E.Y.E: Divine Cybermancy21.10.2011, Benjamin Schmädig
E.Y.E: Divine Cybermancy

Im Test:

Turmhohe Obelisken strecken sich in einen goldgelben Schleier. Es könnten gigantische Grabsteine sein, die zu Dutzenden in den Sonnenaufgang ragen. „Schon wieder der gleiche Traum“, untertiteln meine Gedanken die Szene. „Was tu' ich hier?“ Und tatsächlich: Selten haben die ersten Worte ein Spiel so treffend beschrieben wie diese.

Ich falle...

Aller Anfang ist leicht: Ich schreite durch eine leuchtende Tür und verlasse den vermeintlichen Friedhof. Ein paar Erklärungen sagen mir, wie ich schieße, wie ich ein Schwert schwinge, wie ich springe und wie ich mit geistigen Fähigkeiten meine Umwelt beeinflusse. Ein Ego-Shooter ist es also, das wird deutlich. Einer, bei dem ich mich wie in einem Rollenspiel mit Charakteren unterhalte und den Gesprächsverlauf bestimme - auch das lerne ich schnell. Danach allerdings lässt mich E.Y.E gnadenlos im Stich.

Natürlich könnte ich mehr als 20 Tutorialvideos anschauen, um mich in die erschreckend unhandlichen Menüs hineinzudenken. Doch leider funktionieren die knappen Clips bedeutend besser als Teaser-Trailer denn als Verständnisbrücken. Um es kurz zu machen: Der Einstieg ist eine Katastrophe! Independent-Bonus hin oder her, so eine Einführung darf sich gerade ein komplexes Spiel nicht leisten!

... in die Tiefe

Komplex? Oh, ja! Denn E.Y.E: Divine Cybermancy steht in der Tradition actionhaltiger Rollenspiele wie Deus Ex. Immerhin wurde es vor seiner Veröffentlichung nicht nur aufgrund seiner finsteren Technik-Zukunft mit dem Klassiker in Verbindung gebracht: Auch hier darf man Schalttafeln hacken, Feinde heimlich  umgehen oder sie mit roher Gewalt ausschalten. Nicht zuletzt setzt man kybernetische Implantate ein, um körperliche Fertigkeiten zu stärken oder neue zu erlernen. So kann der Protagonist schneller laufen und höher springen, erkennt Personen anhand von Bewegungsgeräuschen oder macht sich unsichtbar. Mithilfe psychischer Fähigkeiten erschafft er zudem Klone, die eine kurze Zeit an seiner Seite kämpfen oder er treibt einen Gegner in den Wahnsinn, so dass er wild im sich schießt. Stärkere Fähigkeiten erlauben sogar das Erschaffen von Portalen oder „Beschwören“ von Monstern.

Klasse: Was das kleine Entwicklerteam aus dem Hut zaubert, lässt nicht nur Adam Jensen, sondern auch manchen Rollenspielhelden neidisch auf die Charakterentwicklung schauen! Es ist ja nicht so, dass der Umfang bei Fähigkeiten und Erweiterungen ein Ende hätte. Denn auch spielerisch protzt Divine Cybermancy mit vielen Möglichkeiten. Ich darf nicht nur wählen, wie ich eine Mission angehe – ob ich den Anführer einer Bande im hitzigen Gefecht ausschalte oder mich heimlich heranschleiche, ob ich durch das Hacken eines Computers Verwirrung stifte oder eine befeindete Gang auf das Ziel hetze - auch im Gespräch wähle ich fast immer zwischen verschiedenen Antworten. Einmal stattgefundene Unterhaltungen darf ich anschließend nicht wiederholen; diese glaubwürdige Konsequenz trauen viel zu wenige Entwickler ihren Abenteurern zu.

Es ist deine Welt!

Umso schwerer wiegt die Entscheidung: Will ich der moralinsaure Apostel sein, wenn mich ein Sklavenhändler um Hilfe bittet? Natürlich kann ich dafür sorgen, dass seine „Ware“ nicht bei dem stinkenden Dreckskerl ankommt. Ich könnte ihn sogar erschießen. Seine wichtige Hilfe bleibt mir dann allerdings verwehrt. Oder soll ich mich auf das Niveau des kriminellen Abschaums begeben und dessen dreckige Wäsche waschen? Gelegentlich hat man dadurch leichtes Spiel. So knifflig können Entscheidungen sein! Richtig erschreckend, wie viel - Verzeihung - Schiss die restliche Spielewelt meist vor solchen packenden Dilemmas hat.

Allerdings muss sich auch E.Y.E den Vorwurf gefallen lassen, dass die Ergebnisse solcher Unterhaltungen und daraus folgender Kurzaufträge insgesamt kaum spürbar sind. Natürlich ändern sich kleine Handlungsfolgen: Man geht hier mal einen anderen Weg, erledigt dort ein leichteres Ziel und entscheidet letztlich über den Ausgang der Geschichte. Erzählerisch und spielerisch hatte ich aber fast nie das Gefühl, dass gerade überhaupt etwas passiert ist.

