Resident Evil 4 (2005)11.03.2005, Jörg Luibl
Resident Evil 4 (2005)

Im Test:

Neuanfänge sind schwer. Vor allem, wenn es starke Traditionen gibt. Fast zehn Jahre hat Resident Evil auf dem Buckel. Die Zombies aus dem Hause Capcom gingen bereits gebückt, trugen eine schwere Last - Kameraprobleme, Steuerung, Spannungsverschleiß. Aber Japans Horrormeister schlagen zurück: Sie schneiden die alten Zöpfe ab. Und siehe da: Schnipp, schnapp und es hat Krawuuum gemacht!

Mrs. Schrotflinte

Sie sieht sexy aus. Sie ist rappelvoll. Sie fühlt sich verdammt gut an. Gerade jetzt, kurz bevor die Party steigt. Ah, da kommen ja die Gäste! Gleich mehrere Türen öffnen sich, langsam schlurfen lüsterne Kuttenträger herein. Ihre Augen glänzen glasig, ihre Blicke funkeln gierig. Und sie haben alle etwas mitgebracht: Scharfe Äxte, rostige Mistgabeln, wuchtige Kettenkeulen - einige konnten sich sogar Molotow-Cocktails und Feuerarmbrüste leisten. Na dann, begrüßen wir sie mit Lady Pumpgun...

...dreizehn Schrotladungen, viele versaute Tapeten und sechs blutig spritzende Rümpfe später neigt sich die qualmende Projektil-Orgie dem Ende. Nur einer hat trotz durchlöchertem Brustkorb noch nicht genug: Er rafft sich stöhnend auf, humpelt Zähne fletschend auf mein heiß geschossenes Babe. Aber was ist das? Es macht nur Klick - Mist: keine Munition mehr! Bevor ich Messer oder Pistole zücken kann, sehe ich das aufgerissene Maul, spüre ich den Biss im Nacken. Wie kann ich das überleben?

Alles fängt mit einem wölfischen Grinsen an. Und es hört meist mit gefletschten Zähnen auf...
Höllentrip für harte Jungs

Jetzt heißt es: Analogstick hin und her rattern, damit mir der Wahnsinnige nicht den Hals zerfetzt. Die Kamera zoomt so nah ran, dass man seine Zähne fast spüren kann. Das blutrote Schmatzen und das Absinken der Energieleiste sorgen für eine panisch engagierte Rüttelfrequenz. Endlich ist er abgeschüttelt. Und dann? Ran an den Mann, bis der A-Knopf blinkt!

Ähnlich wie bei Shenmue  fordert Resident Evil 4 in vielen Situationen Quick-Time-Reactions: Plötzlich erscheinen Buttons auf dem Bildschirm, manchmal sogar in Kombination oder gemein gestaffelt hintereinander, die ihr sofort drücken müsst. Ist man schnell genug, kann man in diesem Fall einen wuchtigen Karatekick ansetzen und schon brechen Knochen und Feind ganz cross zusammen, bevor sie sich in einer zischenden Lache auflösen. Ich liebe dieses Geräusch. Genau so wie das Nachladeklacken des Karabiners, das Donnern des Revolvers, das Plöppen des Minenwerfers, das rauchige Zischen des Raketenwerfers.

Zur Vertiefung empfehlen wir unser großes Survival-Horror-Thema :

* Survival-Horror abseits des Genres Ob ich krank bin? Nein, nur fasziniert. Mittendrin im blutigsten, packendsten und intensivsten Survival-Horror-Abenteuer meiner Zockervita. All diese martialische Waffenakustik signalisiert mir, dass ich den Schrecken überleben kann, den Capcom mit gnadenloser Deutlichkeit über fünf Kapitel plus Finale hinweg inszeniert. Macht diese Gewaltorgie Spaß? Verdammt noch mal ja! Ich hab`s in der Hand. Ich kann mich wehren. Es ist einfach ein befriedigendes Gefühl, die Wärme eines Raketenwerfers auf der Schulter zu spüren, wenn ein Fleisch gewordener Alptraum die Mattscheibe verdunkelt und mit einer zentnerschweren Axt auf mich zustampft. Er stellt mir eine existenzielle Frage, ich habe eine feurige Antwort. Das morbide Spiel zwischen Jäger und Gejagtem kann beginnen.                    

