Another Code02.07.2005, Jörg Luibl
Another Code

Im Test:

Ein lupenreines Adventure auf dem Handheld? Ja. So richtig Point&Click? Ja. Mit guter Story und Rätseln? Ja. Aber ist das nicht alles zu klein und zu fummelig? Nein. Und das ist kein albernes Kinderspiel? Nein - und stopp: Bevor die Löcher in meinem Bauch immer größer werden, verweise ich alle Skeptiker, Abenteurer und DS-Liebhaber auf die nächsten Zeilen. Dort steht, warum das kleine Another Code selbst große PC-Konkurrenten schlägt!

Überraschung im Miniformat

Ich will in ein Abenteuer versinken. Ich will, dass mich Story, Figuren und Rätsel so fesseln, dass ich mich nicht mehr losreißen kann. Diesen Durst können meist nur Bücher stillen, in denen das Leserherz im Takt der Erzählung pocht. Manchmal ist die Geschichte aber auch in Spielen die treibende Kraft, die zum Weiterschießen, Weiterkämpfen oder Weiterklicken animiert. Max Payne 2  gehört dazu. Beyond Good & Evil (BGE) gehört dazu. Black Mirror gehört dazu. Another Code gehört ab sofort auch dazu.

Der Kapitän hat erste Hinweise über die Vergangenheit der Insel für euch parat.
Das hat mich überrascht. Ich hätte nicht gedacht, dass ein Spiel auf dem DS schon nach kurzer Zeit diese unwiderstehliche detektivische Neugier entfesseln könnte, die mich bisher nur am Monitor nächtelang grübeln ließ. Aber das japanische Team von CING , das schon mit Glass Rose (2004, PS2) morbiden Adventure-Duft verbreiten konnte, verwandelt die beiden kleinen Bildschirme in eine große Bühne, auf der ein höchst rätselfreudiger und erzählerisch glänzender Mystery-Krimi aufgeführt wird - mit knackigen Kopfnüssen und spannendem Plot.

Erzählung auf hohem Niveau

Wie viele Helden vermitteln in der Spielewelt Glaubwürdigkeit und Gefühle? Man kann sie an einer Hand abzählen, vielleicht an zweien, wenn man die lebendigen Figuren aus BioWares letzten Fantasy-Welten mitrechnet. Frauen abseits vom Bitch- und Babe-Klischee? Sind noch seltener dabei. Umso erfreulicher ist es, dass sich die dreizehnjährige Ashley mit ihrem überzeugenden Auftritt in den Kreis der Charakterdarsteller der Marke Max, Jade und Samuel spielt. Ihre Wut, ihre Freude, ihre Zicken und ihre Angst werden sowohl in den guten deutschen Texten als auch in der Mimik hervorragend zum Ausdruck gebracht. Es gibt zwar keine Sprachausgabe, aber wenn sie sauer ist, erkennt man das z.B. an ihrem giftigen Blick oder an der erhöhten Geschwindigkeit des Wortaufbaus - das ist nur eine  Kleinigkeit, aber eine von vielen, die die Präsentation trotz des Miniformats so auszeichnen.

Lust auf den Trailer und noch mehr Bilder zu Another Code?

Kein Problem: All das findet ihr bei der Komplettinfo! Die Teenagerin wirkt bei ihrer Ankunft zunächst wie ein scheues Reh, das sich in eine fremde Welt wagt - voller Fragen und Unsicherheit. Das ist auch kein Wunder, denn zusammen mit ihrer Tante soll sie auf einer einsamen Insel ihre als tot geltenden Eltern treffen. Wieso schreibt ihr Vater ihr nach der langen Zeit diesen Brief? Wieso holt er sie dann aber nicht mal am Hafen ab? Ashley ist enttäuscht und verärgert. Wusste ihre Tante etwa, dass er noch lebt? Schließlich ist Ashley seit ihrem dritten Lebensjahr bei ihr aufgewachsen. Das Einzige, was ihr von ihren Eltern in Erinnerung blieb, sind bedrückende Fetzen vom Tag der Tragödie.

