Im Test:
Die einsame Ungewissheit
Was geht hier bloß vor sich? Bin ich ein Schiffbrüchiger? Ich stehe jedenfalls an dieser trostlosen Küste, direkt vor einem verwitterten Leuchtturm. Kaum schaue ich mich um, spricht jemand:
„Liebe Esther, manchmal habe ich das Gefühl, diese Insel geboren zu haben.“
Wie, was? Sind das meine Gedanken? Oder bin ich etwa Esther? Das kann nicht sein, denn ich weiß ja von nichts – schon gar nichts von Poesie oder dieser Frau. Ich sehe auch keine Menschenseele. Bis auf die düsteren Wolken und die sanfte Brandung bewegt sich nichts. Doch, etwas blinkt in der Ferne zwischen Nebelschwaden: Ein Funkturm mit einem rot pulsierenden Licht am trüben Himmel. Alles um mich herum sieht so verdammt real aus, aber es erscheint gleichzeitig so unwirklich wie ein Traum.
Gestrandet auf den Hebriden
Ich kann mit der linken Maustaste näher an ein anderes Buch zoomen: Food & Goods Convention, Wolverhampton, 1973. Oder ist das eine Acht am Ende? Jedenfalls befinde ich mich in der näheren Gegenwart – das beruhigt. Aber als ich den hinteren Raum betrete, beunruhigt nicht nur der abgebrochene Treppenaufgang zur Turmspitze, sondern auch die Wand neben mir. Jemand hat mit blau leuchtender Farbe eine chemische Formel daran gepinselt. Ein Verrückter? Ich will das Haus verlassen, aber kurz davor gehe ich
Was als Modifikation für Half-Life 2 im Jahr 2008 begann, entwickelte sich bald zum Geheimtipp. Dear Esther ist ein kommerzielles Remake dieser Premiere, das zusammen mit Leveldesigner Robert Briscoe (Mirrors Edge) entstanden ist.
Die Entwickler von thechineseroom haben noch zwei Projekte in der Pipeline Ein Spiel in offener Welt namens „Everybody’s Gone to the Rapture“ für PC und PS3 sowie ein Projekt namens „gameB“. automatisch in die Knie und höre Möwen kreischen.
Ich schaue mich um, aber sehe keine Vögel. Dabei müssen sie doch direkt über mich hinweg geflogen sein? Moment mal: Ich will wissen, was hier los ist! Ich werde hier jeden Stein umdrehen und Hinweise suchen, um das Geheimnis dieser Insel zu lüften. Und zwar wissenschaftlich fundiert, natürlich kombinatorisch organisiert - so wie in jedem guten Adventure.
Aber schnell finde ich heraus, dass diese seltsame Reise anders verläuft, dass Interaktion hier deutlich hinter dem Erleben steht und dass die Grenzen des klassischen Spiels überschritten werden: Es gibt kein Inventar, keine Gegenstände, keine Rätsel, kein Klettern. Wie bitte? Nein, auch keine Bosskämpfe.
Das Spiel mit der Neugier
Trotzdem will man in diese Welt abtauchen wie in einem Rollenspiel, trotzdem entsteht ein Sog zwischen Bildschirm und Realität. Denn hier wirkt alles angenehm rätselhaft. Fragen türmen sich über Fragen. Als ich den Weg am Strand entlang gehe, während der Westwind vom Atlantik pfeift, spricht wieder diese Stimme.
„Diese Inseln in der Ferne sind Relikte einer anderen Zeit, schlafende Riesen, uralte Götter.“
So langsam schleicht sich eine Atmosphäre an, die
Hebriden zum Anfassen
Manchmal riecht es nach der selbstmörderischen Trostlosigkeit eines Black Mirror, nach der alptraumhaften Skurrilität eines Silent Hill oder einfach der schaurigen Dunkelheit eines Amnesia. Aber hier tickt die Regie anders, es gibt weniger klassisches Spiel als vielmehr stimmungsvolles Erleben - und auch Zuhören. Egal ob trauriges Klavier, sanft aufspielendes Orchester, verzerrte Sounds an kritischen Stellen oder einfach nur die Geräusche der Natur, vor allem der Brandung und des Windes. Man wird einfach verführt, sich voll und ganz auf die Story zu konzentrieren, die sowohl von der Stimme als auch von der Landschaft erzählt wird.