Schreckliche Würfelpower

Resident Evil 4 sorgt für ein Stakkato an Adrenalin-Kicks. Und das auf dem GameCube. Ja, auf diesem kleinen Würfel mit all seinen kunterbunten Kinderspielen gibt`s nach Eternal Darkness endlich wieder einen echten 3D-Höllentrip für harte Jungs mit großem Monsterhunger. Zombies? Schnee von gestern. Aber ich trauere den Untoten nicht nach, denn die Kreaturen hier sind intelligenter, rotten sich zusammen und wirken aufgrund ihrer menschlichen Tätigkeiten noch gefährlicher: Sie hüten Vieh, gehen in die Kirche, bedienen Katapulte.

Auf der Speisekarte stehen grölende Dörfler, irre Frauen, fliegende Insektoide, fleischige Tentakel, sadistische Leder-Hünen, mutierte Monstren und mächtige See-Ungeheuer. Zwischendurch gibt`s böse Bärenfallen, zermalmende Felsblöcke und später fiese Laserschranken mit Brutzelgarantie. Wie man die überwindet? Einfach ein paar Flickflacks über mehrere sekundengenaue Quick-Time-Reactions aufs Parkett legen. Jede gelungene Aktion wird sofort von einem akrobatischen Filmschnipsel belohnt - klasse! Die Herausforderungen und das Gefühl der Bedrohung wachsen mit jeder der satten 20 Spielstunden, bevor es kurz vor dem Finale noch mal richtig knistert. Wer alles erforscht, darf eine Hand voll Stunden hinzuzählen - das ist für dieses Genre rekordverdächtig. Aber nach dem Finale ist nur in der US-Version nicht Schluss: Hier könnt ihr eine bisher unbekannte Episode der Story mit einer anderen Figur nachspielen oder in Zeitlimit-Shootouts vier neue Charaktere für Arenakämpfe freischalten. Diese beiden coolen Modi sind in der deutschen Fassung aufgrund des Einschreitens der USK nicht enthalten. Zwar ist die hiesige Fassung nicht geschnitten, aber dadurch nach dem ersten Durchspielen einen Tick unattraktiver.

Aber das schmälert nicht die  anderen Höchstleistungen, die man auf den ersten Blick erkennt.

Capcom holt die Fratze des Horrors ganz nah ran. So nah, dass man die Zähne dieses Wahnsinnigen fast spüren kann.
PC-, PS2- und Xbox-Puristen müssen jetzt ganz stark sein: Resident Evil 4 rockt architektonisch, animationstechnisch und atmosphärisch alles weg, was ich bisher gesehen habe. Egal ob wabernder Nebel oder staubig flirrende Lichtschächte, egal ob sengendes Kaminfeuer oder prächtig verzierte Stuckdecke. Ich fang jetzt gar nicht vom Kerzenlicht an, oder vom bewegten Himmel. Dann gibt es da eine Szene mit windgepeitschten Vorhängen in einer Säulenhalle, die wie blutrote Zungen in den Flur zischeln - dagegen sieht selbst Splinter Cell alt aus. Hier bin ich minutenlang staunend hin und hergelaufen und hab den kleinen Würfel misstrauisch nach bisher unbekannter Hardware abgetastet. Und ihn sicherheitshalber angekettet.

Grandioser geht nicht!

Oder nehmen wir die verblüffend lebensechten Bewegungen der Dorfbewohner: Sie zucken zusammen, halten sich die Hände vors Gesicht, gehen schmerzverzerrt in die Knie oder täuschen linkisch eine Attacke an, bevor sie plötzlich die Richtung wechseln - die sehen nicht mehr aus wie animierte Figuren, sondern wie echte Menschen. Sie kommen erst langsam näher, dann stürzen sie sich auf euch, rammen euch Mistgabeln in den Leib, während sie euch hasserfüllt anstarren. Diese Augen sind es, die einem Angst einjagen. Bemerkenswert sind auch die lebensechten Reaktionen: Ihr zielt mit dem roten Laser zwischen die Brauen eines heranschlurfenden Axtdörflers, er bemerkt es und weicht schnell nach links aus! Sie werfen Granaten, sie verstecken sich hinter Schilden, klettern Leitern hoch. Dagegen wirken die Zombies früherer Spiele wie hölzerne Dummys. Zwar lässt die Intelligenz der Gegner in Sachen Deckungsverhalten zu wünschen übrig, aber das hat erzählerische Ursachen.

