sobald man jedoch über das nötige Startkapital verfügt, erwartet Ryo eine Vielzahl an Möglichkeiten, wo er sein Glück und Geschick unter Beweis stellen kann: Pachinko, Würfeln, Armdrücken und diverse Ringkämpfe versprechen schnelles Geld. Auf der anderen Seite locken aber auch einarmige Banditen, Spielzeugautomaten und Wurlitzer sowie Dart- und Spielautomaten, wie Afterburner oder Outrun zum fröhlichen Zeitvertreib. Die eigentliche Story verläuft hingegen relativ linear - Überraschungen gibt es aber dennoch genug.

Geldverdienen leicht gemacht

Mindestens einmal müsst Ihr Euch aber auch mit ehrlicher Arbeit durchschlagen - da das Kistenstapeln im Hafenviertel aber nicht sonderlich lukrativ ist und auf Dauer ziemlich langweilt, dürft Ihr Euch auch als Hüter eines Pachinko-Stands versuchen. Wirklich reich werdet Ihr aber letztendlich doch nur beim Glücksspiel, was durch das neue Speichersystem übrigens nur eine Frage der Geduld ist. Denn abspeichern darf man neuerdings jederzeit und überall. Und Geduld braucht man sowieso, denn die Ladezeiten sind erneut recht lang und zahlreich.

Bei der Nachtruhe kennt Shenmue II hingegen nach wie vor kein Pardon: um 23 Uhr ist für Ryo Schlafenszeit. Ist man bis dahin nicht in seine momentane Bleibe zurückgekehrt, geschieht dies automatisch. Am nächsten Morgen darf man seine Erkundungen dafür aber auf Wunsch an dem Ort fortsetzen, wo man am Abend zuvor plötzlich abbrechen musste. Da Ryo anfangs nur wenige Anhaltspunkte hat, beschäftigt sich ein Großteil seiner Recherche mit dem Befragen von Personen, wobei wichtige Hinweise automatisch in einem Notizbuch verewigt werden. Auch bei Wahrsagern darf man sich gegen Bares erneut weiterhelfen lassen. Auf der Suche nach den richtigen Ansprechpartnern gerät Ryo aber auch immer wieder in brenzlige Situationen.

Recherche mit Hindernissen

Diese enden meist entweder in einer Schlägerei, wo Ryo seine Gegner mit einem ständig wachsenden Repertoire an Schlag-, Tritt- und Wurftechniken bezwingen muss, oder in einem so genannten Quick Timer Event - kurz QTE. Diese Events gab es auch schon im Vorgänger, allerdings nicht so zahlreich. Während einer selbst laufenden Sequenz muss der Spieler hier rechtzeitig eine kurz eingeblendete Taste drücken, um Hindernissen auszuweichen oder Attacken abzuwehren.

Neu sind hingegen die so genannten Command-QTEs, wo das Geschehen kurzzeitig einfriert und eine vorgegebene Tastenfolge rechtzeitig nachgetippt werden muss, um besonders aufwändige Manöver wie das Überwältigen eines Gegners auszuführen. Neben diesen interaktiven Filmchen in Spielgrafik, die wieder einmal perfekt in Szene gesetzt wurden, hat aber auch die Zahl der freien Kämpfe deutlich zugenommen, die Ryo nun teilweise sogar aus der Egoperspektive bestreiten muss.

Besonders erfreulich ist hierbei, dass neben der eigenen Lebensenergie jetzt auch die des Gegners angezeigt wird und man endlich genau sieht, wie weit der K.O. des oder der Kontrahenten noch entfernt ist. Bei manchen Kämpfen hat Ryo aber keine Chance, was man an einem langsamen Verdunkeln des Bildschirms erkennen kann - in diesem Fall geht es nur darum, lange genug auf den Beinen zu bleiben. Sterben kann man in Shenmue II aber sowieso nicht, ein Scheitern führt entweder zu einer neuen Situation oder man wird an den Anfang der nicht bestandenen Aufgabe zurückgesetzt.

Geisterhafte Erscheinungen

Spielerisch können jedenfalls alle Passagen mit eingängigem und abwechslungsreichem Gameplay überzeugen, sogar eine Zeitraffer-Option ist in bestimmten Situationen wählbar. Lediglich bei den freien Kämpfen hätte die Übersicht teils etwas besser sein können, was aber wohl gar nicht so einfach ist, wenn ein Dutzend Gegner gleichzeitig auf Ryo losgeht. Auch bei seinen Streifzügen durch Hong Kong sind zum Teil Dutzende Charaktere gleichzeitig auf dem Bildschirm, was gelegentlich zwar zu kleineren Slowdowns führt, die aufwändigen Kulissen aber noch spektakulärer erscheinen lässt.

Weniger imposant ist hingegen das geisterhafte Erscheinen der Charaktere, das auch schon im ersten Teil negativ aufgefallen ist. So sieht man anwesende Personen nicht schon von weitem, sondern erst nachdem sie sich nach und nach am Ort des Geschehens materialisiert haben. Angesichts des immensen Detailgrads der Personen und Umgebungen nimmt man diese Einschränkung zwar gewillt in Kauf, aber der ansonsten so perfekt umgesetzte Realismus wird davon doch spürbar belastet.