Gekonnte Dramaturgie

Another Code lässt euch schon beim Einstieg an diesen traumatischen Erlebnissen teilhaben: Ein Kleinkind schaut mit entsetztem Blick aus einem Schrank. Ein Mann tritt auf. Ein Schuss kracht. Blut fließt. Diese Momente werden immer wieder über schwarz-weiße Rückblenden inszeniert, die für knisterndes Hitchcock-Flair sorgen. Mitten im Spiel kann es z.B. passieren, dass Ashley plötzlich von der Vergangenheit eingeholt wird und sich an Neues erinnert. So werden Stunde um Stunde mehr Teile des tragischen Puzzles sichtbar, die man auch über die vielen Dialoge ergattern kann.

Ashley vor dem Herrenhaus der Edwards. Sie muss die Splitter des Schildes zusammen setzen - eines der ersten Einstiegsrätsel. 
Aber Ashleys Erleben ist nur ein Faden der Story. Das Faszinierende ist, dass er mit einem zweiten verwoben wird - daher der Untertitel "Two Memories": Sehr früh trifft Ashley auf den Geist D. - ein Junge, der vor mehr als 50 Jahren auf der Insel verstarb und sich an nichts erinnern kann. Er will Ashley in das Herrenhaus der Insel begleiten, um seine Vergangenheit zu lüften. Auch er wird an bestimmten Orten von Gedanken und Bildern heimgesucht, die etwas über seine Herkunft verraten. Und während die beiden zunächst in getrennten Vergangenheiten stöbern, zeichnet sich im Laufe der Suche ab, dass sie mehr verbindet als eine von Unglück gezeichnete Kindheit.

Die Story zieht sich über sechs Kapitel, spielt mit zwei Perspektiven und webt einen Teppich aus Indizien, der euch selbst nach mehreren Stunden noch in Spekulationen und Vermutungen grübeln lässt, was damals passiert sein könnte und heute geschieht: Sind Ashley und D. etwa verwandt? Warum gab es in dem Herrenhaus Ende der 40er Jahre diese Morde? Und was hat es mit dem Another-Experiment auf sich? Immer wieder werden Köder in Form von Bildern, Tagebuchseiten oder Notizen ausgelegt, um die Neugier aufrecht zu erhalten. Die Texte sind durch die Bank gut geschrieben, auch wenn man mit kleinen Wiederholungen leben muss, die später wiederum Sinn ergeben.  Denn an jedem Kapitelende gibt es einen kleinen Fragenkatalog zum bisher Erlebten, der euer Gedächtnis prüft. Leider konnten wir bisher nicht herausfinden, ob sich falsche Antworten negativ auswirken. Natürlich spielen auch herkömmliche Rätsel eine große Rolle, die aufgrund der vielen interaktiven Eingabemöglichkeiten des DS sogar ganz neue Dimensionen für Tüftler eröffnen.

                     

Spieglein, Spieglein…

Der Geist des verstorbenen Jungen D. begleitet euch durch das Haus.
…am DS, welcher Code verbirgt sich in deinem Dress? Okay, das war schlecht gereimt, aber beschreibt ein innovatives Rätsel ganz gut: Man findet eine aufgeklappte Tafel mit seltsamen Symbolen auf zwei Seiten. Was haben sie zu bedeuten? Ashley verweist darauf, dass man sie möglicherweise spiegeln müsste - aha! Also heißt es, die Bilder auf beide Bildschirme gebracht, den DS hin- und hergeklappt, bis die oberen Symbole in Kombination mit den unteren einen Sinn ergeben. Nach etwas Fummelei ist es vollbracht! Aber was soll das nur bedeuten: ein Schlüssel im Buch, ein Buchstabe, grübel…