Man fühlt sich ständig von allen Seiten bedroht, steht wie in den Vorgängern einer schier endlosen Übermacht gegenüber. Gerade deshalb feiert man jeden Kopfschuss, jeden explodierten Schädel. Allerdings ist nicht immer ganz klar, wann man darüber jubeln kann: Manchmal führt ein gezielter Treffer zwischen die Augen dazu, manchmal braucht man gleich drei davon oder kann auch woanders treffen. Hier wirkt das Schadenssystem etwas inkonsequent. Unverständlich ist auch, dass man am Boden liegende Gegner nicht mit einem gezielten Messerstich töten kann, sondern dass man wenig elegant über ihnen rumfuchteln muss - hier hätte ein Finishing-Move gepasst. Zumal der Rest an Kicks & Co auf Martial Arts-Niveau inszeniert wird.

Das ist jedoch alles Krimskrams. Denn dafür lässt sich tatsächlich jede auf euch zufliegende Axt, jedes sausende Messer mit einem gezielten Schuss in der Luft ablenken - genial! Insgesamt ist die Kulisse einfach großartig. In Metroid Prime 2 hat Nintendos Hardware schon die Muskeln spielen lassen, aber hier gibt`s olympisches Posen. Man kann über eine Textur hier und da streiten, auch über die sich wiederholenden Gesichter der Dorfbewohner - kein Thema. Aber: Es ist in Sachen Level-Design wesentlich abwechslungsreicher als Doom 3, in Sachen Raumgestaltung dichter und bombastischer als Halo 2 und selbst Metal Gear Solid 3 in seiner Paradedisziplin überlegen: den Bosskämpfen.

Bosskämpfe aus der Hölle

Die kleine Pumpgun-Orgie von oben ist nichts im Vergleich zu diesen famosen Showdowns. Dabei geht es nahtlos vom Film ins Spiel über. Capcom befindet sich hier auf einem Niveau mit Konamis hollywoodreifen Drehbuchmeistern. Aber im Gegensatz zu Metal Gear Solid 3 seid ihr hier von Anfang an als Spieler mittendrin, müsst während der Filme reagieren. Aufgrund dieses Mittendringefühls fiebert man mit jeder Sekunde mit, die Finger immer zittrig am Controller.

Denn die Antagonisten haben es in sich. Angefangen bei muskelbepackten Hünen mit zugenähten Augen, die bei jedem Geräusch ihre langen Klauen ausfahren und euch nach Gehör jagen: Bedient ihr eine Glocke, rammen sie ihre Stahlklingen dort tief in den Beton. Es geht

Jeder Bosskampf wird ganz sensibel in einem kleinen Filmchen vorbereitet...
weiter über Bildschirm füllende Skorpion-Ungetüme, Messer kämpfende Elite-Soldaten und Fleischriesen, die Tolkiens Oger mit ihren mächtigen Pranken zu Witzfiguren degradieren: Sie zerquetschen und zertrampeln euch wie Fliegen. Ihr müsst im richtigen Moment auf ihren Nacken spurten, um euer Messer schnell über A-Knopf-Gehämmer hinein zu rammen. Manchmal braucht man drei Anläufe, um einen "El Gigante" zu Fall zu bringen. Capcom serviert euch auch mal welche im Doppelpack in einer engen Arena mit wabernder Lavagrube - ich hab geschwitzt wie ein Schwein.

Solche Momente vergisst man nicht. Und es gibt viele andere Szenen, die sich aufgrund ihrer intensiven Darstellung einbrennen:  Da ist ein dunkler Gang. Licht flackert. Die Musik hallt metallisch wie in Silent Hill 2. Ein Röhrensystem zieht sich wie eine düstere Autobahn an der Decke entlang. Und dann kommt etwas. Es ist schnell, klettert mühelos an Wänden entlang. Es geifert, zischt und hat Klauen. Alien lässt grüßen. Doom 3 lässt grüßen.