Skyrim sah mit seiner nordischen Kulisse stellenweise richtig gut aus, aber diese Insel wurde von einem Bildhauer aus der Source-Engine gemeißelt. Man fühlt sich bei Wind und Wetter wie ein digitaler Tourist – lediglich in Uncharted wirkte die Landschaft dank
Chemische Formeln
Wer hat die Insel warum damit verziert? Während man zwischen Hügeln und Klippen umher streift, sieht man immer wieder diese Symbole und bekommt kleine erzählerische Puzzlestücke von der Stimme. Da ist ein Inselforscher namens Donnelly, ein Einsiedler namens Jacobson und vor allem sind da viele mysteriöse Andeutungen – ein Unfall, der Ort Damaskus, Liebesbriefe, ein Pharmazeut. All diese Fäden werden nicht sofort logisch verwoben, man tappt quasi im Dunkel der Ahnungen vorwärts. Wer nicht sehr gut Englisch versteht, wird nicht nur viel von der poetischen Sprache, sondern auch einige relevante Details verpassen; man kann übrigens englische Untertitel zuschalten.
Und viel wichtiger: Bei jedem Neustart ändern sich die Texte, das Wetter und auch kleine Ereignisse. Plötzlich spricht der Erzähler zu Beginn nicht mehr über die Geburt der Insel, sondern über die Möwen, die nicht mehr hier auftauchen – ein anderes Mal wird das Abenteuer damit eingeleitet, dass jemand das Zeitgefühl verloren hat. Aber nicht nur zu Beginn, auch später lauscht man ganz anderen erzählerischen Fragmenten als noch bei der ersten Reise. Keine Bange: All das gehört zu einer zusammen hängenden Geschichte. Wer aus all den Mosaiksteinen ein sinnvolles Bild formen will, sollte jedoch öfter spielen. Schön ist, dass man entweder komplett von vorne starten oder direkt in eines der vier groben thematischen Kapitel springen kann.
Fazit
Rätselhaft, stimmungsvoll, poetisch - Dear Esther ist so magisch wie eine Kurzgeschichte von Ray Bradbury. Ich kann mich nicht erinnern, dass mich ein Spiel der letzten Jahre schon nach wenigen Minuten so neugierig gemacht hat. Ich wurde von der unglaublich wuchtigen Kulisse und von der kreativen Erzählweise umgehend gefesselt. Dieses Gefühl der Einsamkeit, die unter der Oberfläche verborgene Tragik, die mysteriösen Fragmente, aber auch der melancholische Zauber dieser uralten Insel. Dear Esther ist wie Urlaub: Wer auf die ewig gleiche Action, das ewig gleiche Geballer und Gelevel keine Lust hat, der findet hier nicht weniger als eine digitale Novelle, die ein Fenster in die Spielezukunft öffnet. Was? Kaum Interaktion? Oh doch, hier passiert mehr zwischen virtueller Welt und Großhirn als in den meisten aktuellen Titeln, die nichts weiter als schnell durchschautes Fastfood für digitale Wiederkäuer sind – ist okay, macht satt, aber von zu viel 08/15 wird einem irgendwann schlecht. Vor allem, wenn man mit dem Spielen auch die Sehnsucht nach reiferen Geschichten und denkwürdigeren Erlebnissen verbindet. Hier wird ohne Inventar, Waffen und Geklicke ein dramaturgisches Potenzial spürbar, das viel zu selten von diesem Medium genutzt wird. Hoffentlich wird es davon mehr geben.
Wertung
PC
Rätselhaft, stimmungsvoll, poetisch - Dear Esther ist so magisch wie eine Kurzgeschichte von Ray Bradbury.
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