Lilly looking through30.10.2013, Jan Wöbbeking
Lilly looking through

Im Test:

Ein handgezeichnetes Adventure avancierte auf der letztjährigen gamescom zum Geheimtipp: Wenn Lilly ihre magische Fliegerbrille aufsetzt, verwandelt sich die verfallene Welt zurück in eine surreale Idylle. Eine zauberhafte Zeitreise im Stil von Botanicula?

Zeitsprung

Es ist fast wie in meiner Kindheit, als ich am Rande eines stillgelegten Bahndamms eine alte Fabrikhalle entdeckt hatte. Ich stellte mir vor, wie es dort wohl ausgesehen haben mochte, als in den Hallen noch die Maschinen ratterten. Lilly braucht für die Antwort auf solche Fragen keine Fantasie. Sie setzt einfach ihre magische Fliegerbrille auf und schon befindet sie sich in der Vergangenheit voller malerischer Gärten, rätselhafter Steinformationen, merkwürdiger Maschinen und verschnörkelt gezeichneter Holzhäuser.

Zu Beginn erkundet sie mit kindlichem Spieltrieb ihre Umgebung, doch als ein roter Schal ihren Bruder Ro einwickelt und davonflattert, wird aus dem Spiel Ernst: Von nun an muss sie immer wieder geschickt zwischen Gegenwart und Vergangenheit wechseln, um ihren Bruder zu retten.

Vorausdenken hilft

Je nach "Zeitzone" sinkt und steigt in dieser Burg der Wasserspiegel.
Je nach "Zeitzone" sinkt und steigt in dieser Burg der Wasserspiegel.
Auf ein paar von Gras überwucherten Gipfeln klettere ich z.B. in der Vergangenheit auf einen Baum und hüpfe ein wenig auf einem dicken Ast herum, so dass eine Eichel zu Boden fällt. Je nachdem wo sie landet, steht in der Zukunft eine massive Eiche. Ich nehme die Brille ab und klettere auf ihren dicken Ästen über den eben noch unüberwindlichen Abgrund. Auch einige Tiere spielen eine wichtige Rolle: Ein keckerndes Eichhörnchen  ist scharf auf die Eichel, die Eule krallt sich wiederum das Eichhörnchen, wenn ich sie aufwecke und vom Ast scheuche. Die sehr einfach gehaltene Steuerung funktioniert wie in einem klassischen Point-and-Klick-Spiel; nur ohne Inventar. Ab und zu kann Lilly allerdings einen Gegenstand mit sich herumtragen; oder ich selbst bewege mit dem Mauszeiger ein Wagenrad.

Die kleine Heldin ist erstaunlich agil. Sie klettert z.B. über große Wasserräder und an frei hängenden Seilen empor. Manchmal rutscht sie aber auch von einem zu hohen Felsen zurück auf den Boden und muss sich mit Zeitreise-Tricks aushelfen. In den kleinen Arealen muss ich meist mehrmals mit der gleichen Maschine herumexperimentieren und in der Zeit wechseln. Erst einmal eine Halterung lösen, ein paar Wasserströme in die richtigen Bahnen leiten und auf Plattformen klettern, welche nur in einer der beiden Zeiten existieren. Die Wechsel sind meist gut mit den Puzzles verknüpft und auch einige klassische Kopfnüsse müssen gelöst werden: Ich kokle zum Beispiel mit einem brennbaren Schilfrohr herum oder löse einige in die bizarre Welt integrierte Farbpuzzles. Ähnlich wie in Machinarium oder der Gobliiins-Serie kommt das Spiel fast ohne Text und Dialoge aus.

Fremdkörper in der düsteren Welt

Wie kann Lilly nur diesen seltsamen Tümpel überqueren? Die Pumpe spuckt je nach Einstellung Wasser oder Seifenblasen aus.
Wie kann Lilly nur diesen seltsamen Tümpel überqueren? Die Pumpe spuckt je nach Einstellung Wasser oder Seifenblasen aus.
Die animierten Figuren mit ihren hellen comicartigen Farbflächen wirken leider wie ein Fremdkörper vor den detailreicheren dunklen Hintergründen. Vielleicht wollten die Entwickler signalisieren, dass sich alles nur in der Fantasie der spielenden Geschwister abspielt – trotzdem wirkt das Ergebnis nicht stimmig. Auf den zweiten Blick sieht es aber sehr charmant aus, wie die beiden durch die Welt turnen, während der sehr ruhige Soundtrack eine entspannte Knobelstimmung erzeugt.