Oder eine andere: Man wird verfolgt. Mehrere Dutzend Fanatiker wollen euch und Spanier Luis lynchen. Da ist ein Haus. Man stürmt zusammen hinein. Man verbarrikadiert Türen und Fenster. Man sitzt in der Falle. Dann bersten die ersten Scheiben, brechen die ersten Türen. Rücken an Rücken versucht man, den blutrünstigen Mob aufzuhalten. Kennt ihr Butch Cassidy und Sundance Kid? Dieses Wir-gegen-alle-Gefühl? Capcom nutzt die ganze Klaviatur des heroischen Kampfes. Aber nicht piano, sondern fortissimo.

Shooter oder Survival-Horror?

Die Zwischensequenzen bestechen durch coole Kamerawinkel und Zeitlupenakrobatik.
Es gibt Momente, da fühlt man sich an die Projektilseligkeit von Max Payne erinnert. Es gibt sogar eine Szene, in der ihr wie an einem D-Day des Horrors durch ein Sandsacklabyrinth hetzt, während um euch herum alles explodiert und detoniert, weil schwere MGs und ein Kampfhubschrauber das Gelände durchpflügen. Man ballert sich fast in einen Rausch. Capcom spielt eine ganz neue Actionkarte aus, die die Pomadigkeit der Vorgänger klar übertrumpft. Damit geht man eindeutig neue, actionreichere Wege. Ist Resident Evil 4 jetzt ein Shooter? Nein. Leon kann weder Strafen noch manuell in Deckung gehen, vorwärts rollen oder automatische Gegner anvisieren. Er kann sich noch nicht mal auf Knopfdruck, sondern nur an bestimmten Stellen ducken. Und er zielt mit seinem roten Laser langsam, sehr langsam. Dieser Mangel an Bewegungsfinessen und die Zähigkeit beim Anvisieren verleihen dem Spiel trotz der Action einen gefährlich gemächlichen Rhythmus.

Man könnte dieses Fehlen spezieller Moves und das langsame Drehen als Kontrapunkt auflisten. Aber es ist in Wirklichkeit ein Pluspunkt für die Atmosphäre: Denn so hat das Grauen mehr Zeit, euch einzukreisen, und so habt ihr weniger Zeit, es aufs Korn zu nehmen. Bis auf eine schnelle 180-Grad-Drehung geht es immer im Schritttempo oder rennend vorwärts - aber ihr könnt euch nie gleichzeitig bewegen und schießen. Auch das schiebt einer rasanten Shooter-Orgie einen Riegel vor. Trotzdem bietet euch Resident Evil 4 das dynamischste Erlebnis der Reihe, denn es geht auch von oben zur Sache: Ihr könnt Dächer und Türme erklimmen, um aus der Höhe zu ballern, kletternde Feinde einfach samt Leiter umstoßen, hinterher springen, Türen eintreten und nahtlos in den Nahkampf gehen. Alles in übersichtlicher Schulterperspektive, die ihr bei Bedarf mit dem gelben Analogstick anpassen könnt - echte Kameraprobleme wie in den Vorgängern sind passé.

Clive Barker im Blutrausch

Aber hat dieses hautnahe Actionerlebnis überhaupt noch was mit der alten Tradition zu tun? Ist das noch Survival-Horror? Ja. Trotz all der Projektilaction geht es in erster Linie immer um den klassischen Cocktail aus Überleben und Erkunden, aus Action und Rätseln. Und das Stöbern in den Ecken lohnt sich: Ihr könnt in ruhigen Passagen Scheiben einschlagen,

Ihr müsst Ashleys Kidnapper mit gezielten Schüssen erledigen. Stirbt einer, kommt der nächste angeschlurft.
Schubladen öffnen und Kisten zertrümmern, um Schätze zu finden. Manchmal funkeln diese Kleinode an unzugänglichen Stellen, in  Vogelnestern oder auf Türmen. Außerdem könnt ihr jede Menge Rätsel lösen. Die bestechen zwar nicht mit Kopfnüssen, aber dafür mit Vielfalt: Ihr müsst Farben verbinden, Symbole erkennen, Laser ausrichten, Gegenstände verknüpfen, Puzzleteile verschieben sowie im Team Hebel- und Druckplatten betätigen oder gegen die Zeit Artefakte sammeln. Alles nichts Anspruchsvolles, aber immer eine willkommene Abwechslung.

