Cart Life12.07.2013, Benjamin Schmädig
Cart Life

Im Test:

Ein faszinierendes Universum besuchen, dem Alltag entkommen – meist sind es faszinierende Welten mit interessanten Geschichten, für die ich in ein Spiel abtauche. Und dann kommt Cart Life. Cart Life ist keine Anderswelt. Es ist der graue Alltag mit seinen knappen Zeitfenstern, seinen sozialen Verpflichtungen und erdrückenden Überlebensängsten. Und damit eines der ungewöhnlichsten Spiele des Jahres!

Die Farbe Grau

Der graue Alltag, ganz buchstäblich. Cart Life jedenfalls zeichnet das Leben so wie es die Redewendung beschreibt. Dazu knarzen ächzende Beats in 8Bit, Pixel kann man zählen. Retro-Charme, weil's in ist? Ich glaube nicht. Ich glaube, Richard Hofmeier will den Bildschirm als offene Projektionsfläche nutzen, um Freude, Wehmut oder Bedauern nur anzudeuten. So wie er die "Farbe" des Alltags andeutet.

Denn so bin ich gefordert, ganz genau zwischen den Zeilen danach zu suchen, was mir die Geschichten von Vinny, Melanie und Andrus sagen wollen. Ich muss bewusst spielen, um zu verstehen, warum mich der dröge Fluss ständiger Monotonie ebenso aufregt wie anspornt. Damit ich Cart Life nicht als magere Lebenssimulation missverstehe. Und als ich all das getan hatte, als die erste der drei Geschichten zu Ende ging und eckige Tränen über die Wangen einer der Figuren rollten, da fuhr ein Güterzug über mein Herz und ließ es im Straßengraben liegen.

Tage der Entscheidung

Vinny, Melanie und Andrus sind Straßenhändler. Tagein, tagaus verkaufen sie Kaffee, Zeitungen, Bagel und andere Kleinigkeiten. Doch ihr Berufsleben ist nur die halbe Miete,

Drei Figuren müssen nichts weiter tun, als ihren Alltag zu organisieren...
Drei Figuren müssen nichts weiter tun, als ihren Alltag zu organisieren...
denn sie müssen auch Zutaten für ihre Verkaufsware sowie Artikel des täglichen Gebrauchs einholen. Immerhin bildet Hofmeier vor allem den schwierigen Kreislauf ab, in dem die Protagonisten investieren und gewinnbringend verkaufen müssen, um ihr Leben in den Griff zu bekommen.

Jede Figur hat eine Vergangenheit: Andrus kommt aus der Ukraine und will sich mit einem Zeitungsstand selbstständig machen, Vinny kramt nach einer... farbenfrohen beruflichen "Karriere" seinen alten Bagelwagen heraus, Melanie kämpft nach einer Scheidung um das Sorgerecht ihrer Tochter. Sie muss das Mädchen nicht nur zur Schule bringen und dort abholen, sondern auch finanziell auf eigenen Beinen stehen, bevor über das Sorgerecht entschieden wird. Sie alle haben eine Woche Zeit, ihr Leben entsprechend zu organisieren. Um mehr geht es gar nicht. Cart Life ist das Gegenstück zu einem Film, der einen intimen Blick in das Leben seiner Figuren wirft.

Sucht und Schmerz

Jeder der drei hat Besonderheiten, um die ich mich kümmern muss. Andrus benötigt etwa in kurzen Abständen eine Zigarette oder Medikamente, um nicht am laufenden Band so zu

Später Test?

Cart Life ist bereits seit vielen Monaten auf der offiziellen Webseite erhältlich, wurde allerdings erst jetzt auf Steam veröffentlicht. 4,99 Euro kostet das Spiel auf Valves Plattform, 5 Dollar auf der Entwicklerseite.