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Aller Einstieg ist schwer: Wer nicht aus dem Nichts begreift, worum es in E.Y.E geht - erfährt es auch in den Menüs nicht ohne Weiteres.

Sein oder Schein?

Woran liegt das? Immerhin entsteht aus den trockenen Textfenstern irgendwann das interessante Bild einer spannenden Verschwörung in einem unheimlichen Dystopia: Man übernimmt die Rolle eines Agenten der Secreta Secretorum – eine Vereinigung von Wächtern, die in mythologisch anmutenden Rüstungen für Recht und Ordnung sorgen wollen. So gerät man nicht nur in den Krieg zwischen einer Welten umspannenden Föderation und einer geheimnisvollen Macht, auch in den eigenen Reihen stößt man auf Intrigen. Kann ich nicht einmal meinem eigenen Mentor noch Glauben schenken? Hat man die Grundlagen erst einmal durchschaut, entdeckt man hinter den eigenwilligen Kulissen ein faszinierendes Universum zwischen Mythologie, Fantasy und Science Fiction: Die Basis der Secreta-Wächter etwa ist ein Tempel, dessen hunderte Meter hohe Mauern aus dicken Steinblöcken errichtet wurden, futuristische Lichtportale dienen dort als Türen. In den Straßen der Einsatzgebiete parken Oldtimer-ähnliche Fahrzeuge, Reklame leuchtet an Hauswänden, heimtückische Laser suchen lautlos nach Zielen.

Doch das ist alles Augenwischerei! Nichts, gar nichts bewegt sich hier. Fremdartige Tiere kreuchen über den Asphalt - das ist aber auch schon alles. Egal, wie es das Spiel erklärt: Den Kulissen fehlen Menschen, fahrende Autos, irgendetwas, das den Eindruck von Leben vermittelt. Irgendetwas, das mir die Ergebnisse meiner Unterhaltungen und Taten auch abseits von Missionszielen vor Augen führt.

Die Technik, die auch Half-Life 2 und Left 4 Dead befeuert, reißt keine technischen Bäume aus, stellt aber plastische Kulissen dar. Das nützt aber nichts, wenn die Entwickler fast ausschließlich rechtwinklige Supermarktgänge aneinander setzen! Bei allem Verständnis für die Einschränkungen eines kleinen Teams: Ich konnte diese Spielewelt zu keinem Zeitpunkt als glaubwürdig empfinden. Sie ist ein reines Selbstzweck-Terrarium, in dem gelegentlich ein Charaktermodell starr am Fleck weilt, auf dass ich dort bitte einen Dialog abrufe.

Unfertige Fundamente

Der Selbstzweck ist der Kampf, das Schleichen - worauf auch immer meine Wahl fällt. Dabei gibt sich E.Y.E zunächst als gewöhnlicher Actionritt, bevor ich mich mit genügend Geld und Erfahrungspunkten spezialisieren kann. Doch ausgerechnet am spielerischen Kern leisten sich die Entwickler einen weiteren Fauxpas, der dem Spiel über weite Strecken seine Faszination raubt: Die Gegner sind so einfältig, dass mir richtiggehend die Lust an den soliden Feuergefechten verging.

Ob Monster oder Menschen: Clever stellen sich die Gegner nie an.
Ob Monster oder Menschen: Clever stellen sich die Gegner nie an.
Es macht einfach keinen Spaß, zum ersten Mal um eine Ecke zu schleichen, nur damit ein Dutzend Idioten aus allen Richtungen schnurstracks auf mich zu stürmt. Ich will auch ohne Implantate ungesehen an Wachen vorbei schleichen! Ich will, dass die Meute wenigstens taktisch als Team vorrückt, wenn sie mich schon nach einem Wimpernschlag vom anderen Ende der Straße ausmacht! Ich wüsste gerne, warum irgendein Gegner aus einer ganz anderen Richtung plötzlich auf mich zu stürmt. Ich will... so vieles, zu dem diese plumpen Menschen und Monster einfach nicht imstande sind.

Es fehlt das Gefühl, schlauer als die cleveren Wachen zu sein - wozu soll man sie dann überhaupt übertölpeln? Es fehlt das spannende Versteckspiel, weil man Gegner nicht mit geschickten Tricks auf sich aufmerksam machen kann: Entweder sehen sie mich oder harren am Fleck. Selbst auf gezielte Ablenkungsmanöver reagieren sie kaum. Das heimliche Vorgehen leidet so am meisten unter den schlechten Verhaltensmustern. Viele wichtige Inhalte, die die Entwickler mit so viel Mühe geschaffen haben, bleiben deshalb nur ein dickes Fundament, aus dem hässliche Metallstreben ragen.