Resident Evil 4 ist aufgrund seines Tempos zwar nicht mehr so unheimlich wie Teil 1, wo es mehr subtilen Horror gab. Aber es gibt immer noch das klassische Grauen mit trügerisch langer Stille und plötzlichen Schockmomenten - vor allem zu Beginn und am Ende im Labor. Trotzdem werden Kenner der Reihe, vor allem des einflussreichen ersten Teils, feststellen, dass diese Momente spärlicher auftauchen. Auch deshalb, weil einem nicht mehr dieses beklemmende Gefühl der Hilflosigkeit im Nacken sitzt. Man wird entsetzt und schockiert, aber man hat meist die Gewissheit, überall genug Munition zu finden, um sich freizuschießen. Es gibt bis auf die erste Spielstunde selten Phasen, in denen man seine Waffen nicht ausreichend füttern kann.

Und das ist vielleicht der größte Kritikpunkt, den man Capcom vorhalten könnte: Das Überleben wird einem zu selten in Sachen Nachschub schwer gemacht. Das war ein Markenzeichen des alten Resident Evil, das neue geht komplett andere Wege. In den Vorgängern musste man aufgrund der knappen Munition öfter mal fliehen. Ist dieser Überschuss ein Beinbruch für den Spannungsbogen? Nein, höchstens eine Prellung. Eine, die schnell vergessen ist. Nicht nur, weil sie Frust vorbeugt. Denn erstens muss man auch jetzt fliehen: Zwar nicht aufgrund fehlender Feuerkraft, aber aufgrund übergroßer und verflixt schneller Monster, die euch wie einen Hasen durch die Gänge hetzen, während ihr Sicherheitstüren öffnen müsst - die Zeit und den Tod im Nacken.  Zweitens spielt sich Resident Evil 4 trotz der vollen Magazine wie ein virtualisierter Clive Barker-Roman: Es reiht Extremsituation an Extremsituation, lässt euch den Atem anhalten und fordert. Trotz der Projektilfülle bleibt der Motivationsfaden straff, denn das Spiel verlangt Nonstop-Reaktionen von euch und bietet viele knifflige Szenen, in denen ihr in null Komma nichts den Löffel abgeben könnt. 

Frustfreier Nervenkitzel XXL

Kann man unbegrenzt Waffen mitnehmen? Ja. Aber nur, wenn ihr den Kofferplatz für teures Geld erweitert, damit ihr Granaten, Munition, Heilkräuter sowie Waffen und ihre zahlreichen Aufsätze hineinpacken könnt: Stabilisierungsgriffe, Zielfernrohre, Wärmebildsichtgerät. Diese Begrenzung sorgt dafür, dass man nicht das ganze Arsenal von der Uzi bis zum Minenwerfer mitnehmen kann. Aber dafür tragt ihr den Koffer immer bei euch - Capcom hat komplett auf die nervigen Truhen verzichtet. Auch die Farbbänder wurden endlich ad acta gelegt: Ihr könnt zwar nur an bestimmten Stellen speichern, aber die kommen regelmäßig vor heiklen Szenen, nach einem Kapitel. Und da ihr eine unbegrenzte Zahl an Continues habt, die sogar während eines Bosskampfs Speicherpunkte setzen, kommt nie langer Wiederholungsfrust auf. Resident Evil 4 spielt sich wesentlich angenehmer als die Vorgänger.

Wolverine in böse: Dieser Kerl ist zwar blind, aber ebenso schnell wie tödlich. Und er hat verdammt gute Ohren.
Aber nicht nur Frust sucht man vergeblich, auch die Langeweile hat sich erfreulich dünn gemacht - spielerisch und optisch: Das Grauen begegnet euch im Wald, auf Gebirgspässen, in Minen, in Sümpfen, in Dörfern, in Tunneln, in Schluchten, auf Zinnen, in Laboren, in Hallen, in Kerkern. Die Anzahl der Locations ist genau so unglaublich wie die herrlich interaktive und zoombare Karte, die nebeneinander gelegt ein kilometerlanges Netz an Gängen webt. Ihr fahrt auf Booten, in Lastwagen, mit Gondeln und schweren Räumfahrzeugen. Eure Zielpunkte werden immer angezeigt, so dass es kein orientierungsloses Umherirren gibt.