Diese Stelle gehört zu den kniffligen Momenten, in denen man den DS weglegt, nachdenkt, wieder spielt, das Fenster öffnet, nachdenkt - wie in anderen Adventures auch, gibt es keine Hilfen, wenn man in Sackgassen gerät. Dieses Spiel richtet sich allerdings weder an Kinder noch ist es eine Art Knobelspaß light.   Immerhin gibt Ashley im Gegensatz zu so manchem PC-Kollegen meist noch eine nützliche Bemerkung ab.   So gilt auch im Miniformat die alte Point&Click-Devise: wer suchet, der findet! Ihr solltet jede Schublade und jede Ecke absuchen, um alle Items und Informationen zu bekommen.

Another Code wird euch an einigen Stellen der acht bis zehnstündigen Spielzeit zwar genau so den Kopf zerbrechen wie PC-Adventures, aber bleibt dabei immer fair und  realistisch - es gibt keine abstrusen Verknüpfungen: es gibt auf alles Hinweise, alles ist -spätestens nach dem Geistesblitz- logisch nachzuvollziehen. Wäre das nicht der Fall, hätte man über innere Monologe oder ihren Begleiter D. noch etwas aufschlussreichere Hinweise geben müssen. Speichern könnt ihr übrigens jederzeit auf zwei verfügbaren Plätzen. 

Ärgerlich ist nur, dass man Dinge nur dann mitnehmen kann, wenn man sie wirklich braucht: Wer vor einer Kiste mit allerlei nützlich anmutenden Gegenständen wie Hammer, Spachtel und Bilderrolle steht, darf sie nur dann ins Inventar packen, wenn das entsprechende Rätsel ausgelöst wurde. Also heißt es: sich merken, was wo ist und später noch mal zurück zur Kiste. Mit einer freieren Itemverwaltung hätte man diese Laufwege vermeiden können. Aber das sind kleine Schönheitsfehler in einem ansonsten großartigen Spiel.  Ausschlaggebend für diese Qualität ist auch, dass sich zu den klassischen Gehirnverzwirblern innovative neue Rätsel gesellen.

Sinnliches Rätselerlebnis

In der oberen 2D-Ansicht wird fast in Fotoqualität dargestellt, was Ashley in der unteren 3D-Welt gerade sieht.
Da man Felsen tatsächlich mit dem Stift langsam zur Seite schieben, Schlüssel selber drehen, durchgedrückte Botschaften sichtbar wischen und Staub über das Mikro wegpusten muss, entsteht ein sehr sinnliches Spielgefühl, das dem einfachen Mausklick weit voraus ist. Und das Schöne an dieser aktiven Knobelei ist, dass es aufgrund der zwei Bildschirme ganz neue Rätselmomente gibt: Wenn ihr Fotos von der Umgebung macht, könnt ihr diese nicht nur anschauen, sondern auch drehen und übereinander abbilden, um versteckte Codes  sichtbar zu machen.

Die Rätsel reichen von verspielt bis knackig, von bekannt bis frisch: Mal muss man einfache Splitter oder Schiebe-Puzzles zusammen fügen, mal muss man clever Namen und Noten kombinieren, Bälle geschickt mit dem Stift auf einen wackligen Koffer werfen oder das Geheimnis von Kerzen und Symbolen lüften. Zwar gibt es keine komplexen Item-Kombinationen à la Verwende-Hammer-mit-Klebeband, aber dafür werden die innovativen Steuerungsmöglichkeiten des DS voll ausgeschöpft.