Beeindruckende Präsentation

Ansonsten bietet auch Shenmue II ein audiovisuelles Erlebnis erster Güte und das wahlweise auch in 60Hz bzw. VGA-Qualität. Die verschiedenen Stadtteile Hong Kongs und Kowloons strotzen nur so vor Details und jeder auch noch so unwichtige Charakter hat ein individuelles Aussehen. Die Anzahl an sammelbaren oder käuflich erwerbbaren Objekte und Rätseln hat zwar etwas abgenommen, die Schauplätze und die darin lebenden Personen sind dafür noch größer und zahlreicher als im ersten Teil. Zum Glück erleichtern Kompass und Stadtpläne die Orientierung, wobei wichtige Stellen auf den Karten sogar markiert werden dürfen.

Erneut beeindruckend ist auch der dynamische Wechsel zwischen Tag und Nacht sowie wechselnde Witterungsverhältnisse, an die sich auch die zahlreichen Bewohner Hong Kongs anpassen. Ein neues Feature erlaubt sogar das automatische Verfolgen eines zuvor anvisierten Charakters, was beim Observieren verdächtiger Personen oder Auffinden spezieller Orte äußerst hilfreich sein kann. Nach wie vor sehenswert sind auch die in Echtzeit berechneten Schattenwürfe, die gegen Abend immer länger werden und sich an Kanten und Gebäuden realistisch brechen. Die Detailverliebtheit der Entwickler ist jedenfalls einmalig und allein schon den Kauf von Shenmue II wert.

Auch akustisch weiß Yu Suzuki den Spieler abermals zu verzaubern: Das Spektrum an Klängen, Melodien und Effekten wirkt nicht nur äußerst realistisch, sondern passt sich auch perfekt an die verschiedenen Orte und Situationen an. Schade ist nur, dass die Sprachausgabe in Shenmue II nur auf Japanisch erklingt und auch die Untertitel wieder nur in Englisch verfügbar sind. Dafür sind neben den Menü- und Hilfetexten dieses Mal auch die Einträge in Ryos Notizbuch auf Deutsch und wirklich jeder Dialog mit Sprachausgabe versehen. Die Online-Features des ersten Teils wurden hingegen gestrichen - die amüsanten Ringkämpfe und Mini-Spiele darf man nun aber nach einmaliger Teilnahme auch direkt von der GD spielen, ohne das zeitlich auf Frühjahr 1987 begrenzte Abenteuer dadurch zu belasten.

Pro:

  • famose Optik
  • spannende Story
  • kinoreife Präsentation
  • zahlreiche Mini-Spiele
  • perfekt simulierte Umwelt
  • unglaubliche Detailvielfalt
  • abwechslungsreiches Gameplay
  • Kontra:

  • viele Ladepausen
  • gelegentliche Slowdowns
  • geisterhaftes Personen-Popup
  • Sprachausgabe auf Japanisch
  • nur Menütexte wurden eingedeutscht
  • Vergleichbar mit:

    Shenmue I; Omikron: The Nomad Soul

    Fazit

    Mit Shenmue II macht Mastermind Yu Suzuki genau da weiter, wo er mit Teil 1 aufgehört hat: Schon nach kurzer Zeit ziehen Euch Story, Präsentation und Spielwelt so in ihren Bann, dass man nicht mehr aufhören möchte, Ryo auf seinem -wenn auch teils etwas linearem Rachefeldzug- durch das atmosphärische Hong Kong des Jahres 1987 zu begleiten. Die Detailverliebtheit scheint bei den ausgefeilten Charakteren und spektakulären Kulissen keine Grenzen zu kennen. Obwohl nur ein paar Stadtviertel und Vororte der Millionenmetropole zum Erkunden einladen, sind Umfang und Betätigungsmöglichkeiten gigantisch. Auch wer den ersten Teil nicht kennt, findet sich schnell mit dem intuitiven und abwechslungsreichen Gameplay zurecht. Selbst ein paar grafische Schönheitsfehler und die fehlende Lokalisierung der Dialoge verhindern nicht, dass auch der zweite Teil der epischen Shenmue-Saga einen Meilenstein in der Videospielgeschichte markiert. Ein bisschen Geduld und Englischkenntnisse sollte man zwar mitbringen, um diese Software-Perle in vollen Zügen genießen zu können, aber ansonsten kommen abenteuerlustige Dreamcast-Besitzer um den Kauf von Shenmue II nicht herum. Kenner des Vorgängers werden zwar nicht allzu viel Neues entdecken, aber viele Kritikpunkte wie das unflexible Speichersystem, eine fehlende Energieanzeige des Gegners bei Kämpfen oder eine nicht jederzeit verfügbare Stadtkarte wurden konsequent behoben. Insgesamt ist einfach alles gewaltiger und komfortabler - nur der Innovationsbonus des ersten Teils ist etwas verflogen. Aber so oder so bietet Shenmue II sowohl für alte Hasen als auch für Neuensteiger ein Spielerlebnis, das nach wie vor einzigartig und wirklich jeden Penny wert ist.

    Wertung

    Dreamcast

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