Im Duett mit Präsidententochter Ashley gibt`s noch kooperativen Nervenkitzel: Stirbt sie, ist Game over. Sehr oft müsst ihr ihren Weg zu wichtigen Schaltern mit dem Scharfschützengewehr freischießen, während ihr selbst umzingelt werdet. Hier entwickelt man ähnliche Beschützerinstinkte wie in ICO. Zumal ihr den Teenager indirekt über die Befehle "Folgen" und "Warten" steuern dürft. Ihr könnt sie zudem auffangen, wenn sie Abgründe hinunter springt, und ihr eine Räuberleiter für Kletterpartien anbieten. An einer Stelle schlüpft ihr sogar direkt in ihre Haut: Ohne Waffe müsst ihr hier schnell unter Tische kriechen und Kurbeln bedienen, während euch die Kuttenträger jagen - Hochspannung im Minirock. Habt ihr die Kontrolle mit Leon, geht sie sogar zitternd in die Knie, damit ihr über sie hinwegschießen könnt. Sie ist euch nie im Weg und gibt euch sogar mal einen Tipp, wenn z.B. ein El Gigante in einer Schlucht auf euch zumarschiert.         

Böses Alteuropa

Apropos "El Gigante": Das hört sich Spanisch an? Ist es auch. Capcom lässt die blutige Jagd in Alteuropa spielen und versetzt euch in die Rolle eines sportiven Amerikaners - politisch so korrekt, dass Rumsfeld das Drehbuch geschrieben haben könnte. Die Achse des Bösen rollt trotz des neuzeitlichen Szenarios zurück in ein scheinbar konserviertes Mittelalter inklusive Kastell und Kerker. Selbst den Euro haben die Japaner in ihrer finsteren Fiktion wegrationalisert. Aber ihr spielt nicht irgendeinen Yankee, sondern Leon S. Kennedy, den Helden aus Teil 2, sechs Jahre nach der Zerstörung von Umbrella. Er soll die Präsidententochter Ashley befreien, die von einer mysteriösen Gruppierung entführt und das letzte Mal in einem spanischen Dorf gesehen wurde. Der Einstieg in diese alptraumhafte mediterrane Europa erinnert zunächst an einen gotischen Schauerroman und weckt die Neugier. Es gibt viele Fragen, von denen die allerwichtigste den Plot bestimmt: Wer zur Hölle sind diese mordgierigen Sadisten? Zombies? Vampire? Jedenfalls zischen sie euch in tiefkehligem Spanisch an, das Capcom auch in der deutschen Fassung im O-Ton belassen und nicht untertitelt hat. Der Rest der Sprachausgabe erschallt auf Englisch, schauspielerisch durch die Bank überzeugend.

Es sind Dutzende. Und sie jagen euch wie einen Hasen in eine Hütte.
Und die Story? Konnte ich bisher die Superlative fliegen lassen und selbst Metal Gear Solid 3 in Sachen Bosskämpfen einen Zacken aus der Krone argumentieren, sind hier leisere Töne angebracht. Die erzählerische Präsentation und die Dialoge liegen eine Klasse hinter Hideo Kojimas Spiel-Film. Nicht, weil sie uninspiriert, fehlerhaft oder langweilig wären, sondern weil sie weniger deutlich den Charakter und das Beziehungsgeflecht zwischen den Protagonisten darstellen. Irgendwann verliert das Drehbuch, verliert selbst der Hauptdarsteller an Bedeutung und Leon wütet sich fast wie ein anonymer Held durch die finsteren Horden. Nur seine fürsorgliche Beziehung zu Ashley sorgt für emotionale Konturen. Die Zwischensequenzen dienen weniger der Fortführung der Erzählung, als vielmehr der effektvollen Präsentation des nächsten Gegners. Die ist grandios, stylisch, edel. Aber der rote Faden der Ursachen des Übels und der Herkunft der Sekte wird lediglich über knapp zwei Dutzend Notizen, Zettel und Tagebücher weiter gesponnen.