Man muss allerdings kein Geld zahlen: Eine Version mit lediglich zwei statt drei spielbaren Charakteren bietet Richard Hofmeier kostenlos an. husten, dass das Spiel unterbrochen wird. Vinny muss Kaffee trinken, damit seine Laufgeschwindigkeit nicht auf Schneckentempo fällt. Die Charaktere müssen außerdem essen, benötigen Kopfschmerztabletten, sollten eine Erlaubnis für den Standort ihres Geschäfts kaufen, können den Stand aufwerten und mehr.

Und jeder Weg kostet Zeit. Zeit, die unverschämt wertvoll ist! Zum einen lässt sich Cart Life nicht pausieren und nur am Morgen eines Tages speichern. Zum anderen verfliegen die Stunden so schnell, dass ich nur mit einem straff geplanten Tagesablauf am Ende der Woche die benötigten Einnahmen erziele. Zu allem Überfluss kosten schnelle Taxis sehr viel Geld, der lange Laufweg sehr viele Nerven und selbst halbwegs flotte Busfahrten für etwas weniger Bares bringen oft genug die Planung durcheinander.

Trocken oder Heidelbeere?

Dieses Planen geschieht immer an der Grenze des zeitlich und finanziell Möglichen: Irgendwie gehe ich immer auf dem Zahnfleisch. Mit der knappem Wochenfrist und dem ständigen Getriebensein schiebt mich Cart Life über die Stressgrenze dessen, was ich zu

In dieser Werkhalle erhalten die Protagonisten ihre Läden. Erweitern können sie die Stände ebenfalls.
In dieser Werkhalle erhalten die Protagonisten ihre Läden. Erweitern können sie die Stände ebenfalls.
ertragen bereit bin. Ich habe in wenigen Spielen häufiger ans Abschalten gedacht – aber ich muss ja bis zum Speichern am Morgen durchhalten.

Zu allem Überfluss sollte ich mein Geschäft um neue Produkte erweitern: Latte statt Kaffee, Heidelbeerbagel statt trockenem Brot usw. Nicht zuletzt sollte ich die Preise an die Bedürfnisse meiner Kundschaft anpassen. Verbessere ich mit ein wenig Smalltalk vor dem Verkauf die Mundpropaganda oder vertraue ich auf das schnelle Geld mit der Laufkundschaft? Beim Herausgeben eines Bagels muss ich zudem einen vorgegebenen Satz eintippen, um den Käufer zu unterhalten. Bei einem Fehler fällt der Bagel in den Dreck und ich versuche es noch einmal.

Real statt realistisch

Tippen, welch ein ungewöhnliches Spielelement! Doch es passt hervorragend. Während ich z.B. die Tageszeitung aus ihrer Verschnürung schneide, anschließend zusammenfalte und ins Regal lege, muss ich bei jedem Handgriff Andrus' Gedanken eingeben – jeder Fehler kostet eine Zeitung und damit Geld. Welch eine zermürbende, nervtötende, langwierige Tätigkeit! Die noch dazu nichts mit der simulierten Handlung zu tun hat.

Aber Hofmeier geht es gar nicht um den offensichtlichen Realismus. Ihm gelingt etwas verdammt Cleveres: Er kommt in meinem Kopf an. Während ich anderswo nämlich Szenen nachspiele, fühle ich hier, was mein Charakter fühlt. Genau wie er oder sie muss ich mich auf eine dröge und langwierige Tätigkeit konzentrieren, die sich noch dazu fast – aber eben nur fast – von alleine erledigt, weil ich sonst um meine Existenz fürchte. Hofmeier ist daran interessiert, was sein Spiel mit mir macht. Er bleibt nicht dort stehen, wo es sich gut spielt.

Leider lässt die Einführung unnötige Fragen offen, während viele Programmfehler die Illusion einreißen.
Leider lässt die Einführung unnötige Fragen offen, während viele Programmfehler die Illusion einreißen.
Dafür würde ich ihm wahnsinnig gerne eine Medaille umhängen!