Die liebevoll abgestimmten Bewegungen besitzen aber auch Schattenseiten: Als regelmäßiger Adventure-Spieler ging es mir schnell auf die Nerven, dass ich mir die Animationssequenzen jedes Mal komplett ansehen musste. Das stört vor allem, weil ich an manchen Maschinen gleich mehrmals herumexperimentieren muss, um ihre Gesetzmäßigkeiten kennenzulernen. Schade auch, dass sich ein Fehlklick nicht mehr abbrechen lässt.

Es mangelt an Feinschliff

Unter Wasser gibt es mit Hilfe geheimnisvoller Trompeten diverse Farbrätsel zu lösen.
Unter Wasser gibt es mit Hilfe geheimnisvoller Trompeten diverse Farbrätsel zu lösen.
An einer Stelle haben mich die Animationen sogar in die Irre geführt: Das ganze Spiel über habe ich gelernt, dass ich abwarten muss, bis Lilly ihre vorgesehene Bewegung bis zum Ende abgespult hat. Währenddessen verwandelt sich der Mauszeiger in eine Filmrolle. Etwa in der Spielmitte ändert sich das aber: Plötzlich muss ich noch kurz vor Ende der Animation auf die Fliegerbrille klicken, damit Lilly mitten im Sprung an die richtige Stelle in der Vergangenheit plumpst. Da es keinerlei Hinweis auf die plötzliche Änderung im Spieldesign gab, hing ich ziemlich lange fest und irrte wie mit einem Brett vorm Kopf im kleinen Areal herum.

Auch ein Bug sorgte einmal für Frust: Die fürs nächste Rätsel wichtige Brille war plötzlich verschwunden, obwohl sie eigentlich am Grund eines Sees hätte liegen sollen. Auch ein paar Ungereimtheiten stören den surrealen Ausflug: Warum ist Lilly z.B. zu schwach, eine Steinkugel den Abhang herunter zu schubsen, kann die daneben liegende aber sogar den Hang hinauf wuchten? Wer sich von solchen Stolpersteinen nicht aus der Ruhe bringen lässt, kann das Spiel übrigens in wenigen Stunden beenden. Es gibt schließlich nur magere zehn Schauplätze mit jeweils rund zwei gezeichneten Bildschirmen.

Fazit

Schön, dass Entwickler Geeta Games seinen kleinen surrealen Rätsel-Ausflug mit der Hilfe von Kickstarter finanzieren konnte. Das Wechselspiel zwischen den zwei Zeitaltern ermöglicht unterhaltsame Experimente mit sonderbaren Maschinen, neugierigen Tieren und den Gesetzmäßigkeiten der Welt. Auch die malerischen Kulissen und der ruhige Soundtrack unterstützen das entspannte Knobel-Ambiente. Ich fühlte mich ein wenig  an Amanitas Werke wie Botanicula erinnert, auch wenn das Design von Hintergrund und Figuren hier bei weitem nicht so homogen wirkt. Leider haben sich auch ein fieser Bug und einige Anfängerfehler ins Spieldesign geschlichen. Manche Gesetzmäßigkeiten wirken inkonsequent, so dass ich gelegentlich nur durch ausdauerndes Ausprobieren auf die Lösung kam. Meist hatte ich aber Spaß am Rätseln und bin schon gespannt auf das nächste Projekt des Teams aus San Francisco.

Pro

verzaubernd surreale Welt
coole Zeitbrillen-Idee
größtenteils clevere Rätsel
knuffige detailreiche Animationen
entspannender Soundtrack

Kontra

kleine Bugs und Inkonsequenzen sorgen für Frust
Figuren-Design passt nicht zum Hintergrund
nicht überspringbare Animationen nerven mitunter
nur zehn kleine Areale

Wertung

PC

Charmant surreales Rätselspiel mit cleverem Zeitwechsel aber fehlendem Feinschliff.

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