Zettelwirtschaft

Das ist an sich nichts Schlechtes. Aber erstens wirkt es wie ein antiquierter Stilbruch im Vergleich zu den fantastischen Filmen, und zweitens liest man dort tatsächlich immer von Dingen, die gerade erst passiert sein sollen: Leon kommt in eine Hütte und findet den Schrieb von Luis, der vor wenigen Sekunden da war. Das wiederholt sich im Laufe des Spiels, so dass man sich wie eine Katze vorkommt, die einer Story-Maus hinterherjagt. Warum kann man Luis oder Ashley nicht mal direkt ansprechen?

Immerhin hat Capcom den Einstieg und die finalen Stunden sehr gut inszeniert. Es gibt sogar Codec-ähnliche Dialoge mit der Zentrale. Aber diese an sich gute Kommunikationstechnik wurde nicht konsequent genug umgesetzt, denn es ist nicht von Leons Seite aus nutzbar: Snake kann mehrere Personen um Rat fragen, Leon ist auf Anrufe angewiesen. Man hätte über die Funkverbindung nicht nur mehr über die nette Brünette erfahren können, die plötzlich ohne charakterliche Duftmarke verschwindet, sondern auch viel besser als über Zettelchen die Hintergründe und die Rätsel präsentieren können.

Leon hätte so z.B. etwas über dieses spanische Dorf, über den Orden der Illuminati oder Präsidententochter Ashley recherchieren können. Und spätestens, als der Name Umbrella auftaucht, hätte man dem Spieler wenigstens eine kleine Recherchemöglichkeit geben müssen. Und selbst die brechen irgendwann ab, weil die Frequenz von der Sekte gekapert wird. Aber das hat wieder einen anderen Vorteil: Daraufhin ergeben sich einige köstliche verbale Attacken mit viel Zynismus. Leon ist immer für einen coolen Spruch gut, wenn ihn die Schergen des Bösen anfunken. Und insbesondere die überzeichneten Schurken gewinnen hier an Profil und retten die Story mit ihren Sticheleien, politischen Anspielungen und beleidigten Antworten auf ein befriedigendes Niveau. Vielleicht kann das kürzlich angekündigte Resident Evil 5 (wir berichteten ) hier nachlegen.

Spielspaßflamme lodert

Ein Mantel mit Verwöhnaroma: Der Händler bestückt euch mit allem, was das Waffenherz begehrt.
Aber sorgt dieser Wunsch nach etwas dynamischerer Kommunikation für einen Spielspaßeinbruch? Sinkt die Motivation, weil man nach einem ausgefeilteren Drehbuch lechzt? Nein, nicht wirklich. Obwohl ich ein Freund anspruchsvoller Plots bin und hier eher eine Fastfood-Variante bekomme, macht mich die Story satt genug. Denn sie ist weit weg von einem Reinfall: Wenn der mysteriöse Spanier Luis auftaucht, wenn das Ausmaß der Plage deutlich wird und sich der Schatten von Umbrella über das Labor legt, wühlt man sich interessiert durch die kommenden Texte. Am Ende schließt sich auch der erzählerische Kreis zur Resident Evil-Reihe. Ein Archiv speichert das alles zum Nachlesen.

Und es gibt noch eine magische Zutat, die dieses Spiel so großartig macht und die diese Schwächen in der erzählerischen Präsentation locker ausgleicht: der Rhythmus. Dieser süße Wechsel von hektischer Adrenalin-Action und fast schon idyllischer Ruhe. Denn es kann noch so derb abgehen, irgendwann sieht man die blau lodernden Feuer: Da steht eine Schreibmaschine, da wartet ein Händler, da ist man sicher.

Der Kapuzenmann mit der rauen Stimme wird zu eurem treuesten Freund, denn er hat alles, was das Monsterjägerherz begehrt. Und wer ihm zehn Medaillons bringt, bekommt sogar eine spezielle Pistole, die gleich durch zwei Feinde schießt. Neu ist, dass man die Waffen in vier Kategorien aufrüsten kann: Durchschlagskraft, Nachlade- und Feuergeschwindigkeit sowie Fassungsvermögen - ein nicht zu unterschätzender Motivationsfaktor. Im Laufe des Spiels hat man oft die Qual der Wahl, ob man altgeliebte Eisen weiter tunen oder lieber ganz neue kaufen will. Denn das Sortiment des Händlers wird ständig erweitert und man kann die neuen Schätze meist gleich auf speziellen Schießbahnen ausprobieren. Wer hier gegen die Zeit eine bestimmte Punktzahl erreicht, schaltet kleine Extras wie Figuren der Protagonisten frei.       