Kaputtprogrammiert

Und trotzdem kann ich ihm beim besten Willen keine Auszeichnung verleihen. Denn bei aller Liebe für sein Vorhaben und noch mehr für die ausgezeichnete Umsetzung: Sein Spiel ist voller grober Fehler, das Verstehen der Spielelemente ist anfangs über weite Strecken die eigentliche Herausforderung und einige Schwächen in der Steuerung sind völlig unnötig.

Wenn mir mein Protagonist etwa seinen Hunger mitteilt oder hustet, wird das aktuelle Menü geschlossen und ich muss von neuem in den Optionen wühlen. Es ist gut, dass die natürlichen Bedürfnisse drängeln und den Spielfluss unterbrechen. So wie es hier geschieht, erfüllt es allerdings keinen Zweck. Einen ähnlichen Makel trägt die ungenügende Einführung, denn während mir das Zurechtfinden im Alltag natürlich schwer fallen soll, vermittelte mir Cart Life zu Beginn den Eindruck, ich könne keinen Fuß vor den anderen

Außwärts essen, selber kochen oder einen Snack aus dem Supermarkt naschen? Cart Life bietet große Handlungsfreiheit.
Außwärts essen, selber kochen oder einen Snack aus dem Supermarkt naschen? Cart Life bietet große Handlungsfreiheit.
setzen.

Ein Albtraum

Am schlimmsten sind jedoch die Fehler, die die Illusion des Spiels glatt zerreißen. Ein Programmabsturz war leicht zu verkraften. Viel ärgerlicher ist es, wenn mich ein Passant dreimal hintereinander mit demselben Anliegen anspricht, wenn mir ein Polizist auf diesem Weg z.B. zwei- oder dreimal eine Geldstrafe aufbrummt – ein massiver Verlust, den ich in der kurzen Spielzeit nicht wiedergutmachen konnte.

Es kommt auch vor, dass Kunden stehenbleiben, mich aber nicht ansprechen. Melanies Tochter sollte angeblich Zuhause sein, tatsächlich war sie noch in der Schule. Es kann passieren, dass ich mich morgens mit ihr auf den Weg machen will, sie aber partout nicht ansprechen kann. Irgendwann geht sie dann alleine, was sich natürlich schlecht auf meinen Kampf um das Sorgerecht auswirkt – genau darum dreht sich Melanies Geschichte aber. Eine Nacht erlebte ich schließlich den Traum eines anderen Charakters. Und das sind noch längst nicht alle Fehler.

Fazit

Für seine Leistung als Kreativkopf würde ich ihn gerne auszeichnen – über seine Arbeit als Programmierer kann ich nur den Kopf schütteln. Würde mich ein fehlerfreies Cart Life besser ins Spiel einführen und nicht nur drei sehr kurze Geschichten erzählen, es wäre ein glatter Platinkandidat! Brillant, wie der Einzelentwickler sein Anliegen durch mein interaktives Tun vermittelt: Er erzählt vom Ernst eines schwierigen Lebens und lässt mich die Zwänge und Ängste dieses Lebens am eigenen Leib erfahren. Ich spüre die Existenzangst seiner Figuren, weil ich in ihrem zermürbenden Alltag gegen ein unerbittliches Zeitfenster arbeite. So projiziert Hofmeier durch mich Emotionen auf grobe graue Pixel. Und am Ende habe ich diese Spielewelt trotz der vielen ärgerlichen Fehler mit einem guten Gefühl verlassen.

Pro

sehr gelungenes Einfangen des Drucks im Alltagstrott
drei bewegende Geschichten
viel Handlungsfreiheit
stimmungsvolle Zeichnungen und Musik

Kontra

etliche, zum Teil schwere Programmfehler
schlechter Einstieg/unzureichende Erklärung des Spiels
unhandliche Bedienung

Wertung

PC

Trotz zahlreicher Programmfehler projiziert Einzelentwickler Richard Hofmeier große Emotionen auf grobe graue Pixel.

0
Kommentare

Du musst mit einem 4Players-Account angemeldet sein, um an der Diskussion teilzunehmen.

Es gibt noch keine Beiträge. Erstelle den ersten Beitrag und hole Dir einen 4Players Erfolg.