Weiterbildung

Eine der großen Stärken ist hingegen das Hacken, das zwar selten Türen öffnet, über das man sich aber Geld aus Bankautomaten erschleicht, Maschinen übernimmt oder gar die Implantate andere Personen unter Kontrolle bringt. Letzteren kann man daraufhin grobe Richtungsanweisungen geben und befehlen, das Feuer auf Kameraden zu eröffnen. Aber Vorsicht: Scheitert der Versuch, wird man vielleicht selbst gehackt oder stirbt gar an den Folgen! Das aktive Hacken ist ein spannender Vorgang, bei dem man wie in einem Rundenkampf Angriffe startet, während man gleichzeitig die eigene Verteidigung stärkt und die des Gegners schwächt.

Wenn mir danach ist, entwickelt sich der Protagonist übrigens automatisch weiter - er verbessert auf diesem Weg jene Fähigkeiten, die ich tatsächlich einsetze. Wenn ich will, baue ich seinen Charakter aber auf herkömmliche Art und Weise aus und verteile meine Erfahrungspunkte auf acht Werte.

Der zentrale Tempel sieht beeindruckend aus - leider sind viele Mauern in E.Y.E aber leblose Kulissen.
Der zentrale Tempel sieht beeindruckend aus - leider sind viele Mauern in E.Y.E aber leblose Kulissen.
Großartig, dass ich die Wahl habe! Zumal ich gegen harte Währung 14 Implantate erweitere, die ebenfalls den  Charakter beeinflussen. Neue Ausrüstung erhalte ich beim kostspieligen Erforschen der Ausrüstung, die besiegte Feinde fallenlassen. Dabei ist Fingerspitzengefühl gefragt, denn auch der Kauf neuer Implantate kostet wertvolles Geld.

Losgelöst von Raum und Zeit?

Charakterentwicklung, Forschung sowie das Ausrüsten mit Waffen und Munition kann direkt im Einsatzgebiet erfolgen. Dabei muss man sich entscheiden: Eine schwere Rüstung schränkt die Beweglichkeit empfindlich ein und jedes Ausrüstungsteil tut sein Übriges. Eine leichte Rüstung bietet hingegen weniger Schutz... Man darf aber jederzeit auch in den Tempel zurückkehren, um Änderungen in Ruhe vorzunehmen oder in unabhängigen Missionen einen Bonus zu verdienen. Wobei es natürlich fraglich ist, wie ein optionaler Einsatz zum gleichen Zeitpunkt am gleichen Ort stattfinden kann wie die primäre Mission.

Apropos: Wer will, der erledigt die gesamte Kampagne an der Seite eines Freundes oder erledigt die optionalen Aufträge in einem bis zu acht Mann starken Team - beides ein vorbildlicher Service. Auch wenn man derzeit so gut wie keine Gleichgesinnten findet. Einen neuen Charakter muss man dafür nicht anlegen, denn man entwickelt den einen Protagonisten sowohl im Onlinespiel als auch in der Kampagne weiter.

Fazit

E.Y.E macht es mir unglaublich schwer! Es stürzt mich in ein Wechselbad der Gefühle, in dem mal die Euphorie über eine ausgezeichnete inhaltliche Tiefe und mal der Ärger über ein völlig verpatztes Spiel überwiegt. Auf der einen Seite zeichnet sich das Cyberpunk-Abenteuer durch seine hervorragenden spielerischen Möglichkeiten aus: Jede Gesprächszeile bewirkt etwas, man entscheidet selbst über Missionsziele und man hat immer die Wahl, ob man die herrlich dreckige Zukunftsvision als Supersoldat mit psychokinetischen Kräften, als mächtiger Krieger oder als heimlicher Hacker kennenlernt. Aber immer dann wenn man keine neue Ausrüstung erforscht oder kauft, wenn man nicht mit der umfangreichen Charakterentwicklung beschäftigt ist - jede Sekunde, die man mit dem eigentlichen Spiel zubringt, ist eine große Enttäuschung. Die Gegner verhalten sich so wenig nachvollziehbar und dumm, dass es einfach keinen Spaß macht, sie zu überrumpeln. Ich war jedes Mal froh, wenn einer von ihnen einfach nur weg war - ein ganz schlechtes Zeichen! Und bei aller Liebe für ein kreatives Studio, das mit einfachen Mitteln auskommen muss: Künstlerisch schaffen es die rechtwinkligen Straßen und Räume einer Welt, in der wenige leblose Puppen starr am Fleck stehen, einfach nicht, dass mein Kopf und mein Herz in diese Zukunftsvision abtauchen können. Schade!

Pro

umfangreiche Charakterentwicklung
offenes Vorgehen, auch im Umgang mit vielen Charakteren
viele optionale Aufträge
Wahl zwischen Learning by Doing oder manueller Charakterentwicklung
kooperative Online-Kampagne und Team-Gefechte

Kontra

dummes Gegnerverhalten
völlig unzureichende Erklärungen
unübersichtliche Menüs und Eingabefelder
starre, leblose, unglaubwürdige Kulissen

Wertung

PC

Ein umfangreiches Rollenspiel, in dem Handlungsfreiheit groß geschrieben wird, das aber unter schlechtem Gegnerverhalten und leblosen Kulissen leidet.

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