Fazit

Wollt ihr euch 24 Stunden Lebenszeit versüßen? Wollt ihr an der intensivsten Horror-Orgie der Spielegeschichte teilnehmen? Wollt ihr morbide Nonstop-Unterhaltung vom Feinsten? Dann knallt verdammt noch mal die harten Euros auf den Tisch, verdunkelt das Wohnzimmer und holt euch dieses blutige Baby! Resident Evil 4 hat mich so lange, so gut unterhalten, wie nur wenige Spiele der letzten Jahre. Obwohl Capcom nur die altbekannten Zutaten Kampf, Rätsel und Grauen mischt, entsteht aufgrund der atemberaubenden Kulisse und der dynamischen Konfrontationen ein erfrischend neues Erlebnis: alle Sinne werden befriedigt, alle Nerven gekitzelt. Der GameCube läuft zur Höchstform auf und rockt architektonisch, animationstechnisch und atmosphärisch alles weg, was ich bisher auf Konsolen gesehen habe. Schweißtreibende Spannung und ruhige Rätselmomente wechseln sich in einem betörenden Rhythmus ab. Frust? Fehlanzeige. Bosskämpfe? Grandios. Abwechslung? Enorm. Waffen? Satt. Nervenkitzel? Pur. Und trotz all der rauchenden Wummen bietet Resident Evil 4 Survival-Horror in Reinkultur. Capcom schneidet viele alte Zöpfe ab, aber bleibt der Tradition auch in vielen Punkten treu, so dass sich Fans trotz der erhöhten Action-Konzentration auf nostalgische Déjà-vus freuen dürfen. Es mag weniger subtile Unheimlichkeit verströmen, aber dafür gibt`s eine Schlachtplatte brachialer Schockmomente. Selbst die einfachen Rätsel, die schwache Zettelwirtschaft und der Munitionsüberschuss verpuffen angesichts der Adrenalinkicks. Den Japanern ist ein kleines Meisterwerk gelungen, das noch lange durch meine Erinnerung geistern wird.

Update 17. März 2005: Aufgrund der Tatsache, dass in der deutschen Fassung die zwei Bonuslevel Mercenaries (ein Shootout gegen die Zeit, in dem ihr vier Bonuscharaktere freischalten und auf verschiedenen Maps kämpfen könnt) und Assignment Ada (ihr spielt eine Episode der Story mit Ada nach) fehlen, haben wir die Wertung für die deutsche Fassung um einen Prozentpunkt herabgesetzt. Wir mussten zwei Pluspunkte streichen und zwei Kontrapunkte hinzufügen. Ohne die beiden coolen Modi sinkt die Langzeitmotivation nach dem ersten Durchspielen und zwei freischaltbare Waffen (Chicago Typewriter, Minigun) fallen weg. Capcom hatte uns erst kurzfristig darüber informieren können.

Pro

grandiose Kulisse
interessante Story
sehr gute Steuerung
sehr gute Soundeffekte
packende Reaktionstests
lebensechte Animationen
packende Passagen im Team
interaktive, zoombare Karte
fulminante Zwischensequenzen
riesiges aufrüstbares Waffenarsenal
nahezu perfektes Level-Design
sehr straffer Spannungsbogen
unglaublich intensive Bosskämpfe
schnelle 180-Grad-Drehungen
über 20 Stunden intensiver Spielspaß
interaktives, höhenrelevantes Gelände
viele Rätsel, viele Item-Verknüpfungen
Schießbahnen zum Üben
ungeschnittene deutsche Fassung
nach Finale neuer Schwierigkeitsgrad, neues Outfit

Kontra

sehr leichte Rätselkost
nur deutsche Untertitel
kaum Munitionsknappheit
schwache Story-Präsentation
(Zettel, einseitiger Funk)
sich wiederholende Gesichter
Messer-Attacke am Boden wirkt plump
deutsche Fassung ohne Bonuslevel (Mercenaries; Ada's Revenge)
deutsche Fassung ohne zwei in den Bonusleveln freischaltbare Zusatzwaffen

Wertung

GameCube

Wollt ihr euch 24 Stunden Lebenszeit versüßen? Dann schlagt zu!

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