Sommer, Sonne, Herrenhaus

Story und Rätsel befinden sich auf Top-Niveau, aber wie sieht es mit der Kulisse aus? Ebenso! Another Code ist eine Art dynamische Collage auf zwei Ebenen. Unten auf dem Touchscreen gibt's bewegte Polygone in einer animierten 3D-Welt, die man in der Vogelperspektive durchwandert - ihr schaut quasi auf Ashleys weißen Kopf, bis sie euch beim Nichtstun auffordernd anblickt. Oben seht ihr bewegte Comicfiguren, ihre Dialoge und starre Gemälde in 2D, die teilweise Fotoqualität haben. Schaut ihr z.B. mit Ashley unten gerade in Richtung einer Sitzecke, könnt ihr sie oben in voller Pracht erkennen und genau untersuchen: statt Point&Click quasi über Point&Touch, denn ein Doppeldruck auf eine Vase löst einen Infotext aus.

Die Kulisse sorgt von Anfang an für nostalgische Entdeckeratmosphäre im Stile guter aller Adventure-Tradition, die von sehr lieblichen Melodien begleitet wird: Friedhof, Musikzimmer, Bibliothek und später ein unterirdisches Labor - alles ist dabei, was die morbide Edgar Wallace-Fantasie beflügelt. Und wenn es irgendwo brenzlig wird, trumpft die Akustik mit schrillen Einspielungen oder Verzerrungen auf. Die Designer haben auch das Sommer- und Inselflair hervorragend eingefangen: Schon am Hafen begrüßt euch idyllisch waberndes Wasser am gleißenden Kai. Auf dem Weg durch den schattigen Wald sorgen sanft tanzende Lichtschächte und aufflatternde Vögel für Leben. Zwar sind die Animationen im unteren Bildschirm spärlich gesät, aber selbst bei den Erkundungen im verlassenen Herrenhaus gibt's wehende Gardinen und flackernde Lampen.

             

Fazit

Wunderbar. Einfach wunderbar. Ihr sucht für den Sommer noch ein mysteriöses Urlaubsdomizil? Dann schlagt zu und bucht das Ticket auf die Edward-Insel. Im Mittelpunkt der detektivischen Reise steht ein tragisches Duo, das ihr durch eine hervorragend erzählte Geschichte begleitet. Euch erwarten innovative Rätsel in morbidem Herrenhaus-Flair: Geheimgänge, Bibliotheken, Morde - alles inklusive. Wer hier nur Knobelei light erwartet, sei gewarnt, denn man braucht einen geduldigen Dickschädel, um einige der Kopfnüsse zu knacken. Freut euch auf ein sehr sinnliches und erfrischendes Spielgefühl, das dem einfachen Mausklick aufgrund der innovativen Steuerungsmöglichkeiten des DS weit voraus ist: Man muss Felsen mit dem Stift zur Seite schieben, geheime Botschaften über die beiden gespiegelten Bildschirme enthüllen oder Staub über das Mikro wegpusten. Bisher konnten mich Adventures nur auf dem PC überzeugen, aber Another Code ist nicht nur eine perfekte Maßanfertigung für das Miniformat, sondern auch einigen großen Kollegen überlegen - erzählerisch und spielerisch. Man könnte dem Titel ankreiden, dass man nicht sofort alle Items aufnehmen kann und dass er recht kurz ist. Aber ich fresse mich lieber mit Heißhunger durch eine brillante Kurzgeschichte als wochenlang an einem öden Roman zu knabbern. Für mich sind das nur Schönheitsfehler in einem großartigen Spiel. Bitte mehr davon!

Pro

brillante Story
gute Dramaturgie
schöner Collagen-Stil
stimmungsvolle Musik
glaubwürdige Charaktere
Mix aus Krimi & Mystery
bequemes Speichersystem
intelligenter Foto-Einsatz
hervorragende Steuerung
nostalgisches Herrenhaus-Flair
klasse Ausnutzung der DS-Features
abwechslungsreiche & logische Rätsel
Gedächtnisprüfungen am Kapitelende

Kontra

recht kurz (8 bis 10 Stunden)
Gegenstände nicht sofort aufnehmbar

Wertung

NDS

Wunderbar. Einfach wunderbar. Ich hätte nicht gedacht, dass ein Adventure im Miniformat so viel Atmosphäre bieten kann.

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